Herzstrom

Uta Kegel

Gerd und Verena

 Es war noch früh. Nur wenige Menschen suchten zu dieser Zeit schon die Lippeauen auf. Einige führten ihre Hunde aus, mit hochgezogenen Schultern und aufgestelltem Kragen. Hier und da hörte man das schwere Atmen eines Joggers, sonst war es still. Am Ufer der Lippe saßen drei Angler auf ihren niedrigen Klappstühlen und sahen aufs Wasser. Hin und wieder warfen sie ihre Angeln durch den feinen Morgendunst ins Wasser aus.

 Verena stellte ihr Auto direkt unterhalb es Lippedeichs ab. Die Parkplätze waren alle leer. Diesmal hatte sie eine Metallsäge mitgebracht, die ihr der Verkäufer im Baumarkt empfohlen hatte. Er hatte ihr dieses kleine Werkzeug wortlos in die Hand gedrückt, nachdem sie ihm zögerlich und etwas umständlich erklärt hatte, was sie vorhatte.

 Skeptisch besah sie sich nun die Säge, die noch in ihrer Originalverpackung steckte. Sie stopfte das Päckchen in ihre Handtasche und machte sich zielstrebig auf den Weg. Schnellen Schrittes und ohne Umweg lief sie los in Richtung Fußgängerbrücke. Unter ihren Schritten knirschte es. Verena betrat den Deich und starrte ohne den Blick zu heben auf den Weg vor ihren Füßen. Für die Schönheit dieses besonderen Ortes, der im stillen, sommerlichen Frühnebel lag, hatte sie keine Augen.

 Oben auf der Brücke holte sie die Säge aus der Tasche, riss den zugetackerten Kunststoffschutz auf und testete mit einer beherzten Umklammerung den schmalen Griff. Prüfend schritt sie das Geländer ab. Die Säge in ihrer Hand baumelte dabei ruhig neben ihrem Körper. Es sah fast aus, als trüge sie einen lästigen und bei diesem Wetter etwas peinlich wirkenden Taschenschirm.

 Sie fand die Stelle auf Anhieb. Es war ganz leicht, denn an dieser Stelle gab es auf der Brücke eine schwarze, hässliche Naht. Das schwarz-graue Linienspiel im Asphalt, das durch eine Mischung aus Bauvorgaben und mit den Jahren verwittertem Material entstanden war, wirkte auf Verena wie ein Koordinatensystem, in dem sie die Position exakt bestimmen konnte. Auf der rechten Seite, also der nach Osten weisenden – wie Gerd gemeint hatte – fand sie es endlich, ihr Schloss. Es hing direkt neben dem von Harald und Sabine.

 Damals schon hatte Verena das Schloss von Harald und Sabine etwas seltsam gefunden. Es war alt (oder auf alt gemacht), auffallend groß und hatte eine untypische Schließvorrichtung. Harald und Sabine. Die Namen und das dazugehörige Schloss hatten ihr nicht gefallen. Lieber hätte sie noch nach einer geeigneteren Stelle für ihr Schloss gesucht, aber Gerd war schneller gewesen, hatte sie nicht einmal gefragt.

 Hier, hatte er erklärt, und dabei auf genau diese Stelle gezeigt. Er hatte es so gesagt, als wäre es ihre gemeinsame Entscheidung gewesen und als bräuchte er ihre Zustimmung nicht mehr. Verena hatte stumm genickt, gelächelt und Gerd machen lassen. Vor den versammelten Hochzeitsgästen hatte sie keinen Streit anfangen wollen. Schon gar nicht wegen einer Lappalie, eines Symbols, eines kleinen neumodischen Rituals. Harmonisch hatte sie es gewollt, an ihrem großen Tag. Es wäre ja albern gewesen, sich darüber zu streiten, wo genau ihr Schloss hin sollte. Am Ende hatte Gerd es für ihren Geschmack allerdings etwas zu tief fest gemacht und vor allem viel zu nah an Harald und Sabine, diesem seltsamen Paar mit ihrem extravaganten Schloss. Verena hatte ein schönes Schloss ausgesucht. Bescheiden sollte es sein, aber doch auch irgendwie elegant, keins von der Stange. Nicht allzu groß, und trotzdem mit einer schwungvollen und auf jeden Fall langlebigen Gravur.

 Wie neu blitze es ihr jetzt im Morgenlicht entgegen, die Schrift stach glasklar hervor: Verena und Gerd 30. Mai 2015. Nur die Jahreszahl verriet, dass es bereits über vier Jahre an dieser Brücke hing und sommers wie winters dem Wetter ausgesetzt gewesen war. Verena bückte sich, nahm das Schloss und setzte ohne zu zögern die Metallsäge an. Erst sägte sie vorsichtig, dann immer schneller. Es war anstrengend und sie hielt kurz inne, um sich das Ergebnis zu betrachten. Außer einer leichten Aufrauhung am Bügel, sah das Schloss noch völlig unversehrt aus. Wieder setzte sie an und sägte, jetzt schon hektischer.

 Eine Joggerin streifte vorüber und mit ihr begann die Brücke fast unmerklich zu schwingen. Verena drehte sich verstohlen zur Seite und verbarg Schloss und Säge. Es musste ein merkwürdiger Anblick sein, eine junge Frau, früh morgens auf einer Fußgängerbrücke über den Nebeln der Lippeauen – in der Hand eine Säge.

 Sie versuchte nun mit mehr Kraft und schnelleren Bewegungen eine Kerbe in das Metall zu arbeiten, dabei biss sie die Zähne zusammen und ihr liefen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Sie brachte nicht nur zu wenig Kraft auf, sondern hatte wahrscheinlich auch einfach das falsche Werkzeug. Leise verfluchte sie den Mitarbeiter vom Baumarkt. Dann raffte sie sich noch einmal auf und sägte heftig weiter. Plötzlich ließ sie mit einem leisen aber spitzen Laut der Verzweiflung die Säge fallen und sank auf den geäderten Asphalt.

 Was für eine bescheuerte Idee mit diesem Schloss! Was eigentlich hatten sie sich dabei gedacht? Kein Paar würde länger zusammenbleiben, nur weil irgendwo in Dorsten an einem Brückengeländer ein Schloss mit ihren Namen hing. Und diese blödsinnige Idee, auch noch den Schlüssel ins Wasser zu werfen. Gerd hatte das getan, symbolisch natürlich, und alle Hochzeitsgäste hatten geklatscht.

 Die Joggerin kam zurück, jetzt keuchte sie hörbar und ihr T-Shirt war verschwitzt. Sie sah zu Verena, die mitten auf der Brücke anlehnt an das Geländer kauerte, die Arme um die Beine geschlungen, neben sich die blitzblanke Säge. Die Frau lief weiter.

 Was zum Teufel hatte Gerd mit dem Ersatzschlüssel gemacht? Es gibt immer zwei Schlüssel zu einem Schloss, aber hier im Kanal lag nur einer, da war sie sich sicher.

 Verena stand auf. Sie sah auf das Gerd-Verena-Schloss, dann zum Vergleich auf das Harald- Sabine-Schloss. Ein wirklich ungewöhnliches Exemplar. Keine Gravur, nur eine schwarze Handschrift. Sie drehte es um. Auf der Rückseite stand: 03. August 2014, hingekritzelt mit einem schwarzen Edding, etwas schief. Ein typischer Schriftverlauf, wenn jemand mit der Hand schreibt und der Platz nicht reicht. Erst groß 03, dann schon kleiner August und noch kleiner am Ende 2014, gequetscht auf das letzte noch verbleibende Stückchen. Auch keine schöne Ehe, dachte Verena. Dann fiel ihr auf, dass Harald und Sabine heute auf den Tag genau fünf Jahre verheiratet waren. Wenn sie es noch waren.

 Sie ließ die Säge liegen und ging langsam an dem Geländer entlang. Es war im Laufe der Jahre voll geworden. Die Schlösser hingen dicht gedrängt: große, kleine, verrostete und blanke. Friedhelm und Anke, Oktober 2018. Vince und Sabrina 2019. Katrin und Werner – nur die Namen, kein Datum. Ihr Blick wanderte von Schloss zu Schloss. Manchmal berührte sie eines, drehte es um. Wie wohl die Hochzeit von Silke und Hans im September 2017 gewesen ist, hielt ihre Ehe, hatten sie Kinder bekommen, liebten sie sich noch? Sie las die Namen und

Daten, als wären es Grabinschriften. Als Kind war sie gerne auf dem Friedhof zwischen den Gräbern herumgelaufen, während ihre Mutter das Grab der Großeltern in Ordnung brachte. Verena hatte versucht, die Namen und Zahlen zu entziffern und auszurechnen, wie alt die Leute geworden waren, die da in ihren Gräbern lagen.

 Bei den Frauen stand fast immer, mit dem Zusatz „geb.“ davor, der sogenannte Mädchenname. Margot Fricke, geb. Blumenberg. Manchmal, fand Verena, war es ein schlechter Namenstausch, der da in Stein gemeißelt war. Margot hatte, wie alle Frauen, die früher heirateten, keine Wahl gehabt.

 Verena hatte auf ihren Mädchennamen freiwillig verzichtet. Sie hätte es nicht tun müssen, aber Verena Rosenbaum klang einfach schöner als Verena Melch. Inzwischen war das aber auch egal.

 Auf ihrem Weg zurück blieb sie noch einmal stehen. Alberto und Jona, Sommer 2019. Die Namen hörten sich interessant an. Das Schloss hatte etwas Ungewöhnliches. Verena fand es schön. Sie stellte sich vor, wie die beiden an einem lauen Sommerabend hier gemeinsam gestanden hatten, einen Piccolo und eine tropfende Kerze in den Händen. Wie sie feierlich das Schloss festgemacht und sich geküsst hatten, einfach so, nur aus Liebe. Und sie stellte sich vor, wie Jona den Schlüssel genommen hatte und Alberto den Ersatzschlüssel – als Sicherheit, für alle Fälle.

 Zurück bei ihrem Schloss, hob sie die Säge auf, beugte sich über das Geländer und schaute nach Osten. Ein Mann mit einem Hund an der Leine kam über die Brücke. Als er auf Verenas Höhe war, holte sie aus und schleuderte die Säge im hohen Bogen in die träge dahinfließende Lippe. Der Mann hatte nichts gesagt und war einfach neben ihr stehen geblieben. Dann hatte er die Leine am Geländer angebunden. Aus seinem Rucksack zog er einen Bolzenschneider. Ohne von Verena Notiz zu nehmen oder sie anzusprechen, als wäre er in Trance, machte er sich an einem der Schlösser zu schaffen. Harald? fragte Verena.

Bernd Saalfeld

Lippenebel

Er fühlte den Tau auf seinem Gesicht. Oder hatte ihn sein Hund abgeleckt? Mit leisem Stöhnen strich er sich über seine Wangen, rieb sich die Augen und blinzelte in die trübe Morgendämmerung. Die Lippe plätscherte leise wie durch Wattebäusche gedämpft zu ihm herüber. Auch die Schafe hörte er nur wie aus der Ferne. Dichter Nebel verbarg die Morgendämmerung.

Er rollte sich auf die Seite und stützte sein Kinn auf seine Hand. Statt in seinem Wagen zu schlafen oder auf den Hof zu fahren, hatte er sich heute Nacht einfach auf die Wiese gelegt. Der Korn pochte an seine Schläfen. Nur selten trank er mehr als ein Bier und einen Korn, aber gestern Abend …

Er rieb sich erneut die Augen: Der Nebel schien sich zu teilen und zugleich zusammenzuballen. Völlig unerwartet rollte von Westen ein Donnergrollen heran. Der große Nebelklumpen nahm Gestalt an. Er erkannte die Umrisse eines übergroßen Kopfes mit wallendem Haar auf einem nur vage erscheinenden Körper, der langsam näher schwebte.

Wo war nur sein Hund? „Fuchs! Fuchs!“, wollte er rufen, doch er krächzte nur. In diesem Moment senkte sich der Kopf auf ihn und benetzte ihn mit seiner Feuchtigkeit. Er ließ sich ins Gras zurückfallen und schloss die Augen.

Als er wieder aufwachte, hatte die Sonne den Nebel bis auf einen dünnen Dunstschleier verscheucht. Er rappelte sich auf und stieß an die Kornflasche, die fast leer war. In seinem brummenden Schädel tauchte die Erinnerung auf: Violetta. Sie war in der beginnenden Dämmerung mit ihrem Fahrrad auf dem Deich geradelt, neben ihr lief ihr Mittelschnauzer, dessen Farbe sich in seinem Namen ausdrückte: Pfeffer. Schon einige Male hatte sie einige Worte mit ihm gewechselt, ihn mit ihrem freundlichen Lachen berührt, ohne dass sie einander mit Namen gekannt hatten.

Gestern Abend hatte sie sich auf den Rand der Deichkrone gesetzt und ihm wortlos zugesehen, wie er den Schafspferch enger setzte. Das Abendrot hatte ihr Lächeln noch schöner gemacht, als er es in Erinnerung hatte. Wie selbstverständlich hatte er sich neben sie gesetzt und den Korn aus seiner Tasche geholt.

„Violetta“, hatte sie gesagt, als sie ohne Umstände einen Schluck aus seiner Flasche genommen hatte. „Johann“, hatte er sich vorgestellt. Dann hatte sie ihm von ihrem Hund erzählt, der sich quer über ihre Oberschenkel gelegt hatte und seinen Kopf ihm zugewandt hatte. Gerne ließ Pfeffer sich von ihm kraulen. Er hatte ihr von seinen Schafen erzählt und ihr das Schäferjahr erklärt.

Fast unmerklich waren sie näher aneinandergerückt, so dass sie sich berührten. Schließlich hatte er nicht mehr Pfeffer, sondern ihre Hand gestreichelt. Vielleicht hatte ihn der Korn mutiger gemacht, oder vielleicht hatte sie ihn ermutigt. Jedenfalls meinte er sich zu erinnern, dass sie ihn zuerst geküsst hatte.

Schließlich hatte sie ihn noch einmal innig umarmt, war aufgesprungen und hatte gleichzeitig „Pfeffer!“ gerufen und ihm mit einer Kusshand „Bis bald!“ versprochen.

 „Violetta“, murmelte er. „Violetta“, wiederholte er ihren Namen, der ihm wie ein geheimnisvoller Zauberspruch erschien.

Bernd Saalfeld

Am Anfang war die Lust

Am Anfang war also das Lippe-Ufer. Dort wurde ich gezeugt, in einem Umfeld, das die Naturliebe geradezu begünstigte: Wiesenblumen zwischen den Gräsern, Wind in den Büschen und Bäumen, der Gesang der Nachtigall, das Plätschern der Lippe.

Seitdem zieht mich die Natur geradezu magisch an. Immerzu muss ich draußen sein, immer wieder zieht es mich auf meinen Reisen an die schönsten Flecken der Natur.

Was wäre gewesen, wenn meine Eltern Steuerberater und Finanzinspektorin gewesen wären, sich über den Einkommensteuererklärungen gemeinsamer Klienten begegnet und sich näher gekommen wären? Wäre ich dem Finanzamt gegenüber heute weniger hilflos, würde ich meine Spesenabrechnungen pünktlicher und vor allem korrekter erstellen?

Ach, wäre mein Vater Kapitän, meine Mutter Stewardess gewesen! Geblieben wäre mir die Reiselust, gewichen wäre vielleicht die Aufregung vor jeder Reise, die unausweichliche Übelkeit zu Beginn jeder Reise, Reisefieber und Reisekrankheit. Hätten sie mich zwischen Lissabon und Kapstadt, zwischen Stockholm und New York, zwischen Genua und Kalkutta gezeugt!

Wüssten doch alle Eltern in spe, welch weitreichende Bedeutung der Ort der Erfüllung ihrer Lust für die Opfer ihrer Triebhaftigkeit gewinnt!

Wussten meine Eltern bei ihrer flüchtigen Begegnung, vielleicht auf der Wiese oder zwischen den Büschen, wie prägend dies Ereignis für mein Leben werden würde? Welche Hobbys zunächst, welche Leidenschaft später, welcher Beruf, welche Lebensumstände daraus erwachsen sollten?

Oft frage ich mich, wo mein Nachbar im Flugzeug, mein Gegenüber im Restaurant, meine Gastgeberin bei einer Party, meine Kolleginnen und Kollegen bei einer Fortbildung, ja, wo meine Chefin und wohl auch der Bundespräsident gezeugt wurden.

Bei meinen vielen Reisen um die ganze Welt habe ich tiefe Einblicke gewonnen, an welch absonderlichen Orten die Menschen Erfüllung suchen.

Nur weiß ich nicht, wo ich meine Kinder zeugen soll. Ich hätte gerne einen zukünftigen Mediziner, Zahnarzt vielleicht, und eine Tochter, die Tennisprofi werden könnte. Meine Frau, die nichts davon weiß, welch einzigartige Bedeutung der Ort der Zeugung besitzt, hat zwar nichts gegen diese Berufsvorstellung, aber sie meint, das sollten die Kinder später selbst entscheiden.

Vorläufig verhüten wir noch.

Werner Markus

Das Haus an der Lippe

Ihren Anfang nahm diese Geschichte auf dem Friedhof. Glauben sie nicht? Doch, es ist wahr! So wahr wie alles, was ich hier berichte:

Was macht ein junger Mann, wenn seine Frau gestorben ist? Er besucht sie auf dem Friedhof. Oft, manchmal auch mehrmals am Tag.

Was macht eine junge Frau, deren Mann verstorben ist? Das Gleiche!

Wenn dann auch die Gräber der lieben Verstorbenen fast nebeneinander liegen, bleibt es nicht aus, dass man sich des Öfteren trifft und miteinander ins Gespräch kommt. Man redet, zuerst zurückhaltend – man will ja nicht gleich seine ganze Lebensgeschichte ausplappern, dann doch immer mehr. Man erfährt, dass die Verstorbenen der Ehemann (aha, eine Witwe!), beziehungsweise die Ehefrau (aha, ein Witwer!) waren, dass man Kinder hat und wo man wohnt. So erfuhr ich, dass diese junge Frau in einem Haus an der Lippe wohnte. Die Beschreibung der Wohnlage und die Adresse sagten mir nichts. Im Glauben, dass ich mich in Hervest gut auskenne, sagte ich selbstsicher: „Da steht kein Haus!“ „Doch, eins, nämlich meins,“ wurde ich eines Besseren belehrt.

So traf man sich, natürlich „zufällig“ täglich auf dem Friedhof und, man war sich ja nicht unsympathisch, es wurde ein Treffen außerhalb des Friedhofs vereinbart. Bei dieser Gelegenheit zeigte sie mir ihr Haus. Zunächst nur von außen, alles andere wäre ja zu weit gegangen. Schließlich kannte man sich kaum.

Eine Traumlage, fand ich. Mitten in einem kleinen Waldstück, nur etwa hundert Meter bis zur Lippe. Das nächste Haus, ein Bauernhof, lag einige hundert  Meter entfernt. Zwischen Haus und Lippe weideten die Pferde des Bauern und das einzige Geräusch war das Schnauben der Tiere. „Ein Traum nur tagsüber, in der Nacht ein Albtraum,“ sagte Linda, inzwischen kannte ich schon ihren Namen, „da habe ich furchtbare Angst. Einer meiner Söhne muss abends spätesten um zehn zuhause sein, so ist es abgemacht!“ Das klang vernünftig, aber die Wirklichkeit bei zwei Jungs mit Führerschein und Freundin sah anders aus. Regelmäßig wurde die Abmachung gebrochen und Mutter saß alleine zuhause.

Ich dachte mir: „Kein Problem, ich könnte ja auch mal auf Mutter aufpassen…..,“ sagte aber lieber nichts.

 Diese Gelegenheit kam schneller als ich dachte. Bisher hatten wir uns nur auf neutralem Boden, möglichst weit weg, getroffen und Fahrradtouren unternommen. Wir wollten uns noch nicht gemeinsam in der Öffentlichkeit zeigen. Sprich: unseren vielen Freunden und Bekannten über den Weg laufen. Das Problem löste sich während unserer Tour am ersten Mai von allein. Alle, aber auch wirklich alle unserer Bekannten hatten das gleiche Ziel wie wir! Wir hätten unser „Geheimnis“ auch gleich in der Zeitung bekannt geben können.

 An einem schönen Sonntagnachmittag war ich dann zum ersten Mal in Lindas Haus an der Lippe zum Kaffee eingeladen. Wir hatten vor, am Abend  gemeinsam eine Pizza zu essen zu gehen, somit habe ich mich in Schale geworfen. Helle Hose, weißes Hemd, jedenfalls nicht die Gammeljeans.

Nichts Böses ahnend stieg ich aus dem Auto. Niemand hatte mir von dem freilaufenden Wachhund erzählt.

Rocky, ein riesiger Schäferhund, stürmte auf mich zu. Vorsichtshalber sprang ich wieder in mein Auto, zumal Rocky mit einem großen Knüppel im Maul bewaffnet war. Vielleicht ist er ja kein Beißer, sondern ein Schläger……? Rockys Kopf erschien an meiner Seitenscheibe, die noch geöffnet war. Der Knüppel ragte bis in mein Auto. „ Bloß nicht mit dem Stock werfen,“ hörte ich Linda rufen, „den blöden Köter werden Sie(!) sonst nicht mehr los. Der Hund will nur spielen, Sie(!) können ruhig aussteigen!“

 Ich wollte jedenfalls bei unserem ersten Treffen außerhalb der Friedhofsmauern nicht als Feigling gelten und stieg aus. Rocky bewies sofort, dass er mir gut gesinnt war und legte mir freundschaftlich seine schmutzigen Pfoten auf die Schultern. Den Knüppel noch im Maul hechelte er mir ins Gesicht.

„Das ist mein Wachhund. Jeder Fremde ist sein Freund, vorausgesetzt, der Fremde tut ihm nichts,“ hörte ich Linda sagen.

Ganz im Gegensatz zur Katze. Rambo trug ihren Namen zu Recht. Dieses Mistvieh sah, dass ich offene Schuhe trug und biss mir erst einmal kräftig in den Zeh.

So lernte ich schon am ersten Tag die Bewohner des Hauses an der Lippe kennen. Bis auf Lindas Söhne.

Die Zwei wollten alte Gewohnheiten nicht aufgeben und kamen nicht zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause. Linda und ich verbrachten den Nachmittag im Garten und ich staunte, wie viele Tiere sich blicken ließen. Junge Füchse spielten auf dem Weg, Eichhörnchen kletterten in den Bäumen und eine plattgefahrene Blindschleiche lag auf dem Parkplatz. Rocky liebte mich vom ersten Augenblick an. Um mir das zu beweisen, kletterte er auf meinen Schoß und wollte sich ankuscheln. Damit war der Plan Pizza essen zu gehen endgültig gescheitert. Meine Hose war ein Fall für die Reinigung und auf meinem Hemd hatte Rocky seine Pfotenabdrücke verewigt. „Im Winter kommen die Rehe bis an den Gartenzaun,“ erzählte Linda, das musst du (aha!) mal gesehen haben.

So verging der Nachmittag. Wir beschlossen, es beim vertrauten „Du“ zu belassen, denn schließlich kannten wir uns ja schon vierzehn Tage. Linda zauberte schnell ein kleines Abendessen und wir bedauerten es nicht, den Abend an der Lippe zu verbringen.  Es waren aber  wilde Tiere, die uns bei der einsetzenden Dunkelheit ins Haus trieben: Mücken, Millionen, mindestens!

 Wir saßen zu zweit auf dem Sofa, das Zimmer nur spärlich beleuchtet, sonst sehe man ja nicht, wenn sich Jemand draußen herumtreibt. Wer sollte sich denn hier herumtreiben?  

 Ein Geräusch ließ uns plötzlich aufhorchen. Es war ein Motorengeräusch, welches den Weg herunter  immer näher kam. Dann Scheinwerferlicht.

„Linda, deine Söhne……,“ vermutete ich. „Nein, die hört man viel früher, so etwa wenn sie an der Ampel stehen“. „Die Ampel ist doch mindestens einen Kilometer durch den Wald entfernt. So weit hört man sie doch nicht!“ „Und ob,“ wurde ich belehrt. Ein Auto hielt vor dem Haus. Linda ging zum Fenster und drückte auf einen Schalter. Draußen wurde es taghell. In den Bäumen waren mehrere starke Scheinwerfer montiert und hüllten das Haus und das Grundstück in gleißendes Licht.

 Der Fahrer stieg aus und wir konnten weitere Personen im Auto sehen. Alle miteinander sahen wenig Vertrauen erweckend aus. Schwarze Anzüge und Hüte, der Fahrer trug eine Goldkette um den Hals, die im Scheinwerferlicht glänzte. Linda eilte zur Tür und ging ihm entgegen. Mein: “Bist du wahnsinnig?“ hörte sie schon nicht mehr. Rocky traute dem Fremden auch nicht und verkroch sich in seine Hütte. Wachhund!!!

Linda wechselte ein paar Worte mit dem Fremden und kam wieder ins Haus. „Der hat sich verfahren und sucht die Angelteiche,“ sagte sie. Angelteiche? Hier? Nee! „Was sollte ich denn machen,“ verteidigte sich Linda, „etwa bis zur Haustür kommen lassen? Dann ist er auch ruckzuck in der Wohnung!“ Das leuchtete mir wiederum ein.

Eine Weile später leuchtete wieder etwas auf. Ein roter Lichtpunkt wanderte am Fenster vorbei. Ich spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam. „Linda, da war jemand mit einer Zigarette am Fenster,“ flüsterte ich. Plötzlich waren noch mehr solcher Lichtpunkte zu sehen. Linda lachte und meinte, vor Glühwürmchen müsse man keine Angst haben. Glühwürmchen! Die kannte ich nur aus dem Fernsehen. In freier Wildbahn hatte ich noch keine gesehen. Die Gänsehaut ging zurück, kurzfristig.

Ein lauter Knall hinter meinem Kopf ließ mich zusammenfahren. „Das ist nur die Katze,“ sagte Linda. „Sie hat wohl übersehen, dass das Fenster geschlossen ist.“ Den folgenden Knall auf dem Dach deutete ich dann richtigerweise als herabfallende Eichel.

„Das ist alles nur halb so schlimm,“ sagte Linda. „Richtige Angst hatte ich, als mitten in der Nacht eine Rockerbande mit ihren Motorrädern hier auftauchte und ich ganz allein im Haus war. Oder ein anderes Mal, als in den frühen Morgenstunden Bundeswehrsoldaten bewaffnet und mit Panzern den Weg herunter kam. Sie bauten eine Pontonbrücke über die Lippe und waren so schnell wieder verschwunden wie sie aufgetaucht waren. Spaß hatte nur der Bauer. Er hat für die Manöverschäden eine gute Entschädigung bekommen.“

Sie erzählte auch vom letzten Lippehochwasser, das bis hinter den Gartenzaun anstieg: „Der Rasen war so stark aufgeweicht, dass man bis über die Knöchel im Morast versunken ist.“ Die Lippe fühlte sich in Lindas Garten offenbar recht wohl, denn sie dachte lange nicht daran sich in ihr Bett zurückzuziehen. Dann, eines Nachts, klopfte jemand an Lindas Fenster. Sie schaltete die Außenbeleuchtung ein. Ein junger Mann stand draußen und suchte Hilfe. „Haben sie einen Trecker?“ Einen was?“ „Einen Trecker! Ich stehe mit meinem Auto unten auf dem Weg, kurz vor der Lippe. Ich habe nicht bemerkt, dass ich bis über die Achsen eingesackt bin. Jetzt komme ich alleine nicht mehr raus. Meine Freundin sitzt noch im Auto und hat panische Angst. Sie traut sich nicht auszusteigen. Linda verwies den jungen Mann an den Bauern, der dann auch mit seinem Trecker zur Hilfe kam.

 So verging uns die Zeit beim Erzählen im Flug und es war schon spät in der Nacht, als in der Ferne ein  „Buffta-Buffta-Buffta“ ertönte. „Da kommt Martin, mein Jüngster. Der steht aber noch vor der Ampel,“ stellte Linda fest. Das Buffta-Buffta-Buffta wurde lauter und steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Dann stand Martin auf dem Parkplatz.

 Linda war nun nicht mehr alleine und ich musste zurück in meine Wohnung. Ich wäre gerne noch länger geblieben, zumal Lindas Versuche meine strapazierten Nerven zu beruhigen, mir sehr gefielen.

 Nun konnte ich Lindas Angst und den Wunsch nach einer anderen Wohnung verstehen. Der Einfachheit halber zog sie, einige Monate später, zu mir, in meine Wohnung. Nach fünfundzwanzigjähriger Probezeit waren wir der Meinung, dass wir auch heiraten könnten. Das Haus an der Lippe steht noch. Wenn wir schon mal daran vorbeifahren, sehen wir uns nur schweigend an und lächeln uns zu.

Ja, das ist unsere Geschichte und sie wird wohl da enden, wo sie begonnen hat!