Der Bergmann Sadecki

 Ein politischer Tod in der Lippeaue

 

Gerhard Schute I  Bergbauverein: Leo Sadecki – Wie ein missbrauchter Kumpel aufs Straßenschild kam

Leo Sadecki in Soldatenuniform © Bergbauverein

Gerhard Schute

Leo Sadecki – Wie ein missbrauchter Kumpel aufs Straßenschild kam

Bauernsöhne waren sie beide, der Generalleutnant Gerhard Johann David von Scharnhorst und der Bergmann Leo Sadecki. Beide starben sie durch eine Kugel. Scharnhorst am 28. Juni 1813 in Prag nach einer Blutvergiftung, verursacht durch einen zunächst für harmlos gehaltenen Beinschuss, Sadecki am 10. August 1923, erschossen in der Hervester Lippeaue von einem belgischen Soldaten. Der Generalleutnant stand im Krieg gegen Napoleon, Sadecki wurde beim Hüten der Ziegen ziviles Opfer der Ruhrbesetzung. In Hervest, am Rande der Zechenkolonie Fürst Leopold, wurde 1933 Leo Sadecki zum Nachfolger von Gerhard Johann David von Scharnhorst  – auf einem Straßenschild.

Was genau passiert ist an diesem 10. August 1923, das blieb bis heute ungeklärt. Auch die belgische Militärpolizei in Sterkrade konnte oder wollte damals nicht zu einem Ergebnis kommen, also machte man sich einen eigenen Reim. In der Kolonie, im Dorf Hervest und wohl auch noch in der Stadt Dorsten, viel größere Kreise dürfte der tragische Tod des Leo Sadecki zunächst nicht gezogen haben. Denn Zusammenstöße zwischen den Ruhrbesetzern und der Zivilbevölkerung waren so selten nicht.

Die Ruhrbesetzung. In Dorsten dauerte sie von 1923 bis 1925. Folge des ersten Weltkriegs, des Vertrags von Versailles, der die deutsche Wirtschaft knechtete und zu dessen Durchsetzung französische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet abkommandiert wurden. Der Raum Dorsten stand unter belgischer Kontrolle.

Die natürlich bewaffneten belgischen Soldaten  hatten es sich – es war wohl ein sonniger, aber kein besonders heißer Sommertag – am südlichen Lippeufer, also auf Dorstener Seite bequem gemacht. Leo Sadecki war mit seinen Ziegen auf der nördlichen Seite unterwegs, natürlich unbewaffnet. Kann ein die Ziegen hütender Bergmann über den Fluss hinweg Soldaten so gefährlich werden, dass sie zur Waffe greifen und schießen?

Ein Akt der Notwehr war es mit Sicherheit nicht, der Leo Sadecki das Leben kostete. Hat er tatsächlich die Belgier mit dem nackten Hintern – „Ihr könnt mich mal…“ – so provoziert, dass einer von ihnen mit einem Schuss die tödliche Antwort gab? Wenn ja, war’s dann ein gezielter Schuss oder ein tragischer Fehlschuss zum Ende einer zur Tragik mutierte Posse? Ungeklärt, aber die Geschichte vom Wutschuss gegen den nackten Hintern wurde mit einer Pause von zwölf Jahren wie ein Tatsachenbericht vererbt.

Kaum vorstellbar, dass man sich heute noch diese Geschichte erzählen würde, gar nicht vorstellbar, dass man mit einem Straßenschild an Leo Sadecki erinnern würde – wo in der Welt würde man eine Straße nach einem Mann benennen, weil er anderen die blanke Kehrseite gezeigt hat?

Es brauchte die Nationalsozialisten für eine andere Geschichte. Durch sie bekam Leo Sadecki eine ganz andere Rolle. Gleich im ersten des zum Wohle der Welt nicht 1.000- sondern nur zwölfjährigen Reiches ernannten sie Leo Sadecki zum Helden. Sie bauten ihm ein Ehrenmal auf dem Lippedeich und verdrängten den Generalleutnant vom Straßenschild. Auf der Tafel war zu lesen: „Hier fiel Leo Sadecki am 10. August 1923 meuchlings durch Belgier Hand für‘s Vaterland“.  Blanker Unsinn natürlich, aus dem Bergmann einen Widerstandskämpfer zu machen, aber so waren nun einmal die braunen Zeiten.

Leo Sadecki, geboren am 29. Juni 1879 in Glozewo in der Provinz Posen, heute Polen. 1911 folgte er mit seiner Ehefrau und zwei Kindern den Werbern ins Ruhrgebiet, wurde Bergmann auf der Zeche General Blumenthal in Recklinghausen. Zwei Jahre später – Fürst Leopold nahm 1913 die wirtschaftliche Förderung auf – der Umzug nach Hervest an die Halterner Straße, dann der Umzug in die Siedlung, in die Gustavstraße (heute Vinzenzstraße). 1915 wurde mit Sohn Leo das dritte Kind geboren – die Sadeckis, eine Bergarbeiterfamilie wie viele, Migranten, die in Hervest eine neue Heimat fanden.

Was auch immer am 10. August 1923 geschehen sein mag, sicher nichts, was die posthume Ehrung durch die Nationalsozialisten rechtfertigte, auch nicht den Missbrauch von Witwe Josepha und der drei Kinder, die am Ehrenmal posieren mussten.

Die Sadeckistraße blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg Sadeckistraße. Warum auch nicht – ihr Namensgeber hatte sich ja nichts zu Schulden kommen lassen und es gab in Dorsten schon genug zu tun, neue Straßenschilder aufzuhängen. Gleich dreimal gab es jeweils in der Altstadt, in Hervest und in Holsterhausen einen Adolf-Hitler-Platz und eine Straße der SA, es gab den Horst-Wessel-Platz (Friedensplatz) und den Von-Scheven-Platz. Für den fand sich erst 1985 ein neuer Name: Glück-Auf-Platz.

Die Stadt Dorsten wollte so den Geschichten um Emil von Scheven ein Ende machen. Denn auch die Platzbenennung nach ihm war eine Geschichte für sich. Gastwirt war der Mann und Mitglied der NSDAP. Bei einer Feier zu „Führers Geburtstag“ fiel er am 20. April 1933 betrunken von einem LKW und wurde tödlich verletzt. – Dann doch lieber Glück-Auf-Platz.

 

Infokasten

Die „Dorstener Zeitung“ 1933 über Leo Sadecki

„Nichtsahnend geht er (Leo Sadecki) durch das Gras, und plötzlich fallen mehrere Schüsse. Ohne einen Laut von sich zu geben, sinkt Leo Sadecki, durch einen Kopfschuss getroffen, tot zu Boden. … Aber in einem gewaltigen Leichenzug zeigte die Gemeinde am 15. August ihren durch nichts zu erschütternden Abwehrwillen. Die gesamte Belegschaft von Fürst Leopold und Baldur und die ganze Gemeinde sammelte sich zu einem stattlichen Leichenzug von 5000 Menschen, um den stillen Helden, das Opfer des Ruhrkampfes zur letzten Ruhe zu betten. … Heute sind wir wieder frei. Ein frischer Zug geht durch die deutchen Lande. Unter dem Sturmbanner des Hakenkreuzes und der ruhmreichen Reichsflagge wird Hervest seinem Ruhrkämpfer einen Tag des Gedenkens weihen.“

Josepha Sadecki und ihre drei Kinder 1933 am Sadecki-Ehrenmal © Archiv Walter Biermann

Straßenschild Ecke Glück-Auf-Straße / Sadeckistraße  © Bergbauverein