Turtines
Unter der Leitung der Autorin Sarah Meyer-Dietrich haben Jugendliche in einem Schreibland NRW Online-Workshop der Stadtbibliothek Dorsten gemeinsam eine Lippe-Geschichte in zwei Teilen geschrieben. Sie entführen die Leser*innen in eine aufregende Parallelwelt namens Turtines. Ein weiterer Text entstand im Jahr darauf, als Jugendliche sich mit dem Thema Klimakrise auseinandergesetzt haben. Sie schrieben gemeinsame den Krimi “Tatort”.
Turtines I Unergründlich?
Eine Lippe-Geschichte von:
Emma Clausen
Finn Droste
Lena Hein
Nele Hülsmann
Zoe Langner
Dana Loup
Kilian Pieck
Mit Unterstützung von Sarah Meyer-Dietrich
Das Projekt
Diese Geschichte entstand in den Sommerferien 2020. Ursprünglich sollte der Workshop mit einer Exkursion an die Lippe starten und in den Räumlichkeiten der Stadtbibliothek stattfinden. Aufgrund der Corona-Pandemie mussten wir umplanen. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen: Die Exkursion an die Lippe fand virtuell durch Film- und Bildmaterial statt. In sechs Videokonferenzen planten und diskutierten die sieben Autorinnen und Autoren ihre gemeinsame Geschichte und die einzelnen Kapitel gemeinsam mit der Workshopleiterin Sarah Meyer-Dietrich. Unterstützung gab es von Birgitt Hülsken von der Stadtbibliothek Dorsten. Und auch die Stadtbibliothek fand Eingang in die Geschichte.
Das Projekt wurde ermöglicht durch Schreibland NRW und den Lippeverband und organisiert und durchgeführt von der Stadtbibliothek Dorsten.
Die Autorinnen und Autoren
Jeder der sieben Autorinnen und Autoren entwickelte eine eigene Hauptfigur für die gemeinsame Geschichte und schrieb aus der Sicht dieser Hauptfigur Kapitel.
Hier seht ihr, wer welche Kapitel geschrieben hat:
Emma Clausen à Lea
Finn Droste à Joe
Lena Hein à Alina
Nele Hülsmann à Arlo Ness
Zoe Langner à Josy
Dana Loup à Kathie
Kilian Pieck à Shadow
Kilian zeichnete außerdem die wunderbaren Illustrationen.
Kapitel 1: Josy
Ich dachte, es wäre ein normaler Morgen. Schon um sechs Uhr in der Früh bin ich mit einer Decke und einer Tasse Kakao durch mein Fenster im ersten Stock geklettert. Ich lebe mit meiner Mom und meiner Zwillingsschwester Lea in einem kleinen roten Haus an der Lippe in Dorsten direkt am Waldrand. Ich setzte mich an das Ufer und genoss die Stille. Jeden Morgen saß ich hier. Früher war ich immer mit meinem Vater hierhergekommen. Wir hatten gemeinsam Kakao geschlürft und die Vögel beobachtet. Doch vor einem Jahr war er spurlos verschwunden. Wir wussten nicht wieso, wir wussten nicht einmal, ob er noch lebt. Das war ein schmerzhaftes Gefühl, das mich wahrscheinlich mein ganzes Leben begleiten würde. Aber hier am Fluss erinnerte ich mich am liebsten an ihn. Denn in meinem Herzen konnte er nicht verschwinden, und ich würde ihn niemals vergessen.
Ich hielt meine Nase in die lauwarme Sommermorgenluft und schloss die Augen. Während ich meine Gedanken ordnete, merkte ich, dass irgendetwas anders war. Etwas nahm mir das Gefühl von Freiheit und Geborgenheit. Ich fühlte mich beobachtet und hatte so ein merkwürdiges Bauchgefühl, als wäre ich heute nicht die einzige Person hier draußen.
Prompt öffnete ich die Augen und blickte mich um. Ich konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Auf einmal raschelte es im Wald, und ich sprang auf. Während ich in Richtung des Raschelns ging, erinnerte ich mich an meinen Dad. Er war immer mit mir zurück ins Haus gelaufen, wenn er etwas im Wald gehört hatte. Aber so war ich nicht. Ich war viel zu neugierig.
Da legte sich auf einmal eine warme Hand auf meine Schulter, und ich schrie. Als ich mich umdrehte, guckte ich in zwei strahlend blaue Augen.
„Joline, nicht so laut, du erschreckst die Vögel!“
„Mom, du erschreckst mich zu Tode!“
Sie lachte nur, aber ich fand das gar nicht so lustig.
Sie strich mir langsam durch meine roten Haare. „Du sollst doch nicht in den Wald gehen, ohne jemandem Bescheid sagen“, sagte sie.
„Aber da war irgendetwas, ich schwöre es dir!“
Meine Mom schmunzelte und drückte mir ein Küsschen auf die Wange, dann ging sie rein. Ich wusste genau, was sie dachte. Sie nahm mich nicht ernst, so wie jeder hier! Der Einzige, der mir immer zugehört hatte, ohne eine Augenbraue hochzuziehen, war mein Dad. Wir hatten uns zusammen immer die lustigsten Geschichten ausgedacht oder hatten so getan, als ob …
„Frühstück!“, unterbrach Lea meine Gedanken.
Kapitel 2: Shadow
Als Shadow durch den Wald schlich, sah er ein Mädchen, das am Lippeufer saß. Sie schaute friedlich auf das Wasser, als eine Frau sich zu ihr setzte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte. Das musste die Mutter des Mädchens sein. Die Mutter stand auf und ging davon. Nach einer Zeit folgte das Mädchen ihr.
Shadow dachte sich nichts dabei, sie beobachtet zu haben, und ging zu seinem Baumhaus. Erst dort dachte er darüber nach, wie sehr er doch seine eigene Mutter und sein Zuhause vermisste. Er machte sich traurig einen Kakao und schaltete den Fernseher ein, um auf andere Gedanken zu kommen.
Kapitel 3: Kathie
„Mum? Dad? Hat irgendwer meinen Karton mit den Büchern gesehen?“, rief Kathie Bradwell die Treppe hinunter. Daisy, ihr Hund, steckte die Schnauze durch eine Lücke des Treppengeländers und bellte, als fragte sie ebenfalls. Kathie musste schmunzeln.
„Nein, aber guck mal im Lesezimmer“, kam die sanfte Stimme ihrer Mutter zurück.
Das reinste Chaos. So ging das seit gestern. Da war Kathie mit ihren Eltern von London nach Dorsten in Deutschland gezogen. Seitdem packten sie Kisten aus, holten mal eben auf die Schnelle Pizza oder asiatische Nudeln und widmeten sich dann wieder den Kisten.
Kathies Vater Robert kam gebürtig aus Dorsten, war jedoch nach England ausgewandert, wo er ihre Mutter kennengelernt hatte. Aus diesem Grund war Kathie zweisprachig erzogen worden, und sie konnte perfektes Deutsch.
Im Lesezimmer angekommen öffnete sie ein paar Kisten, bis sie endlich ihre fand. Langsam hob sie die gefühlt tonnenschwere Kiste hoch und schleppte sie in ihr Zimmer. Dort ließ sie die Kiste erleichtert auf den Boden plumpsen.
„Ganz nett hier in Deutschland, oder, Daisy?“, fragte sie den Hund.
Daisy wuffte zur Bestätigung.
Kathie stemmte die Hände in die Hüften und blickte sich in ihrem Zimmer um: Es war größer als ihr Zimmer in England und heller. Aber eben noch lange nicht fertig. Also machte sie sich daran, die Bücher ins weiße Regal zu stellen. Daisy lief um sie herum und beobachtete Kathie dabei.
Irgendwann hatte sie immerhin zwei Kartons weniger im Zimmer stehen. Erschöpft schleppte sie sich die Treppe herunter. Ihr Vater war in der Küche und sortierte das Geschirr in die Wandschränke. Als er gerade ein Glas hineinstellen wollte, schnappte Kathie es sich aus seiner Hand.
„He!“, lachte er.
„Möchtest du auch Apfelschorle, Dad?“, fragte sie ihn.
„Da sag ich nicht nein! Ich wollte sowieso mal langsam eine Pause einlegen“, erwiderte er und nahm sich ebenfalls ein Glas.
Kathie goss ihnen ein. Sie stießen an und tranken beide einen langen Schluck. Durch die offene Terrassentür hörte man die Vögel zwitschern, und die Sonne schien durch die Fenster. Es war ein wunderschöner Tag, und Kathie wollte sich gleich mit einem Buch nach draußen …
„Ich möchte gleich einen alten Bekannten besuchen. Er hat zwei Töchter in deinem Alter“, sagte Robert.
Kathie verdrehte die Augen. „Ich wollte doch eigentlich …“, begann sie, wurde aber von ihrem Vater unterbrochen.
„Es wäre gut, wenn du ein paar Kontakte knüpfen würdest, Kathie! Außerdem sind die beiden ganz sicher sehr nette Mädchen. Also, kommst du mit?“
Eigentlich nicht, Dad! Ich möchte heute nicht Dad!, wollte sie sagen, aber sie wollte ihn nicht enttäuschen. „Na gut! Ich werde es probieren. Aber ich werde mich nicht amüsieren!“, sagte sie stattdessen.
Ihr Vater knuffte sie in die Seite, und sie lächelte.
Kapitel 4: Josy
Später legte ich mich auf mein Bett und starrte die Uhr an. Alina und ich waren verabredet, aber sie war mal wieder zu spät. Ein paar Minuten später klingelte es an der Tür. Ich lief durch den Flur nach vorne und riss die Tür auf. Aber vor mir stand definitiv nicht Alina.
„Hallo?“, sagte ich.
Vor mir stand ein großer Mann, wahrscheinlich etwas älter als meine Mom. Hinter ihm entdeckte ich ein Mädchen in meinem Alter. Sie hatte braune schulterlange Haare und lange Wimpern. Außerdem sah sie so aus, als ob sie viel Sport machte und nicht ganz so viel Schokolade aß wie manch anderer …
„Josefine, du bist aber groß geworden!“, sagte der Mann zu mir. Dabei war ich mir sicher, dass ich ihn noch nie gesehen hatte.
„Ähhhmm … Danke? Aber ich kenne Sie nicht!“
„Ach, wie unhöflich von mir. Ich heiße Robert, und das ist meine Tochter Kathie, und dahinten am Auto ist meine Frau Phoebe. Ich war ein Freund von deinem Vater und bin dann aber nach England gezogen. Wir haben euch hin und wieder besucht, als ihr noch klein wart. Also, ich habe davon gehört … Also von deinem Vater und … Also, das tut mir wirklich leid.“
„Wer ist das, Josy?“, fragte Lea, die neben mich getreten war.
„Oh, das ist meine Zwillingsschwester Lea, und das ist Robert, ein alter Freund unseres Vaters.“
Irgendwie war das eine blöde Situation. Keiner von uns wusste so richtig, was er sagen sollte, und so schwiegen wir uns an, bis meine Mom kam.
„Robert, was machst du denn hier?“
„Maria! Schön, dich zu sehen! Wir sind gerade wieder hergezogen, und ich dachte, wir sagen mal hallo. Das ist meine Tochter Kathie.“
„Oh, Kathie du bist ja so groß geworden!“
Die Erwachsenen. Immer das Gleiche mit denen. Du bist ja groß geworden, oh, was für ein hübsches Kleid und bla, bla, bla!
„Ich geh nach draußen.“ Mit diesem kargen Satz schob ich mich an Roberts Familie vorbei. Am Lippeufer setzte ich mich auf einen großen Stein und starrte auf den Fluss.
Kapitel 5: Joe
Zur gleichen Zeit ein Stückchen weiter flussaufwärts …
Hallo, ich bin Joe. Meine Eltern sind vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem lebe ich bei meinen Großeltern. Ich vermisse meine Eltern sehr, und wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, dass sie zurückkommen. Ich gehe sehr gerne in die Bücherei, um nachzudenken, oder fahre Kanu. Jetzt gerade bin ich auf der Lippe unterwegs und lege gleich in der Nähe der Bücherei an, um mich im Sommerleseclub anzumelden. Die Lippe ist so ein schöner Ort. Dort hört man mal keine Autos. Man kann im schönen hohen Gras ein gemütliches Picknick machen. Und ihre schönen Stromschnellen sind faszinierend. In Gedanken versunken blicke ich auf das Wasser.
Auf einmal sehe ich neben mir im Wasser etwas schwimmen. Ein Monster vielleicht? Nein, es gibt keine Monster in der Lippe! Ich rede mir ein, dass es ein Fisch war oder ein Biber. Dann begegne ich einem Mädchen in einem Ruderboot. Sie hat dunkle Haare und helle Haut. Wir nicken uns zu und fahren weiter – jeder für sich.
Kapitel 6: Alina
Heute ist so gutes Wetter!, dachte ich mir, als mein Vater mich zum Steg an der Lippe fuhr. Die Lippe ist so lang, dass man eigentlich so weit rudern kann, wie man möchte, und ich hatte sowieso nichts anderes zu tun. Ich liebe es so sehr, einfach drauflos zu rudern. Ich legte meine Paddel beziehungsweise Skulls ein und stieß mich vom Steg ab. Ich ruderte vorbei am Kanuverein. Dann machte ich eine Pause und überlegte, wie so oft schon, wo genau meine Schwester Laura damals ertrunken sein könnte. Ich wusste eigentlich nicht viel über sie, da ich erst fünf Jahre alt gewesen war, als sie ertrank.
Ich ruderte noch etwas weiter. Ich sah einen Jungen mit blonden Haaren, der in einem Kanu an mir vorbeiruderte. Er sah etwas in Gedanken versunken aus. Er nickte mir zu, und ich nickte zurück. Ich war noch immer in Gedanken vertieft, als ich zurückruderte. Plötzlich sah ich etwas Großes unter meinem Ruderboot. Ich erschrak. Ich erschrak so sehr, dass ich fast aus dem Boot gefallen wäre. Ich setzte mich wieder gerade hin und schaute mich um. Ich erspähte eine große, rote Schwanzflosse. Oder hatte ich mir die nur eingebildet? Nein! Nein! Nein!, dachte ich. Ich darf mir jetzt nicht einreden, dass ich mir das nur eingebildet habe. Mir glaubt ja sowieso niemand, bis auf Josy, also muss ich jetzt stark bleiben. Zum Glück war ich gleich sowieso mit Josy verabredet. Ich schaute auf meine wasserfeste Uhr und dachte: Scheiße, jetzt komm ich schon wieder zu spät. Nächstes Mal muss ich mir einen Wecker stellen. Beim Rudern denke ich einfach zu viel nach.
Ich ruderte immer schneller.
Kapitel 7: Arlo Ness
Ich war schon eine ganze Weile unterwegs. Ich tauchte an Korallenriffen, bunten Fischen und düsteren Höhlen vorüber. Fühlte mich aber, egal wo ich war, einfach unwohl! Ich brauchte einen Ort, an dem ich mich wohlfühlen konnte. Einen Ort wie unser See in Schottland. Ich vermisste meine Familie jetzt schon!!! Doch ich musste weiterschwimmen. Ich musste es schaffen, innerhalb eines Tages ein neues Zuhause zu finden! Aber das klang für mich in dem Moment so gut wie unmöglich.
Ich bin übrigens Arlo Ness, Sohn des Ungeheuers von Loch Ness und seiner wunderschönen Gattin Arielle, die Meerjungfrau. Beide kennt ihr doch bestimmt schon aus alten Sagen und Filmen? Mich allerdings nicht. Ich habe ja auch keine tolle Abenteuergeschichte vorzuweisen, um eine Rolle in einem Film zu spielen. Und ich hätte auch gar nicht genug Mumm, um mich von einer dieser Kameras fotografieren oder filmen zu lassen! Oft schon war mein Vater besorgt, weil ich so wenig eitel bin. Ganz untypisch für ein Ungeheuer. Das war auch der Grund, weshalb ich meinem Vater unbedingt beweisen wollte, dass ich genauso groß, stark und einfach perfekt war wie er. Und dass ich einen eigenen Ungeheuernamen verdient hatte. Allerdings brauchte ich dafür ein eigenes Zuhause. Eines, wo ich mich genauso wohl fühlte wie … eben schon gesagt: mein altes Zuhause im Loch Ness!!! Ich wollte genauso sein wie mein Vater!!! Viel gesagt, was? PLÖTZLICH zog ein Schatten über meinem Körper vorbei und riss mich aus den Gedanken! Schnell tauchte ich auf den Grund des Flusses, in dem ich mich gerade befand, und musste mich an die spitzen Steine drücken. Ein Boot, dachte ich. Waren das dort oben Menschen?! Mein Vater hatte mir, als ich klein war, immer von den Kameras der Menschen erzählt. Er selber war schon einmal von einer erwischt worden!!! Das hatte weitreichende Folgen gehabt, denn schon kurz nachdem das Foto in der Zeitung erschienen war, waren immer mehr Taucher gekommen, die nach meinem Vater auf dem Grund des Sees gesucht haben! Einmal wurde er fast entdeckt, konnte aber noch rechtzeitig in die Parallelwelt abtauchen, aus der wir Ungeheuer ursprünglich kommen.
Während ich all das dachte, drückten die spitzen Steine gegen meine Haut. Als der Schatten nach einer gefühlten Ewigkeit endlich aus meinem Blickfeld verschwunden war, löste ich mich vorsichtig vom Grund. Ich hatte tiefe Abdrücke auf meiner schuppigen Haut. Aber ich achtete nicht weiter auf meine Wunden. Immerhin musste ich meinem Vater gerecht werden und das an nur einem einzigen Tag – so will es der Brauch. Also rappelte ich mich auf und zischte los. Ich schwamm an manchen Fischen sogar nur ganz knapp vorbei.
Es war ein Fehler gewesen, mich so voreilig auf den Weg zu machen, was ich spätestens merkte, als ich wagemutig einen hohen Sprung aus dem Wasser wagte. Denn ich sah wieder ein Boot, dieses Mal ganz in der Nähe, und tauchte schnell wieder unter. Hoffentlich hatte mich der Mensch – oder hatten die Menschen – mich nicht gesehen, sonst wäre das ein Skandal!!! Eilig schwamm ich weiter, bis ich endlich eine kleine Höhle fand, in die ich mich verkroch.
Kapitel 8: Josy
Lea setzte sich neben mich und legte ihren Kopf auf meiner Schulter ab. „Du bist auch traurig, dass er weg ist, oder? Es ist nicht deine Schuld. Er hat uns geliebt, da bin ich mir ganz sicher, mach dir nicht solche Gedanken.“
„Du hast ja bestimmt recht. Nur manchmal fällt es mir so schwer, das zu glauben. Warum ist er denn dann weg?“
Darauf hatte sie auch keine Antwort.
Ein paar Minuten blickten wir schweigend auf den See. Dann wurde unsere Stille unterbrochen: „Hi.“
Ich drehte mich um und guckte in zwei grünblaue Augen.
„Darf ich mich zu euch setzen?“, fragte Kathie schüchtern.
„Wenn es sein muss“, sagte ich und bereute es noch in derselben Minute, weil ich einen kräftigen Stoß von Lea in die Rippen bekam.
„Au!“
„Aber klar kannst du dich zu uns setzen“, meinte Lea. Manchmal ist sie so unfassbar nett. „Hey, ist das da hinten nicht Alina?“
Lea hatte vollkommen recht. Da hinten auf der Lippe ruderte Alina auf uns zu. Sie sah aber nicht so aus, als hätte sie Lust auf einen entspannten Nachmittag mit Freunden. Und Kathie. Aber wer weiß, vielleicht hatte ich überreagiert, und Kathie war eigentlich voll nett. Ich kannte sie ja nicht, und wenn ich sie mir so ansah, wirkte sie nicht so, als würde sie die nächste Serienmörderin werden. Ups, jetzt hatte sie gesehen, dass ich sie anguckte, und … sie lächelte. Was sollte ich jetzt machen? War ich einfach mal nett und lächelte zurück. Okay, genug gelächelt.
„Alina, hey, du bist zu spät. Zu deinem nächsten Geburtstag schenke ich dir eine Uhr.“ Ich ging auf Alina zu und umarmte sie, aber sie starrte nur in die Luft. „Alles gut? Du siehst aus, als hättest du Gespenster gesehen“, hakte ich nach. „Also, das ist Kathie, und das ist …“
„Wieso hat sie pink- und lilafarbene Augen?“, fiel Kathie mir einfach ins Wort. Der erste Eindruck trog also doch nicht. Wie unhöflich. Na ja, aber ich war auch schon oft Leuten ins Wort gefallen … Oh, und würde es einen Preis für die Person geben, die einen am häufigsten unterbricht, wäre meine Mom Champion.
Auf einmal schrie Lea voll laut auf. „Was!? Du hast ein Monster gesehen??“
„Was ist los?“ Ich verstand mal wieder nur Bahnhof.
„Alina hat ein Monster in der Lippe gesehen!“
Alina guckte Lea mit großen Augen an. „Woher weißt du das!“, sagte Alina.
„Na, das hast du doch gerade gesagt“, gab Lea zurück.
„Nein, hab ich nicht!“
Jetzt kam ich gar nicht mehr hinterher. „Hast du jetzt ein Monster gesehen oder nicht?“
„Ja, hab ich, aber das habe ich euch nicht erzählt! Das habe ich nur gedacht!“ Alina war völlig aufgelöst.
„Quatsch, es gibt keine Monster, und du musst das gesagt haben, sonst würde Lea es nicht wissen!“ Kathi war fest überzeugt davon, dass Alina log, aber ich wusste, dass Alina nicht lügen würde. Ich musste sie jetzt verteidigen, auch wenn ich dann als leichtgläubige Idiotin dastand. „Alina würde nie lügen!“
„Ich glaube, … ich … ich gehe mal in mein Zimmer.“ Lea war ganz blass um die Nase.
„Klar, mach das.“
Die Arme. Sie sah nicht gut aus. Vielleicht bekam sie ’ne Grippe.
Kapitel 9: Lea
Lea war durcheinander und fragte sich, ob sie wirklich Gedanken lesen konnte. Irgendwie wollte sie das nicht können, weil sie Angst hatte, die Privatsphäre von anderen Leuten zu verletzen. Aber andererseits fand sie es auch toll, Gedanken lesen zu können, falls sie mal angelogen wurde. Sie brauchte etwas Ruhe zum Nachdenken, also ging sie in ihr Zimmer. Doch als sie die Tür öffnete, bekam sie einen riesigen Schreck. Ihr Zimmer war komplett verwüstet.
Lea fragte sich, wer das gewesen sein könnte. Vielleicht ihre Zwillingsschwester? Aber eigentlich glaubte sie das nicht. Und dass es Kathie gewesen war, konnte sie sich auch nicht vorstellen. Was, wenn ein Fremder eingebrochen war und etwas gestohlen hatte? Sie schaute im ganzen Zimmer nach, ob etwas fehlte, konnte aber nichts feststellen. Lea wusste nicht mehr weiter, also rief sie Josy, Kathie und Alina zu sich.
Kapitel 10: Kathie
Lea hatte sich ziemlich erschrocken angehört, als sie Josy, Alina und Kathie gerufen hatte. Eilig rannten die drei nach oben zu ihr. Doch als sie im Türrahmen standen, bot sich ihnen ein Bild des Grauens: Schubladen waren aufgemacht worden, und der Inhalt lag über den Boden verteilt, das Bücherregal war komplett ausgeräumt, und die Bücher lagen alle kreuz und quer übereinander, das Bett war völlig zerwühlt und das Laken von der Matratze gezehrt.
„Was zum …“, hauchte Alina.
„Was ist passiert, Lea? Ist alles gut bei dir?“, rief Josy dazwischen und stürmte auf die zur Salzsäule erstarrte Lea zu.
„Ich … Keine Ahnung wie … Also …“, versuchte diese geschockt zu erklären.
Doch da stand bereits Maria in der Tür. „Was soll denn der Lärm bedeu… Was ist denn hier passiert?”, fragte sie und schnappte nach Luft.
„Ich weiß nicht … Ich bin aufs Zimmer, und da war es schon so!”, rief Lea.
Da fiel Marias Blick auf Kathie. „Hast DU vielleicht etwas damit zu tun?”, beschuldigte Maria sie.
„Bestimmt! Sie ist erst eine Weile nach uns rausgekommen!”, stimmte Josy zu.
„Nein. Das glaube ich nicht! Welchen Grund sollte Kathie denn haben?”, rief Lea.
Da wussten selbst Maria und Josy zunächst keine Antwort drauf.
Dann atmete Maria tief durch. „Kathie? Ich möchte, dass du und deine Eltern jetzt geht!”
Kathie schluckte. Die Anschuldigungen trafen sie hart. Wann sollte sie das gesamte Zimmer denn verwüstet haben? „Aber ich war es nicht! Ehrlich!”, beteuerte sie.
„Das sagst du! Aber wer soll es beweisen?”, erwiderte Maria.
Okay. Da hatte sie recht. Kathie war es nicht gewesen, aber welche Beweise hatte sie vorzubringen? Kathie nickte traurig, und eine Träne rollte ihr die Wange hinunter. Da hatte sie neue Freundinnen gefunden, und jetzt wurde sie von denen eines Vergehens beschuldigt, das sie nicht begangen hatte! Langsam ging sie die Treppe hinunter. Maria und die anderen folgten ihr.
Maria sprach noch mit Phoebe, dann gingen alle zur Tür.
„Wartet! Wo ist Robert?”, fragte Phoebe.
„Hier ist er jedenfalls nicht mehr. Vielleicht ist er schon vorgegangen?”, fragte Maria.
„Das passt aber nicht zu Dad!“, meinte Kathie.
„Tja, so irrt man sich in Menschen, was Kathie?”, fragte Josy, die Arme verschränkt.
„Komm, Mum. Dad wird wohl wirklich schon vorgegangen sein”, sagte Kathie und warf Josy einen eisigen Blick zu.
Dann drehten sich beide Mädchen um und gingen mit ihren Müttern in die jeweils entgegengesetzte Richtung. Alina und Lea sahen sich an und folgten Maria und Josy ins Haus.
„Du glaubst mir doch, Mum, oder?”, fragte Kathie Phoebe.
„Natürlich, mein Schatz!”, meinte diese und streichelte ihrer Tochter über die Haare.
Gemeinsam schlenderten sie in Richtung nach Hause.
Zu Hause schloss Phoebe die weiße Tür auf und trat mit Kathie im Schlepptau ein.
„Robert? Bist du da? Ich fand dein Benehmen wirklich unter aller Sau! Du kannst doch nicht einfach verschwinden!”, rief sie durch das Haus.
Keine Antwort.
Kathie sah ihre Mutter an. „Mum? Ich glaube, Dad ist nicht zu Hause. Seine Hausschuhe stehen noch da!”
Ihre Mutter sah sich um. „Komm, Kathie. Geh schon mal in die Küche, dann machen wir gleich Abendessen. Ich versuche, Robert zu erreichen”, sagte sie und ging mit ihrem Handy auf die Terrasse.
Kathie machte sich auf Richtung Küche, doch sobald ihre Mutter draußen war, schlich sie ihr nach.
„Robert? Falls du diese Nachricht hörst, ruf mich bitte sofort zurück! Wo bist du?! Wir machen uns Sorgen! Tschau!”
Eilig trat Kathie den Rückzug an.
Da kam auch schon ihre Mutter in die Küche und lächelte sie an. „Na komm, wir beginnen schon mal mit kochen!”, sagte sie fröhlich, so als wäre nichts gewesen. „Beginnst du, die Kartoffeln zu schneiden?”
Kapitel 11: Joe
Nachdem ich angelegt hatte, ging ich in die Bücherei. Ich freute mich schon riesig auf den Sommerleseclub.
In der Bücherei traf ich das Mädchen vom Fluss. Ich fragte mich: Soll ich sie ansprechen oder lieber nicht? Ich entschloss mich, sie anzusprechen und ging zu ihr hin. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass sie ein nettes Mädchen ist.
Ich fragte sie: „Du bist doch das Mädchen vom Fluss, oder?“
Sie antwortete: „Ja, das stimmt.“
Ich fragte sie: „Wie heißt du?“
Sie antwortete: „Ich bin Alina. Und du?“
Ich antwortete: „Ich bin Joe.“
Sie fragte mich, wo ich wohne, und ich antwortete: „Bei meinen Großeltern, weil meine Eltern vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Wo wohnst du denn?“
Sie antwortete: „In Dorsten und Gelsenkirchen, weil meine Eltern getrennt sind.“
Wir suchten uns jeder einen Platz, und dann fing der Sommerleseclub an. Jeder der Teilnehmer bekam eine Urkunde. Ich war auf dem zehnten Platz und Alina war auf dem zwölften.
Alina kam danach zu mir und sagte: „Herzlichen Glückwunsch.“
Ich gratulierte ihr auch, und wir stellten uns am Pizzastand an.
Plötzlich stupste mich Alina an und sagte: „Schau mal, der Junge da ist ganz alleine.“
Ich sagte: „Vielleicht sieht es nur so aus.“
Als wir mit der Pizza in der Hand die Bücherei verlassen hatten und den Jungen weggehen sahen, sagte ich: „Vielleicht stimmt es ja doch, dass er alleine ist.“
Alina antwortete: „Ja, sieht so aus.“
Ich fragte mich, was der Junge wohl machte, so ganz alleine. Ich hatte ein mulmiges Gefühl dabei, nicht nach ihm zu sehen.
Zum Abschied fragte ich Alina: „Wollen wir uns morgen zum Rudern treffen?“
Alina antwortete: „Ja, gern.“
Ich sagte: „Wir treffen und morgen früh so gegen neun Uhr am Lippeufer gegenüber vom Atlantis. Okay?“
Alina antwortete: „Okay, dann bis morgen.“
Ich zerbrach mir noch den Kopf, ob sie auch eins von den Mädchen war, die sich schminken. So oder so: Ich freute mich schon riesig auf das Treffen morgen, weil ich jetzt jemanden hatte, mit dem ich reden konnte.
Kapitel 12: Josy
Nachdem Kathie und ihre Mutter gegangen waren, herrschte eine relativ schlechte Stimmung, und nach dem Abendbrot sind wir dann auch früh ins Bett. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Trotzdem konnte ich nicht schlafen und wälzte mich darum noch mindestens bis halb eins hin und her. Ich machte mir mal wieder viel zu viele Gedanken, aber die Sache mit Leas Zimmer ließ mich nicht los. Was war, wenn ich überreagiert hatte? Immerhin war es ja „nur“ verwüstet. Lea und ich hatten dreimal nachgeguckt, und es fehlte nichts. Was hätte es Kathie bringen sollen, Leas Zimmer unordentlich zu machen? Es brachte ihr nichts. Eben. Außerdem hatte sie sehr überrascht gewirkt, als sie das Zimmer so gesehen hatte. Wer weiß, vielleicht war sie einfach eine gute Schauspielerin, aber … Na ja. Mal rein sachlich betrachtet, hatte sie einfach kein Motiv, oder? Mir fiel zumindest keins ein. Vielleicht sollte ich mich bei ihr entschuldigen. Oder auch nicht. Ach, ich wusste es doch auch nicht!
Irgendwann schlief ich dann endlich ein, aber ich hatte einen sehr unruhigen Schlaf.
Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es definitiv noch zu früh war. Oh nein! Erst kurz nach fünf. Stöhnend ließ ich mich zurück in meine Kissen sinken. Aber einschlafen konnte ich nicht mehr. Nach circa zehn Minuten schleppte ich mich dann zum Kühlschrank. Dort fand ich eine Nachricht vor:
Habe Frühdienst. Sehen uns später.
Kuss
Mom
Seitdem unser Dad verschwunden war, arbeitete meine Mom mehr denn je. Ich griff mir den letzten Fertigkakao und stellte ihn in die Mikrowelle. Während mein Kakao – oder auch mein leckerster Freund – warm wurde, zog ich mir einen Bademantel über und nahm ein Buch aus der Kommode in meinem Zimmer. Auf dem Weg zurück in die Küche spinkste ich in das Zimmer von Lea, wobei ich aber mit Enttäuschung feststellen musste, dass sie noch im Tiefschlaf war.
Mit meinem Kakao und einem Kinderkrimi ließ ich mich in einen Sessel im Wohnzimmer plumpsen. Langsam schienen die ersten Sonnenstrahlen durch die Gardinen und schufen ein wunderschönes Spiel von Licht und Schatten.
Kapitel 13: Kathie
Die Sonne kitzelte ihre Nasenspitze, und Kathie wachte auf. Verschlafen blickte sie sich um. Dann fiel es ihr wieder ein. Lea und Josy, ihr Vater … Schnell vertrieb sie diese Gedanken und stand auf.
Unten in der Küche fand sie einen Zettel:
Guten Morgen Prinzessin Kathie,
Wie du weißt, muss ich heute wieder
arbeiten. Sollte Robert wieder auf-
tauchen, melde dich bitte bei mir!
Ich hab dich lieb, Kathie!
Kuss
Mum
Und dann kamen die Tränen. Ihr Vater war immer noch weg! Was sollte sie jetzt tun? Hatte Robert sie verlassen? Sie weinte eine gefühlte Ewigkeit. Dann fasste Kathie einen Entschluss: Sie würde ihren Vater finden! Eilig packte sie ihren lilafarbenen Rucksack, stellte sich eine Tupperdose mit Rührei und Bacon zusammen, Gabel dabei, Rucksack zu, und schloss die Tür hinter sich.
Kapitel 14: Josy
Auf einmal klingelte es an der Tür, und ich fuhr hoch. Gerade war ich noch in einer wunderschön spannenden Geschichte mit Ruby Redford gewesen, und genau an der spannendsten Stelle wurde ich unterbrochen.
Lea kam mit zerzausten Haaren und verschlafenem Blick aus ihrem Zimmer. Mit krächziger Stimme fragte sie: „Wer könnte das sein?“
„Weiß ich nicht. Lass uns gucken.“
Langsam schlichen wir uns auf Zehenspitzen an die Tür und schielten durch das Guckloch nach draußen. Die Person, die ich da sah, hätte ich jetzt am wenigsten erwartet. Ich riss die Tür auf. „Kathie?!“
Vor mir stand niemand anders als das Mädchen, das ich gestern noch beschuldigt hatte, Leas Zimmer verwüstet zu haben. Doch heute sah sie nicht so perfekt hergerichtet aus wie gestern. Sie hatte verquollene Augen und plattgelegene Haare. Ihr Gesicht war ganz nassgeweint, und sie trug einen blauen Snoopy-Schlafanzug.
„Er ist nicht da. Immer noch nicht! Ich konnte nicht mehr schlafen! Ich war verzweifelt. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Auf jeden Fall konnte ich nicht mehr tatenlos da sitzen und die Tür anstarren.“
Ich konnte ihr kaum folgen. So früh am Morgen habe ich immer nur die halbe Denkfähigkeit. Es dauerte daher ein wenig, bis ich verstanden hatte, um wen es ging. Ihren Vater. In dem Moment, als ich ihr in die verweinten Augen guckte und begriff, worum es ging, konnte ich mich nur zu gut an die Situation vor einem Jahr erinnern. Jeden Tag hatte ich über Stunden auf die Tür gestarrt. Ich hatte gewartet, dass irgendjemand kam oder anrief und mir sagte, dass alles gut sei. Aber es passierte nichts. Über Monate hatte ich mich fast durchgängig in meinem Zimmer eingeschlossen. Mit niemandem wollte ich reden, niemanden wollte ich sehen. Ich hatte das Gefühl, es wäre meine Schuld, dass mein Vater uns verlassen hatte. Ich fühlte mich verraten. Wenn es Kathie gerade nur halb so schlecht ging wie mir damals, dann war sie wahrscheinlich gerade in dem größten Tief ihres Lebens. Es dauerte einige Momente, bis ich mit meinen Gedanken wieder da war.
„Komm doch rein“, sagte ich endlich.
Kathie trat ein und guckte mich mit einem so dankbaren und zugleich traurigen Blick an, dass ich eine Gänsehaut bekam. Zu dritt setzten wir uns auf unser grüngemustertes Sofa und schwiegen vor uns hin. Für ein paar Minuten starrten wir in die Luft. Jede in ihre Gedanken vertieft. Ich konnte diese Stille nicht mehr ertragen. Ich musste einfach irgendetwas sagen.
„Wollt ihr Kakao?“
Die beiden nickten nur, und noch während ich in die Küche ging, fiel mir ein, dass ich den letzten Fertigkakao ja eben ausgetrunken hatte. Weil ich zu faul war, welchen selbst zu machen, ging ich in den Keller und suchte nach Fertigkakao. Doch während ich die Tüten und Regale durchsuchte, fiel mir auf, dass hier Scherben auf dem Boden lagen. Als ich mich umguckte, bemerkte ich, dass die Eisentür, die sonst immer abgeschlossen war, einen Spaltbreit offen stand.
„Leute? Kommt mal schnell runter!“
Ich hörte, wie die Stufen knarzten, und nur ein paar Sekunden später guckten wir zu dritt sprachlos auf die offen stehende Tür.
Kathie war die erste, die wieder etwas sagte. „Glaubt ihr, diese Tür hat etwas mit dem Verschwinden meines Vaters zu tun?“
Als Antwort bekam sie nur ein doppeltes Achselzucken.
Sie lief auf die Tür zu, doch ich packte sie am Ärmel. „Wir dürfen da nicht rein und durften es auch nie. Die Tür war immer ein Riesentabu für uns. Nicht mal unsere Mom durfte da rein! Das muss einen Grund haben!“
„Aber ich muss da rein!“ Ich hörte deutlich die Verzweiflung aus Kathies Worten. „Ich … i… ich muss!“ Mit diesen Worten riss sie sich aus meinem Griff los und lief auf die Tür zu. Mit einer schwungvollen Armbewegung öffnete sie die Tür weit und blieb mit offenem Mund stehen. „Was. Ist. Das?“
Kathie hatte auf einmal ganz große Augen bekommen. Und als ich mich hinter sie stellte, verstand ich auch wieso. Hinter der Tür war ein langer durchsichtiger Tunnel aus Glas. Hinter dem dicken Tunnelglas konnte man eine Unterwasserwelt beobachten, die ich so zuvor noch nie gesehen hatte. Bunte Korallen und ganze Fischschwärme in den unterschiedlichsten Farben. Es war wunderschön. Fragte sich nur, warum Papa das alles über Jahre vor uns geheim gehalten hatte.
„Ey, guckt mal, ich weiß jetzt, woher die Scherben kommen!“ Lea hielt einen halb zersplitterten Fotorahmen in der Hand.
„Zeig mal her“, sagte ich und nahm ihn ihr vorsichtig aus der Hand.
Zu dritt guckten wir jetzt auf ein etwas verstaubtes altes Bild von einer Gruppe aus Männern und Frauen.
„Ist das nicht Dad?“
Mein Blick folgte Leas Finger, und … sie hatte recht.
„Das neben ihm ist doch Robert, nicht wahr?“, fragte ich Kathie.
„Ja, das ist mein Vater in jungen Jahren!“
„Seht mal, hinten steht etwas drauf“, sagte Lea.
Gebannt blickten wir alle auf die Zahl, die auf der Rückseite des Bildes stand. 1999.
„Lasst uns in mein Zimmer gehen, langsam wird mir das zu gruselig“, schlug ich vor.
Die anderen schlossen sich mir an, und so tapsten wir alle etwas verdattert die Treppen hinauf. Ich glaube, keine von uns verstand so richtig, was hier abging. Aber momentan wusste ich auch gar nicht, ob ich es überhaupt wissen wollte.
Kapitel 15: Arlo Ness
Als ich meine Augen aufschlug, lag ich immer noch in der kleinen Höhle, in die ich mich gestern zur Ruhe gelegt hatte. Ich hatte in der Nacht kaum geschlafen, weil ich dauernd daran denken musste, was ich heute meinem Großvater erzählen sollte, wenn er mich fragen würde, ob es mir gelungen war, einen Ort jenseits der Parallelwelt zu finden, an dem ich als Ungeheuer künftig leben wollte. Und als ich doch endlich eingeschlafen war, wurde ich gejagt von Albträumen. Ich fühlte mich in dieser Höhle allerdings trotzdem … irgendwie geborgen. Von dem Unterschlupf geschützt, abgeschirmt von der Außenwelt. Ich sollte wohl hier bleiben. Hier, wo ich sicher war vor all den lauten Stimmen der Monster, die man Menschen nannte. Aber erst einmal musste ich etwas essen. Träge streckte ich meinen Kopf aus dem Unterschlupf und sah mich um.
Am hellen Morgen sah alles so viel fröhlicher und schöner aus als am Abend zuvor. Ob das hier mein Ungeheuerort werden könnte? Ich zuckte mit den Schultern und schwamm los. Die Fische, die in bunter Vielfalt hin- und herschwammen, sahen am Morgen viel freundlicher aus. Die Algen am Grund wirbelten mit ihren Bewegungen sanft den Sand auf.
„Entschuldigung“, fragte ich einen kleinen, besonders freundlich aussehenden Fisch. „Kannst du mir sagen, wie dieser Fluss heißt?“
„Die Lippe“, antwortete der kleine Fisch.
„Und weißt du zufällig, ob es in der Lippe schon ein Ungeheuer gibt?“, fragte ich weiter.
„Soweit ich weiß, nicht“, blubberte der kleine Fisch.
Jetzt war ich mir im Klaren: Hier würde ich bleiben. Aber zuerst musste ich in die Parallelwelt Turtines zu meinem Großvater Turti Ness, um mir die Genehmigung zu holen, hier zu leben. Ich wusste nicht genau, wo hier der Eingang in die Parallelwelt war, also machte ich mich auf die Suche.
Kapitel 16: Joe
Ich ging ich zum Lippeufer und wartete dort mit dem Kanu auf Alina. Auf einmal raschelte es im Wald. Ich wollte nicht nachsehen, doch die Neugier packte mich und ich schaute nach. Ich sah ein cooles Baumhaus, und davor stand ein Junge in einem komischen Anzug.
Kapitel 17: Shadow
Als Shadow am nächsten Morgen auf der Suche nach Schrott wieder durch den Wald ging, sah er einen Jungen, der am Ufer saß und augenscheinlich auf etwas wartete, da er sich die ganze Zeit umsah. Irgendwann fiel der Blick des Jungen auf Shadow, woraufhin dieser sich schnell zurückzog. Kurz bevor Shadow sein Baumhaus erreichen konnte, hörte er hinter sich eine Stimme.
„Hey du, wieso läufst du vor mir weg?“
Shadow drehte sich um, sah, dass es der Junge war, und blieb stehen.
„Hey, du läufst weg und antwortest auch nicht? Verstehst du mich überhaupt?“, sagte der Junge mit einem freundlichen Lächeln.
Shadow wusste nicht, was er sagen sollte, und nickte nur.
„Das ist ja mal ein Anfang“, sagte der Junge nun lachend. „Ich heiße Joe und habe dich schon gestern in der Bücherei gesehen. Bist du neu hier?“
Shadow überlegte kurz und antwortete dann stotternd: „I… i…ch bin neu … neu … ja.“
Joe lächelte ihn weiter an, das beruhigte Shadow ein wenig.
Nun antwortete Shadow: „Ich heiße Lukas.“ Denn das war der eigentliche Name, den seine Mutter ihm gegeben hatte.
Joe lächelte immer noch und sagte: „Hi Lukas, was machst du hier so?“ Dabei guckte er herausfordernd auf den Schrott in Shadows Händen.
„Ich sammle Verwertbares, woraus ich neue Sachen bauen kann“, antwortete Shadow.
„Cool. Also ein Erfinder?“, fragte Joe.
Shadow nickt nur.
„Wenn du magst, können wir uns ja mal treffen und uns näher kennenlernen“, sagte Joe.
„Sehr gerne“, antwortete Shadow, dem Joe irgendwie sympathisch war.
„Gut“, sagte Joe und guckte auf seine Uhr, „jetzt muss ich aber erst mal los, bin noch verabredet.“
Kapitel 18: Alina
Heute war mal wieder ein Tag, auf den ich mich so richtig freute und den ich genießen wollte. Ich war mit Joe verabredet, den ich zwar erst seit gestern kannte, aber bei dem es sich so anfühlte, als ob ich ihn schon lange kennen würde. Gestern in der Bücherei hatten wir uns zum Rudern verabredet.
Ich war schon wieder spät dran. Genau wie gestern bei Josy. Schon wieder würde ich jemandem erklären müssen, warum ich zu spät war. Egal, dachte ich, ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Schnell zog ich Schuhe und eine Jacke an und machte mich auf den Weg.
Als ich am Lippeufer ankam, wunderte ich mich, dass Joe noch nicht da war. Ich bin doch schon zehn Minuten zu spät, dachte ich, als ich auf meine Armbanduhr schaute. Dann sah ich Joe. Er kam aus dem Wald. Ich fragte mich zwar, was er im Wald gemacht haben könnte, aber der Gedanke verflog, als wir uns begrüßten und unsere Boote ins Wasser legten.
Wir ruderten ziemlich lange. Ich spürte, dass er mir etwas verheimlichte. Ich wusste aber nicht was und wollte ihn auch nicht fragen. Wenn er es mir erzählen wollte, würde er es schon noch tun. Plötzlich sahen wir etwas im Wasser treiben, in Menschengröße.
„Was ist das da vorne im Wasser?“, frage ich Joe.
Er zuckte mit den Achseln. „Wollen wir nachsehen?“
Wir ruderten darauf zu und erkannten, dass es ein Mensch war, der da im Wasser trieb. Er war tot.
Joey rief: „Das ist mein Vater!“
Ich war völlig verwirrt und geschockt zugleich. „Was? Dein Vater?! Sagtest du nicht, dass deine Eltern seit einem Jahr tot sind?“, sagte ich und schaute ihn fragend an.
„Ja, das dachte ich auch“, sagte er leise. Er sah sehr niedergeschlagen aus, schien aber noch nicht recht zu begreifen. Genauso wenig wie ich.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und versuchte ihn zu trösten. Es schien aber alles nur noch schlimmer zu machen. Er war mit einem Mal richtig aufgebracht.
„Wir müssen die Polizei rufen“, sagte ich mitfühlend zu Joe.
Doch er schrie: „Nein! Wir können jetzt doch nicht aufgeben und den Kopf in Sand stecken. Vielleicht finden wir meine Mutter auch noch.“
Ich wollte nicht mit ihm streiten, weil ich Streit hasse. Vor allem mit Leuten wie Joe. Leute, die nett zu mir waren. Leute, die ich mochte. Ich kannte nicht so viele Menschen. Ich fühlte aber, dass Joe so etwas wie ein Freund für mich war.
„Okay. Dann lass uns die Leiche doch erst mal ins Schilf bringen, damit sie uns nicht wegtreibt“, sagte ich und schaute ihn unsicher an.
Joe sagte traurig: „Okay.“
Also legten wir die Leiche ins Schilf. Dann ruderten wir schweigend zur Anlegestelle zurück. Nachdem wir angelegt hatten, sprach ich Joe noch mal darauf an, ob wir nicht doch die Polizei rufen sollten.
Er reagierte aggressiv und schrie: „Du kennst das Gefühl nicht, jemanden verloren zu haben, lass mich einfach in Ruhe!“ Er brach in Tränen aus und rannte weg.
Ich war traurig, konnte aber verstehen, dass er so reagiert hatte. Ich hätte ihm gern von meiner Schwester erzählt. Aber offenbar wollte Joe für den Moment lieber allein sein. Ich machte mich auf den Weg zu Josy, um jemanden zum Reden zu haben.
Kapitel 19: Lea
Josy, Lea und Kathie saßen zusammen in Leas Zimmer. Kathie war so traurig, weil sie nicht wusste, wo ihr Vater war. Er war einfach verschwunden. Was, wenn sie ihn nie wieder sehen würde? Lea hörte Kathies Gedanken und sie tat ihr so furchtbar leid. Josy bekam natürlich auch mit, dass Kathie traurig war und legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. In der Zwischenzeit holte Lea ein paar Schokokekse und Milch zur Aufmunterung.
„Hmm! Die sind aber lecker“, sagte Kathie.
Lea lächelte.
Plötzlich klingelte es. Die drei Mädchen gingen runter, und Josy öffnete die Tür. Alina stand da. Sie war blass wie ein Gespenst und starrte alle nur an, ohne etwas zu sagen. Sie stand offensichtlich unter Schock.
Lea las ihre Gedanken und ihre Augen wurden immer größer. Ungläubig fragte sie Alina: „Du hast eine Leiche gesehen?“
Alina nickte.
„In der Lippe?“
Alina nickte erneut. Plötzlich starrte sie auf das Foto, das Kathie immer noch in der Hand hielt, und sagte: „Moment mal! Das da auf dem Bild, das ist doch Joes Vater! Die Leiche!“
„Wer ist Joe?“, fragte Kathie.
„Ein Junge, den ich an der Lippe kennengelernt habe. Er rudert dort. Heute sind wir zusammen auf dem Wasser gewesen und haben die Leiche seines Vaters gefunden“, sagte Alina. „Wieso bist du eigentlich noch hier, Kathie?“, fragte sie dann verwirrt.
„Na ja, als wir gestern von Maria rausgeschmissen wurden und nach Hause gegangen sind, war mein Vater spurlos verschwunden, und ich mache mir Sorgen um ihn. Josy und Lea wollen mir helfen, ihn zu finden“, sagte Kathie.
„Aber was machen unsere Väter zusammen mit Joes Vater auf dem Foto? Und wer sind diese beiden Frauen?“, fragte Josy.
„Vielleicht haben sie ja mal zusammen gearbeitet“, überlegte Lea.
„Hat deine Mutter denn versucht, deinen Vater anzurufen?“, fragte Alina.
„Ja klar, aber sie hat nur seine Mailbox erreicht“, erwiderte Kathie besorgt.
„Und da ist noch etwas, das du vielleicht wissen solltest, Alina“, bemerkte Josy ängstlich. „Wir haben im Keller eine Tür. Papa hat immer zu uns gesagt, dass sie für uns tabu wäre. Doch heute haben wir bemerkt, dass sie einen Spaltbreit offen stand. Also haben wir hineingeschaut und einen langen gläsernen Unterwassertunnel entdeckt. Wir konnten durch das Glas ganz viele Fische im Wasser sehen.“
„Und vorher war die Tür noch nie offen?“, fragte Alina.
Lea und Josy nickten.
„Das ist doch alles merkwürdig“, sagte Josy. „Erst verschwindet unser Vater, dann Kathies Vater, und jetzt taucht die Leiche von Joes Vater auf. Und alle drei haben sich gekannt.“
„Wo ist eigentlich Joe?“, fragte Kathie.
„Als er die Leiche seines Vaters im Wasser gesehen hat, war er völlig fertig. Seine Großeltern hatten ihm erzählt, dass sein Vater vor einem Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sei. Jetzt sah es aber so aus, als hätte sein Vater bis vor Kurzem noch gelebt. Nur warum schwamm er jetzt tot in der Lippe? Joe war so verwirrt und traurig und wollte jetzt erst mal ein bisschen allein sein, deshalb bin ich zu euch gekommen“, erzählte Alina.
„Der Arme!“, sagte Lea mitfühlend.
„Lasst uns doch mal nachsehen, wo er jetzt ist“, schlug Josy vor.
Also gingen die Mädchen los zur Lippe.
Kapitel 20: Joe
Ich saß noch eine ganze Weile alleine am Fluss. Ich stellte mir Fragen wie: Was ist mit meinem Vater passiert? Oder: Was ist denn mit meiner Mutter? Lebt sie dann auch nicht mehr? Und warum hatten meine Großeltern mich angelogen? Ich bereute es, dass ich abgehauen war und nicht normal mit Alina geredet und besprochen habe, was wir machen. Ich wollte nur keine Polizei rufen, weil ich Angst habe, dass ich dann nie erfahren würde, was passiert war und ob meine Mutter noch lebte. Ich hatte in kurzer Zeit so viel Chaos in den Kopf bekommen, dass ich nicht wusste, wie ich es wieder rausbekommen sollte. Ich saß dort und dachte nach, was wohl mit meiner Mutter sein könnte. Es wurde immer später und später. Ich hatte Angst vor dem, was noch kommen würde, weil ich nicht wusste, ob meine Mutter auch tot war. Wenn meine Eltern nicht bei einem Autounfall gestorben waren, war es doch möglich, dass meine Mutter noch lebte. Ich versuchte, mir Hoffnung einzureden, was nicht klappte. Langsam rollte eine Träne über meine Wange. Ich hoffte, dass mich keiner beim Weinen sah. Plötzlich kam mir eine Idee. Ich könnte doch nach meiner Mutter in der Lippe tauchen. Dann hätte ich wenigstens Gewissheit. Ich rannte nach Hause, um meine Taucherausrüstung zu holen. Ich war froh, als ich sah, dass meine Großeltern nicht zu Hause waren.
Zurück am Lippeufer zog ich die Ausrüstung an. Ich hatte ein mulmiges Gefühl dabei. Meine Taucherausrüstung war nichts weiter als ein Neoprenanzug, eine Taucherbrille und Schwimmflossen. Ich sprang ins Wasser und suchte lange aber vergeblich. Ich machte mir keine Hoffnung, meine Mutter lebend zu finden, wenn sie denn überhaupt im Fluss war. Dann sah ich einen hellen Schlitz in der Felswand. Ich schwamm näher heran und erblickte dahinter verschiedene Pflanzen. Es sah wie eine zweite Welt aus.
Auf einmal kam ich nicht mehr voran. Ich wurde panisch und schlug um mich. Es schien, als hätte sich eine Alge um mein Bein gewickelt. Meine Luft wurde knapper, und ich hatte immer mehr Angst. Mit einem Mal begriff ich, dass ich hier unten sterben würde. Ich sah einen Schatten neben mir und hoffte, es sei ein Boot oder ein Schwimmer. Doch am Ende dieses Schattens sah ich eine rote Flosse. Ich dachte, ich träume, weil die Luft knapper wurde. Aber gleichzeitig hatte ich auch die Vermutung, dass es ein Monster sein könnte. Ich hätte gern Alina von dieser Entdeckung erzählt. Oder Lukas. Stattdessen würde ich allein hier unten sterben. Ich hatte solche Angst.
Kapitel 21: Arlo Ness
Ich spürte ein Kribbeln im Magen. Am Anfang war es nur ganz leicht, doch je weiter ich schwamm, desto mehr tat es weh. Das Kribbeln wurde zu einem leichten Pieksen, das Pieksen zu einem stechenden Schmerz. Ich hielt inne. Ich bemerkte erst jetzt, dass hier keine Fische mehr hin- und herschwammen und alles viel dunkler und gruseliger war als im vorderen Teil des Flusses. Hier irgendwo musste der Eingang nach Turtines sein. Ich drehte mich einmal um mich selbst: Die steinernen Wände waren mit Moos überzogen, doch ich konnte trotzdem ein leichtes Schimmern hinter dem Moos erkennen. Ich zischte schnell darauf zu. Als ich an der Wand angekommen war, riss ich das Moos mit den Zähnen ab. Ich entdeckte das Zeichen in der Felswand. Jetzt war ich mir ganz sicher!!! Das war der Eingang!!! Ich schloss die Augen und drückte das Zeichen.
Kapitel 22: Shadow
Shadow sah die Luftblasen, die an die Wasseroberfläche stiegen, genau an der Stelle, an der Joe vor einer guten Weile abgetaucht war. Shadow dachte gar nicht daran, dass er nicht gut schwimmen konnte, und sprang hinterher. Er tauchte tiefer und tiefer, bis er Joe entdeckte und sah, dass sich Joes Fuß in einer Unterwasserwurzel verfangen hatte, die aus der Felswand ragte. Dann entdeckte Shadow auch den Grund für die ganzen Luftblasen. Joe hatte die Augen weit aufgerissen und den Mund offen, sodass daraus die Blasen aufstiegen. Shadow folgte Joes schockiertem Blick und sah direkt vor Joe in der Felswand einen Spalt, gerade so groß, dass man hindurchschauen konnte. Hinter dem Spalt sah Shadow seine Welt. Turtines.
Verwirrt, aber entschlossen, seinen Freund zu retten, legte er seine Arme um Joe und paddelte mit den Füßen so feste, wie er nur konnte, um ihn an die Wasseroberfläche zu bekommen. Er strampelte und strampelte und mit letzter Kraft schaffte er es endlich, die Oberfläche zu erreichen. Er atmete tief ein, nahm noch einmal all seine Kraft zusammen, und es gelang ihm, Joe ans Ufer zu ziehen. Voller Angst und Adrenalin kämpfte er um das Leben seines neuen Freundes.
Kapitel 23: Arlo Ness
Lange geschah nichts, doch auf einmal schob sich die Felswand zur Seite und gab eine große Öffnung frei, hinter der ein silbern schimmernder Tunnel lag. Im Tunnel schwammen bunte Fische, und an den mit Diamanten besetzten Wänden wuchsen leuchtende Korallen und viele Arten von Algen. Es war ein unwirklicher Anblick. Wäre ich nicht so in Eile gewesen, hätte ich wahrscheinlich noch eine ganze Stunde vor dem Tunneleingang verweilen können. Doch ich musste schnell weiter, denn in genau vier Stunden musste ich die Genehmigung erhalten haben, sonst wäre meine Chance auf einen eigenen Ungeheuerort für immer verstrichen. Also fasste ich mir ein Herz und durchquerte den Tunnel. Am anderen Ende war, wie erwartet, zuallererst die Überwachungsgarde. Ich fragte mich immer noch, warum mein Opa diese nur unter Wasser eingesetzt hatte. Egal.
„Genehmigungspass?!“, fragte der bullige der beiden Wächter.
Der andere streckte seine offene Hand nach mir aus.
Doch ich wimmelte die beiden ganz cool ab: „Ich bin Arlo, Arlo Ness, Sohn vom Ungeheuer von Loch Ness, Enkel von Turti Ness, dem Ungeheuer und Herrscher von Turtines. Ich denke, das sollte reichen.“
Ich schwamm stur an den Wachen vorbei. Ich bekam noch mit, wie diese sich verdattert ansahen, und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
Kapitel 24: Josy
„Hier soll es sein? Bist du dir ganz sicher?“, fragte Kathie.
Wir liefen jetzt schon eine Weile am Ufer entlang, und nicht mal die Sonnenstrahlen, die unsere Nasen kitzelten, konnte uns von dem ablenken, was Alina uns von dem Treffen mit ihrem Freund Joe erzählt hatte, das nicht ganz so abgelaufen war wie geplant. Na ja, nicht ganz war noch untertrieben. Die beiden hatten die Leiche von Joes Vater gefunden! Mein Kopf kam gerade gar nicht hinterher, und ich fragte mich, wie es wohl für Joe gewesen sein musste, seinen toten Vater zu finden. Ich kannte Joe zwar nicht, aber wenn ich mir anguckte, wie aufgelöst Alina gerade war, dann wäre ich jetzt nicht gerne in seiner Position.
Während ich mir meine Freunde anschaute, hätte ich gerne gewusst, was sie gerade dachten. So wie Lea, die gerade wahrscheinlich meinen Gedanken zuhörte. Oh, jetzt lachte sie. Na toll, sie wusste also wirklich, was ich gerade dachte … Ähm … Hallo? Privatsphäre, bitte? Na gut, also, ich hoffe sehr für dich, dass du jetzt aus meinem Kopf raus bist, denn sonst knöpfe ich mir dein Lieblings-T-Shirt vor, dachte ich.
„Nein, nicht mein T-Shirt!“, sagte Lea.
„Was für ein T-Shirt?“, fragte Alina neugierig, aber bevor wir antworten konnten, schrie Kathie auf. „Hey! Lass den Jungen in Ruhe!“
Kathie lief los und stürzte sich auf einen Jungen, der sich gerade über einen anderen Jungen beugte, der reglos am Ufer lag.
Jetzt lief auch Alina los und rief dabei: „Joe, geht es dir gut?“
Sie kniete sich neben den bewusstlosen Jungen und gab ihm eine harte Backpfeife.
„AU!“ Langsam öffnete Joe die Augen, und noch während er das tat, ging Alina auf den unbekannten Jungen zu.
„Ich kenne dich. Du bist der Junge aus der Bücherei! Was hast du mit ihm gemacht? He? Was fällt dir ein!“
Wir mussten Alina zu dritt festhalten, damit sie den Jungen nicht zusammenschlug.
„Alina, alles gut, er hat mir nichts getan. Er hat mich gerettet!“, sagte Joe jetzt.
„Nichts getan? Hm. Oh, ’tschuldigung. Ich bin Alina. Und du?“, fragte Alina an den Jungen gewandt.
„Ich bin Lukas. Und ihr?“
Jeder von uns stellte sich vor, und wir machten uns untereinander bekannt. Ich blickte mich um und musterte die Kinder, die um mich herum standen. Wir wirkten alle so verschieden, und doch hatte ich das Gefühl, dass uns etwas verband.
Ich nahm Blickkontakt zu Lea auf, die auch gerade ein wenig überfordert aussah.
„Was ist jetzt eigentlich mit der Leiche?“, fragte ich.
„Du hast ihnen davon erzählt?“, fragte Joe Alina vorwurfsvoll.
„Tschuldigung“, nuschelte Alina zurück.
Joe stöhnte kurz auf. Dann sagte er: „Wenn es für euch in Ordnung ist, dann würde ich mich jetzt erst mal ein bisschen sortieren, bevor ich mich wieder mit meinen Problemen konfrontiere.“
„Aber klar!“ Das konnten alle nachvollziehen.
Lea, Kathie und ich wollten uns gerade auf den Weg zu uns nach Hause machen, da rief Lukas: „Hey, ihr könnt doch alle mit zu mir kommen!“
Eigentlich wäre ich lieber nach Hause gegangen und hätte mich unter meine Bettdecke gekuschelt. Lea und ich hätten dann bestimmt einen Film geguckt. Manchmal war ich so froh, eine Zwillingsschwester zu haben. Ich meine, sie nervte zwar zwischendurch, aber in so komischen Situationen wie heute nicht alleine zu Hause zu sein, war einfach richtig schön.
„Ich habe Kakao“, sagte Lukas. „Also, wollt ihr mitkommen?“
Kakao. Kakao! „Na los, Leute! Er hat Kakao! Was überlegt ihr noch!“
Mit breitem Grinsen lief ich voraus. Lea zog ich hinter mir her.
„Falsche Richtung!“, rief da auf einmal Lukas.
Oh, wie peinlich. Abrupt blieb ich stehen und drehte mich um. Dann lief ich hinter den anderen her. Lea immer noch im Schlepptau.
„Boah, ist das etwa eine eigene Kakao-Maschine?“
Wir standen in Lukas’ Baumhaus, und während alle anderen total erstaunt darüber waren, dass Lukas alleine in einem Baumhaus lebte, war ich völlig fasziniert von der Kakao-Maschine. So viele wunderbare Knöpfe. Wieso hatte ich so was nicht? Ich als Kakao-Abhängige. Immerhin war Kakao mein Lebenselixier. Kakao war noch wichtiger als das Blut, das durch meine Adern floss.
„Darf ich noch ein Glas?“, wollte ich wissen.
„Noch eins?!“, fragte Lukas ungläubig. „Du hattest doch schon vier!“
Etwas beleidigt setzte ich mich auf den Boden und verschränkte die Arme.
„Okay, gut, nimm dir noch was“, lenkte Lukas ein.
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Kapitel 25: Shadow
Shadow erzählte, was Joe und er durch den Spalt in der Felswand in der Lippe erspäht hatten.
„Das heißt, ihr habt eine andere Welt in der Lippe gesehen?“, fragte Alina.
„Ja“, antwortete Shadow.
Joe war immer noch zu schwach zum Reden.
„Wir haben auch eine komische Welt gesehen“, sagte Josy.
„Wo?“, fragte Shadow, nun noch aufgeregter.
„Bei uns im Keller. Dort hinter einer Tür haben wir einen Unterwassertunnel entdeckt. Wieso?“, fragte Josy.
Shadow zuckte mit den Achseln und versuchte, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. „Nur so.“
„Unser Vater hat uns immer verboten, diese Tür zu öffnen“, erklärte Josy.
„Wie heißt er?“, fragte Shadow weiter.
„Peter“, sagte Josy. „Er ist vor einem Jahr verschwunden“, fügte sie traurig hinzu.
„Das … Nein … Das kann nicht …!“, sagte Shadow verwirrt.
„Warum fragst du nach unserem Vater?“, fragte Lea stutzig geworden.
„Erkläre ich euch später“, antwortete Shadow. „Ihr sagt, dass die Tür zum Tunnel offen ist?“, fragte er verblüfft weiter.
„Ja“, sagte Lea.
„Mein Vater ist wahrscheinlich durch diese Tür gegangen“, fügte Kathie hinzu. „Und seit gestern Nachmittag nicht zurückgekommen.“ Traurig senkte sie dabei den Blick.
Eine kurze Zeit schwiegen alle voller Mitgefühl.
Dann brach Alina das Schweigen und fragte: „Habt ihr das Bild dabei?“
„Ja, das haben wir mitgenommen“, sagte Josy.
„Welches Bild?“, fragte Shadow erneut verwirrt.
„Ein Bild, auf dem die Väter von Lea, Josy und Kathie und auch Joes Vater zu sehen sind“, antwortete Alina.
„Könnt ihr es mir zeigen?“, fragte Shadow.
Josy holte das Bild aus ihrem Rucksack und hielt es Shadow hin. Er nahm es und erkannte als erstes seine Mutter auf dem Bild und dann ihren Kollegen Peter, der ihnen damals den Durchgang geöffnet hatte.
„Wir wissen nur nicht, wer die beiden Frauen auf dem Bild sind“, erklärte Josy.
„Meine Mutter“, sagte Joe leise und zeigte auf eine der beiden Frauen.
„Und meine“, sagte Shadow. Und dann begann er zu erzählen …
Shadow lebte in der Street 125 in Turtines und ging mit seinen Eltern zu einem Durchgang zu unserer Welt in ihrem alten Gartenhaus.
„Wir machen das wirklich?“, fragte Shadow zum wohl hundertsten Mal.
„Ja, aber wenn du noch mal fragst, gehen wir zurück”, sagte seine Mutter genervt.
Er war so aufgeregt, dass er sogar einen Rucksack mit Decke, Kissen und Werkzeug gepackt hatte. Unsere Welt war die Welt seiner Mutter, die regelmäßig dorthin musste, weil sie in Turtines nicht länger als drei Stunden am Stück bleiben konnte, weil ihr sonst die Luft ausging. Aber es war das erste Mal, dass sie Shadow mit in die ihre Welt nahm. Shadows Vater sagte nichts, weil er ohnehin nicht mitgewollt hatte. Shadow hatte lange gebraucht, um seinen Vater zu überreden, hatte es dann aber endlich geschafft.
Sie gingen durch den Übergang und trafen auf Peter, einen Kollegen von Shadows Mutter. Sie hatte Peter per Hologramm Bescheid gesagt. Shadows Eltern hatten einen genauen Plan gemacht, da sein Vater in unserer Welt nur drei Stunden dort bleiben konnte. Peter sollte sagen, was er von ihrem Plan hielt.
„So, gehen wir noch mal den Plan durch”, sagte Shadows Vater. „Als erstes wollen wir in die Stadtbibliothek, danach zum Essen zu McDonald´s und dann zur Lippe. Vielleicht gehe ich etwas früher, weil ich nicht so lange dableiben kann.”
„Ich finde, das ist ein guter Plan”, sagte Peter.
„Dann gehen wir jetzt gleich los”, sagte Shadows Vater.
Sie gingen zur Stadtbücherei, und Shadow war ganz überwältigt von den vielen Autos, die sie unterwegs sahen. In der Bücherei schaute Shadow sich die vielen Bücher an und stellte fest, dass sie ganz anders waren als die Bücher aus seiner Welt. Danach gingen sie zu McDonald´s und aßen jeder einen Cheeseburger. Als sie dann zur Lippe gingen, hörten sie eine Sirene. Shadows Mutter hatte ihm zwar erzählt, dass es in dieser Welt Polizei-, Feuerwehr- und Krankenwagen gab, aber so eine Sirene in echt zu hören, war etwas ganz anderes. Shadow war ganz außer sich. An der Lippe angekommen, sah Shadow sofort, dass es nicht das schimmernde Wasser war, das er kannte. Es hatte eine andere Farbe und andere Ausmaße. Das Wasser in seiner Welt war klar und schimmernd und vollkommen ruhig. Plötzlich zog ein großes Unwetter auf mit starkem Wind und Regen. So stark, dass man durch die Regenwand fast nichts mehr sehen konnte. Seine Eltern dachten wohl, Shadow wäre hinter ihnen, und Shadow dachte, seine Eltern wären neben ihm. So kam es, dass sie sich aus den Augen verloren.
Als das Unwetter sich endlich wieder verzogen hatte, sah Shadow, dass er alleine war, und er wusste nicht mehr, wo der Übergang war. Er wartete, dass seine Eltern zurückkämen, um ihn zu holen. Es wurde Abend, und Shadow wollte nicht unter freiem Himmel übernachten. Aus diesem Grund baute er sich einen Unterschlupf aus Treibholz an einem Baum. In unserer Welt würde man es als Baumhaus bezeichnen. Außerdem sammelte er alles, was er an Schrott fand, um daraus neue Sachen zu bauen. Zum Beispiel einen Fernseher und eine Kakaomaschine. Als seine Eltern nach einem Jahr noch immer nicht wieder aufgetaucht waren, begriff Shadow, dass er vergeblich wartete.
Kapitel 26: Alina
Nachdem Lukas seine Erzählung beendet hatte, sagte Kathie: „Ich schlage vor, wir sollten uns diesen merkwürdigen Tunnel mal genauer anschauen.“
Ich sagte: „Ich würde auch gerne wissen, wo der Tunnel hinführt.“
„Was für ein Tunnel?“, fragte Joe gespannt. Offenbar war er, als Josy von dem Tunnel erzählt hatte, noch zu schwach gewesen, um richtig zuzuhören.
Ich sagte zu ihm: „Also, ich fasse die Geschichte mal kurz. Josy, Kathie und Lea haben heute morgen die Tür im Keller, die ihnen von ihrem Vater immer verboten wurde, offenstehen sehen, und sie haben durch die Tür geschaut. Sie haben einen Tunnel wie im Sealife gesehen, haben sie gesagt.“
„Es sieht dort einfach nur toll aus“, unterbrach Josy mich.
Plötzlich schaute Joe so, als ob er von einem Monster verfolgt werden würde. Er sagte panisch: „Das klingt nach der Welt, die ich beim Tauchen durch einen Felsspalt sehen konnte.“
Lukas nickte. „Es könnte ein Eingang zur Parallelwelt Turtines sein. Da ich ja aus dieser Parallelwelt bin, kenne ich mich dort aus, aber ich habe keine Ahnung, wo genau der Tunnel hinführt. Trotzdem glaube ich, dass ich euch führen könnte.“
Und schon waren alle einverstanden damit, dass wir uns in diesem geheimnisvollen Tunnel umsehen würden. Wir machten uns auf den Weg zu Josy und Lea.
Als wir fast dort angekommen waren, sagte Lukas: „Aber denkt daran, dass man als jemand, der nicht aus Turtines kommt, nicht länger als drei Stunden dort bleiben kann, weil einem dann der Sauerstoff ausgeht, also nehmt euch in acht.“
Alle nickten, und wir gingen weiter, bis wir vor Josys und Leas Haus standen.
Dann gingen wir rein, und ich sagte: „Sollten wir uns nicht ein paar Sachen mitnehmen, falls dort etwas ist, wogegen wir uns wehren sollen? Oder damit wir uns den Weg kennzeichnen können? Wartet kurz, ich glaube …“ Ich wühlte in Leas Schreibtischschublade. „Ah, hier sind sie doch. Die Mickey-Mouse-Aufkleber. Ich habe hunderte davon in deinem Schreibtisch versteckt, Lea, und du hast es nie bemerkt. Der Einbrecher, der dein Zimmer verwüstet hat, anscheinend auch nicht.“
Für einen Moment war es ruhig, doch dann sagte Joe: „Gute Idee. Damit können wir Markierungen setzen.“
Endlich mal jemand, der verstand, was ich vorhatte, dachte ich.
Josy hatte plötzlich auch eine Idee, was wir mitnehmen könnten. Dann fiel Lea noch etwas ein. Und am Ende hatten wir sechs schwere Rucksäcke, die wir tragen mussten. Dann liefen wir voller Aufregung die Kellertreppe hinunter.
Kapitel 27: Kathie
Schnell eilten sie die Treppe hinunter zu der Kellertür. Die Mädchen hatten die Tür nur angelehnt und öffneten diese nun wieder weit. Lukas, Joe und Alina staunten mit aufgerissenen Augen, während Lea, Josy und Kathie bereits hindurcheilten. Am Ende des Unterwassergangs befand sich eine Art Portal: Das Bild dahinter war etwas verschwommen, und so konnte man nicht direkt erkennen, was dahinterlag. Zögernd blieben sie stehen.
„Sollen wir da wirklich reingehen?“, fragte Alina.
Kathie antwortete ihr: „Ich werde da reingehen! Mein Vater könnte da … drin sein! Ihr könnt ja hierbleiben, aber ich gehe!“ Und sie ging hinein.
„Kathie, nein, warte!“, rief Josy noch, doch Kathie konnte sie nicht mehr hören.
„Schätze, wir sollten hinterher?“, fragte Joe.
Und so gingen die anderen ebenfalls durch das Portal.
Kathie war bereits ein wenig vorgelaufen und drehte sich nun um. „Da seid ihr ja! Und jetzt kommt! Das hier ist der Wahnsinn!“
Das Portal befand sich auf einem hohen Berg und bot einen großartigen Ausblick ins Tal. Der Himmel glänzte in Regenbogenfarben, und es war angenehm warm.
„Die Welt hier ist in vier Städte aufgeteilt“, erklärte Lukas. „Die Wasser-, die Erd-, die Luft- und die Feuerwelt.“
Die erste Welt schimmerte blau, und es sah aus, als würde aus der Luft heraus ein Wasserfall entstehen. Die nächste Welt war rot, und Vulkane ragten aus dem Boden hervor. Dann kam eine Welt, die fast genauso aussah wie die normale Welt. Die letzte Welt bestand aus Wolken. Einhörner flogen umher, und auf den Wolken standen Häuser. Eben wie im echten Leben, aber … verrückter.
Während sie weiter in die Welt hineinliefen, horchte Kathie auf. Irgendetwas rauschte. Hinter ihnen. Und …
„Oh Gott, lauft!“, rief Lukas.
Eine knapp fünf Meter hohe Welle drohte, auf die Freunde herunterzubrechen. Schnell liefen sie vor der Welle weg. Kathie konzentrierte sich, so schnell zu laufen, wie es nur ging. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihre Freunde ebenfalls alles gaben. Doch dann kam plötzlich ein Schwall von hinten, und Kathie stand bis zur Hüfte in der Welle. Ihr Herz begann zu rasen. Ihr Vater hatte sie vor der Kraft einer Welle gewarnt, und jetzt war sie mittendrin! Sie wurde beinahe hinfortgetrieben. Die anderen kämpften auch mit der Strömung: Alina war bereits einmal unter Wasser getaucht, Josy versuchte zu ihrer Schwester zu gelangen, und Lea ebenfalls zu ihr, Lukas konnte einigermaßen stehen und versuchte Joe zu helfen, der auch zu kämpfen hatte. Kathie stemmte sich mit aller Kraft gegen den Sog der Welle, doch der Boden unter ihren Füße gab nach, und Kathie wurde von der Welle mitgerissen. Sie hörte die Schreie von Lea und Alina, die es ebenfalls erwischt haben musste. Sie drehte sich um, damit sie sehen konnte, wo alle waren. Dann prallte sie – bong – gegen etwas Hartes. Hoffentlich geht es den anderen gut!, dachte sie. Vor ihren Augen wurde es schwarz.
Kapitel 28: Shadow
Als die Welle kam, merkte ich, dass eine Hand nach meiner griff. Es war Joes Hand. Ich spürte, dass wir abgetrieben wurden. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, erkannte ich, dass wir in Street 124 der Erdwelt von Turtines waren.
.
Ich sagte zu Joe: „Lass uns gehen. Das Haus meiner Eltern ist nicht weit weg.“
Joe antwortete: „Okay. Aber warum möchtest du zum Haus deiner Eltern, statt erst einmal nach den anderen zu suchen?“
„Dort können wir uns kurz ausruhen, denn dort ist Sauerstoff gelagert. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir jemanden oder gar alle Personen von dem Foto dort antreffen. Denn unser Haus war immer Anlaufpunkt für das gesamte Team“, antwortete ich.
„Team?“ Joe guckte mich fragend an.
„Das Foto, auf dem unsere Eltern zu sehen sind. Es ist eigentlich ein Forscher-Team zur Erforschung der geheimen Welt von Turtines“, gab ich nun mein Wissen preis.
„Wieso hast du uns das nicht schon früher erzählt?“, fragte Joe.
„Ich wollte euch schützen. Aber nun müssen wir dringend los“, antwortete ich.
Wir gingen schnellstmöglich, aber darum bemüht, unentdeckt zu bleiben, zu meinem Haus. Dort zum Glück ohne Vorfälle angekommen, schlichen wir um das Haus herum, damit wir sehen konnten, ob überhaupt jemand und wenn dann wer dort war. Ich erkannte durch das Küchenfenster meine Mutter, die am Herd stand und kochte. Dann sah ich, wie mein Vater die Küche betrat. Aus Reflex duckte ich mich und gab Joe ein Zeichen, leise zu sein. Nach einer Weile spähte ich wieder durchs Fenster und sah beide am Tisch sitzen und essen.
Ich bückte mich zu Joe und flüsterte: „Sie sind alleine. Lass uns reingehen.“
Gemeinsam schlichen wir zur Haustür und klopften vorsichtig an. Meine Mutter öffnete. Sie sah mich an, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Doch dann nahm sie mich in den Arm und drückte mich gefühlt eine halbe Ewigkeit. Wir gingen ins Haus, wo auch mein Vater mich in die Arme schloss. Dann fühlte ich etwas an meinen Beinen. Ich sah hinab und erkannte unseren Kater Kits und streichelte ihn.
„Ich bin übrigens Maike“, stellte meine Mutter sich Joe vor. „Und das ist mein Mann Michael.“
Ich bat meine Mutter, eine der Vorratsflaschen an Sauerstoff für Joe zu holen. Ich selbst brauchte als Halbblut ja keinen Sauerstoff.
Als wir zusammen am Tisch saßen, legte sich Kits auf meinen Schoß und ließ sich kraulen. Joe bekam von meiner Mutter eine Maske gereicht, um den Sauerstoff atmen zu können. Meine Eltern fragten mich dann nach Joe.
Ich erklärte ihnen, dass ich ihn in der normalen Welt kennengelernt hatte und er mein bester Freund geworden war. Außerdem sagte ich zu meiner Mutter: „Er ist der Sohn deiner Forscherkollegen.“ Ich zeigte ihr die beiden auf dem Foto.
Ungläubig schaute sie das Foto und Joe an und erkannte dann die Ähnlichkeit. „Du bist der Sohn von Simon und Lara!“
Und schließlich traute ich mich endlich, die Frage zu stellen, die mir schon so lange auf der Seele lag: „Warum habt ihr mich drüben in der Welt zurückgelassen? Warum seid ihr mich nicht suchen gekommen?“
„Wir konnten nicht“, sagte meine Mutter und schaute mich traurig an. „Alle Türen zwischen Turtines und meiner Heimatwelt wurden verschlossen, kaum dass wir zurückgekehrt waren und bemerkt hatten, dass du nicht mehr bei uns warst.“
Plötzlich klingelte es. Meine Mutter gab uns ein Zeichen, dass wir leise sein sollen. Sie ging zur Tür und öffnete sie. Eine mir fremde aber irgendwie auch bekannt vorkommende Frau stand dort.
Kapitel 29: Joe
Ich war schockiert, als ich sah, dass meine Mutter in der Tür stand. Einen Moment lang war es leise im Raum. Ich dachte, ich träume. Ich hatte so viele Gedanken im Kopf, dass ich nicht wusste, was ich zu ihr sagen soll.
Dann ergriff meine Mutter das Wort: „Ich bin so froh, dich wiederzuhaben.“
Ich schubste sie von mir weg und sagte: „Wieso haben Oma und Opa mich angelogen? Und wieso seid ihr einfach verschwunden?“
Jetzt herrschte wieder Stille im Raum.
Bis meine Mutter sagte: „Ich erkläre dir alles bei Oma und Opa. Okay?“
Ich murmelte: „Okay.“
Meine Mutter und ich sagten im Chor: „Tschüss zusammen und auf wiedersehen.“
Da sagte Lukas: „Ich komme mit. Mir gefällt unsere Welt besser. Und ich werde immer einen Weg zu euch finden, Mama und Papa.“
Wir liefen also mit Lukas durch den Tunnel unter der Lippe her zurück in unsere Welt. Wir verabschiedeten uns am Baumhaus von Lukas und gingen zu meinen Großeltern. Dort bekam ich eine Tasse Tee und Kekse.
Meine Mutter ergriff das Wort: „Wir haben dir nur nie von der Welt erzählt, weil wir Angst hatten.“
„Wovor hattet ihr denn Angst?“, fragte ich.
Meine Großmutter mischte sich ein: „Deine Eltern wollten nicht, dass du in diese Welt kommst, weil man dort nur mit einem Taucheranzug länger leben kann. Wenn deine Eltern keinen gehabt hätten, dann wären sie gestorben.“
Ich fragte: „Aber wieso habt ihr gesagt, dass meine Eltern bei einem Autounfall gestorben sind?“
Da fing mein Großvater an zu erzählen: „Deine Eltern waren Forscher. Als der Herrscher von Turtines immer misstrauischer den Forschern gegenüber wurde, fürchteten sie, von den Spähern gefangengenommen zu werden. Und als sie eines Tages von einer Forschungsreise tatsächlich nicht mehr zurückkamen, dachten wir, es ist einfach besser, als dir die Wahrheit zu sagen.“
„Was habt ihr denn geforscht?“, fragte ich.
„Simon und ich waren mit Lukas’ Mutter in einer Forschergruppe und sollten etwas über Turtines herausfinden. Natürlich waren auch noch andere Leute dabei“, erzählte meine Mutter. „Eines Tages hat der Herrscher von Turtines entschieden, dass er die Türen zu unserer Welt schließen lässt, weil er dachte, wir Forscher wären eine Gefahr für seine Welt. Wir haben zu spät davon erfahren und kamen nicht mehr zurück. Aus Angst sind wir dann untergetaucht und haben unsere Forschungen weitergetrieben.“
„Und dann ist Papa entdeckt und getötet worden?“, fragte ich.
Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Gestern tauchte plötzlich ein alter Kollege von uns bei mir auf, als dein Vater gerade unterwegs war. Robert.“
„Ich kenne Robert“, unterbrach ich. „Also … Ich kenne seine Tochter.“
Meine Mutter schaute erstaunt und fuhr dann fort: „Robert hat gesagt, dass dein Vater umgekommen ist, weil die beiden sich gerangelt haben. Robert war schon früher neidisch auf unsere Forschungsergebnisse. Und so entstand auch der Streit.“ Meine Mutter weinte höllisch, weil sie nicht wusste, was sie jetzt so ohne meinen Vater machen sollte.
Ich dachte noch lange über alles nach. Ich konnte nicht fassen, dass der Vater von Kathie meinem Vater so etwas getan hatte. Ich war noch immer schockiert. Ich war sicher, dass es so war, wie meine Mutter gesagt hatte: Es war ein Unfall gewesen. Ich war aber auch froh, dass jetzt die ganze Wahrheit raus war. Und dass ich meine Mutter wiederhatte.
Dann fiel mir wieder ein, dass Alina vielleicht noch in Turtines war. Ich machte mir Gedanken, ob ihr etwas passiert war. Oder war sie vielleicht schon zurück? Ich ging zur Lippe in der Hoffnung, das Alina dort ruderte.
Kapitel 30: Lea
Lea wurde total schwindelig und sie schloss die Augen, als sie von der Welle weggespült wurde. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, öffnete sie die Augen vorsichtig. Aber das, was sie jetzt sah, war das Verrückteste, was sie je gesehen hatte. Sie war in einer Feuerwelt! Dort explodierten riesige Vulkane und spuckten Lava aus. Sie sah Wesen, die aussahen wie Teufel und mit ihren Dreizacken herumliefen. Dann erblickte sie Menschen, die scheinbar direkt aus den Vulkanen kamen. Ihre Haut sah aus wie versengt, und sie zogen lange Qualmwolken hinter sich her. Zwischen all diesen Gestalten schlängelten sich riesige Feuersalamander hindurch, die rote Fußabdrücke hinterließen. Der Boden war so heiß, dass man sich fast die Füße verbrannte, und die Luft wie in einer Sauna. Lea war schon pitschnass geschwitzt.
Als eines der teufelartigen Wesen auf sie zukam, nahm Lea all ihren Mut zusammen und fragte: „Wo bin ich hier? Ist das hier eine Feuerwelt?“
„Nein! Das ist der Nordpol“, erwiderte das Wesen frech. „Natürlich ist das die Feuerwelt! Was für eine blöde Frage“, grummelte es dann und schlurfte davon.
Das läuft ja nicht so gut, dachte Lea und ging weiter. Hinter einem der größten Vulkane sah sie einen riesigen Drachen, der Feuer spuckte. Ach du meine Güte! Lea machte vor Schreck große Augen. Plötzlich stand ein kleiner brennender Puma neben ihr. Die Flammen schienen ihm nichts auszumachen.
„Wer bist du denn?“, fragte sie.
Der Puma sagte nichts, sondern deutete nur mit dem Schwanz auf seinen Rücken.
„Du willst, dass ich aufsteige?“, fragte Lea.
Der Puma nickte.
„Aber werde ich mich nicht verbrennen?“, wollte Lea wissen.
Der Puma schüttelte den Kopf, und irgendwie hatte Lea das Gefühl, als könne sie ihm vertrauen. Also stieg sie auf. Und tatsächlich, sie verbrannte sich nicht. Dann ging es los. Der Puma rannte mit ihr an Vulkanen, glühenden Bäumen und Teufeln vorbei. Er war richtig schnell. Dann kamen sie an Häusern vorbei, die aus glühenden Steinen gebaut waren. Einmal rannte der Puma sogar fast einen Babydrachen um, der gerade seine ersten Feuerwölkchen hustete. Das war die coolste Welt, die Lea je gesehen hatte.
Schließlich hielt der Puma an einer kleinen Straße an, und Lea stieg ab und sagte: „Danke, dass du mir deine Welt gezeigt hast.“
Lea hätte ihn gerne noch umarmt, aber da war er auch schon wieder weitergerannt. Also ging sie die kleine Straße entlang, und Feuerquallen schwebten in der Luft an ihr vorbei. Wow! Feuerquallen, Drachen, Teufel, Pumas, das war alles einfach unglaublich. So was hatte sie wirklich noch nie gesehen. Plötzlich wurde sie von hinten festgehalten. Erschrocken drehte sie sich um und sah einen Menschen mit einem Stierkopf.
„Was machst du hier?“, fragte er angsteinflößend.
„Ich bin mit meinen Freunden nach Turtines gekommen, und dann wurde ich plötzlich von einer Welle erfasst und in diese Welt hier gespült“, stammelte sie ängstlich. „Und wer bist du?“, fragte sie schüchtern.
„Das braucht dich nicht zu kümmern. Du kommst jetzt erst mal mit!“, brüllte er, packte Lea am Arm und zog sie hinter sich her.
Sie versuchte zu fliehen, konnte sich aber nicht aus seinem festen Griff lösen. Er zerrte sie in ein Gebäude mit einem kleinen Turm, aus dem Lava floss. Dort schubste er sie die Kellertreppe hinunter, und plötzlich standen sie vor einer Zelle mit goldenen Gittern. Er schloss die Tür auf und schob sie hinein. Hinter ihr schlug die Tür ins Schloss. Lea hatte sich von dem Schock noch nicht ganz erholt, da bekam sie schon den nächsten Schrecken. In der Ecke der Zelle saß ein Skelett. Sie beobachtete es eine Weile, dann ging sie näher heran und fasste es vorsichtig an.
„Bist du auch irgend so ein Wesen der Feuerwelt, oder bist du tatsächlich nur ein Skelett?“
Das Skelett rührte sich nicht. Sie schaute sich weiter um. An den Wänden waren Spuren und Kratzer zu sehen. Vielleicht von ehemaligen Gefangenen? Plötzlich ging die Tür der Zelle auf.
Kapitel 31: Josy
Auf einmal kam von der Seite eine große Welle, die mich mitriss. Suchend blickte ich mich um, kaum, dass ich den Kopf kurz über Wasser bekam, doch ich konnte die anderen nicht mehr sehen. Dann tauchte ich wieder unter. Langsam brach Panik in mir aus. Ich hielt die Luft an, aber ich hatte das Gefühl, die Welle würde niemals enden. Ich zählte bis drei und versuchte, mich zu beruhigen, aber ich kam nicht gegen die Panik an. Ich fühlte mich alleine und so verloren in dieser riesigen Welle. Jetzt schloss ich die Augen und ließ das Unheil über mich ergehen. Ich rechnete fest damit, dass ich hier jetzt draufgehen würde.
Doch plötzlich zog etwas an meiner Kapuze. Es zog und zog, bis es mich aus der Welle gerissen hatte. Ich brauchte einen Moment, bis ich mich an das ungewohnte Licht gewöhnt hatte. Doch selbst dann traute ich meinen Augen nicht.
Ich saß auf einer blauen Wolke in einer kunterbunten Regenbogenwelt. Um mich herum waren die lustigsten Gestalten zu sehen. Ein paar Kinder machten ein Wettfliegen auf Drachen, und riesige gelangweilte Schnecken mit Flügeln schienen die Schulbusse zu sein. Lauter Einhörner flitzten hin und her. Teilweise saßen scheinbar ganz normale Menschen auf ihnen. Doch ansonsten kam mir hier nichts bekannt vor. Regenbogenfarben schmückten den Himmel und kunterbunte Läden schwebten auf Wolken an mir vorbei. Hier war alles viel bunter und fröhlicher als in der normalen Welt. Für einen kurzen Moment vergaß ich alle meine Sorgen, doch dann realisierte ich wieder, dass ich hier ganz allein war. Ganz allein in einer unbekannten Welt.
Da erst bemerkte ich, dass vor mir ein kleines pummeliges lilafarbenes Einhorn saß. Es guckte mich an und guckte und guckte und guckte.
„Ist was?“, fragte ich.
Da sprang das Einhorn auf einmal auf und fing an zu singen: „Ich bin ein geflügeltes Einhorn mit ’nem lila Schweif. Ich rettete gerade dein Leben und dafür hab ich ’nen Beweis. Ich bin Rosa, Rosa Utopia Mausespeck Nummer zwei. Ich lebe hier in meinem kleinen Paradies und ab jetzt mit dir.“
Wow, ich war überwältigt. Mir schwirrten so viele Gedanken durch den Kopf, dass ich selbst nicht mehr hinterherkam.
Rosa Utopia Mausespeck Nummer zwei schien mir an der Nasenspitze anzusehen, wie verwirrt ich war. „Ich bin jetzt dein Einhorn. Das bedeutet, dass wir unser restliches Leben zusammen verbringen werden. Es war Schicksal, dass du in der Welle warst, und wir beide können jetzt beste Freunde sein“, erklärte sie mir. „Aber, hey, wie wär’s, wenn wir erst mal einen Kakao zusammen trinken und uns besser kennenlernen?“
„Du magst Kakao?“, fragte ich Rosa.
„Ich liebe Kakao, nein, nein, ich LEBE Kakao! Und ich kenne ein Café, das hat den besten Kakao der Luftwelt. Na los, spring auf.“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und so flogen wir zusammen an riesigen Geschäften und winzigen geflügelten Giraffen vorbei. In dem Café, das nebenbei bemerkt wirklich den besten Kakao servierte, den ich je getrunken hatte, erzählte ich Rosa dann, wie ich hergekommen war, dass ich eigentlich nicht von hier kam, und davon, wie meine Freunde und ich uns verloren hatten.
Sie wirkte ziemlich enttäuscht, als sie merkte, dass das bedeutete, dass wir uns wahrscheinlich nicht mehr wiedersehen würden. „Oh, na dann. Da dachte ich, ich hätte meine Seelenverwandte gefunden, da stellt sich heraus, dass du ein Einwanderer bist, ein Ausländischer.“
Jetzt tat es mir um Rosa Utopia Blablabla schon leid. Ich meine, wer wäre nicht gerne mit einem Einhorn befreundet? Oh Gott, wenn ich mich so denken hörte, sollte ich ernsthaft in Erwägung ziehen, mich selbst in die Klapsmühle einweisen zulassen. Ging das überhaupt? Ach, egal.
„Hm, wir können doch trotzdem Freunde bleiben. Ich meine, mit einem Einhorn befreundet zu sein, ist ja schon mega. Aber dann auch noch mit einem, das singt? Hallo, cooler geht es nicht!“, sagte ich jetzt.
„Glaubst du echt? Ich finde, das schreit nach einem Lied.“ Rosa fing an zu singen, doch auf einmal war ich wie weggetreten. Der Mann da hinter der Glasscheibe auf dem blauen Einhorn … Das war mein Vater!
Ja, zweifellos. Er hatte zwar ein paar mehr Falten als früher, aber das war er. Für einen kleinen Moment konnte ich nicht mehr klar denken. Was machte mein Vater hier? Was hatte er mit Turtines zu tun? Wieso war er hier und nicht bei uns zu Hause? Ob er hier eine neue Familie hatte? All das ging mir durch den Kopf in diesem kurzen Moment, in dem er an uns vorbeiritt. Aber meine größte Frage war: Sah er glücklich aus? Ich wollte das unbedingt mit nein beantworten können. Ich wollte sagen können: Nein, ohne seine kleine Kakaoblüte kann er nicht glücklich sein. Und da hatte ich auf einmal einen Kloß im Hals und ein Stechen in der Brust. Es war das erste Mal seit dem Verschwinden meines Vaters, dass ich mich traute, meinen Spitznamen von früher auch nur zu denken. Und was war, wenn mein Vater damals doch freiwillig gegangen war? Wenn ich Antworten auf all diese Fragen haben wollte, dann musste ich ihm jetzt hinterher.
Ich sprang auf und rief: „Rosa, wir müssen los! Eine Verfolgungsjagd steht an.“
Das ließ sich Rosa nicht zweimal sagen. Unterwegs erzählte ich ihr alles bis ins kleinste Detail, was mir dabei half, nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn mein Vater mich nicht wiedersehen wollte. Dieser Gedanke war zu schrecklich. Die meisten Was-wäre-wenn-Fragen sind schrecklich. Das ist der Grund, wieso ich versuche, sie so gut, wie es nur geht, aus meinem Kopf zu verbannen.
„Da! Er ist gerade abgebogen!“ Ich musste schreien, um meine eigenen Worte zu verstehen, denn in unmittelbarer Nähe war ein lauter Alarm losgegangen. Ich konnte diesen Klang nicht zuordnen, aber wie ich wenige Sekunden später feststellen musste, war der Alarm für mich ein Unglückszeichen.
Als wir gerade um die Ecke biegen wollten, versperrten uns drei Halbeinhörner den Weg.
Ich hatte keine Ahnung, was diese Kreuzung darstellen sollte, aber Rosa sagte: „Oh, oh! Das sind die Eingihamenschs, die Aufpasser hier in der Luftwelt.“
„Bitte was?!“, fragte ich ungläubig.
„Die Eingihamenschs. Sie sind dafür da, um zu kontrollieren, dass nur Einheimische hier sind, also keine Wesen aus deiner Welt. Außer sie haben einen vom Oberherrscher Turti Ness unterzeichneten Besucherpass, und den Gerüchten zufolge hat der Herrscher bisher noch keinen ausgestellt.“
Ich hatte es ja schon geahnt. Wie konnten Wesen mit riesiglangen Giraffenbeinen, einem Horn und Flügeln, Haifischzähnen und einem Menschengehirn auch etwas Gutes für mich bedeuten.
„AUSWEIS! SOFORT!“, schrie mich jetzt einer von denen an.
„He, he! Verstehen Sie! Ich muss sofort weiter! Mein Vater ist da drüben, und es ist wirklich wichtig, dass ich ihn erreiche. Ich habe keine Zeit für so etwas. Bitte lassen Sie mich durch!“ Ich dachte mir, ich versuche es erst mal auf die nette Art und weiche ihren Fragen aus. Nur leider hatte ich die Denkfähigkeit des menschlichen Gehirns unterschätzt.
Einer von denen beugte sich jetzt zu mir herunter und sagte: „Klar, Sie können durch, sobald Sie Ihren Ausweis vorgezeigt haben.“
Langsam kam ich ins Schwitzen. Die Ampel würde gleich grün werden, und dann wäre mein Papa wieder über alle Berge und zwar wortwörtlich. Denn ich meinte, dahinten Berge sehen zu können. Was wäre, wenn ich hier gerade die einmalige Chance verpasste, meinen Vater wiederzusehen? Schon wieder die Scheiß-was-wäre-wenn-Situation.
„I-I-ich hab k-keinen Ausweis“, flüsterte ich jetzt so leise, dass ich mich selbst kaum hören konnte.
Doch der Eingihamensch vor mir hatte es verstanden und spuckte mir ins Gesicht. Iiihhhhhhhhh. Wie ekelig. Da denkt man gerade, der Tag kann nicht noch schlimmer werden, und auf einmal spuckt dir ein riesiges Fabelwesen ins Gesicht.
„ABTRANSPORTIEREN!“, schrie er jetzt, und bevor ich verstand, was hier geschah, packten mich zwei von den riesigen Dingern und zogen mich von Rosa weg. „Roooossaaaaaaa!“ Ich hörte nicht mehr, was sie antwortete. Die Wachen schleiften mich viel zu schnell davon.
Nach vielleicht zehn Minuten kamen wir zu einem großen Gebäude. Es wirkte nicht sehr einladend. Graue Backsteinwände und Stacheldraht überall, wo ich hinsah. Es erinnerte mich ein wenig an die Filme, in denen ein Knast immer so übertrieben schlimm dargestellt wurde. Moment, die wollten mich doch nicht wirklich in einen Knast stecken? Panik brach in mir aus. Was hatten die jetzt mit mir vor? Ob es hier wohl eine Todesstrafe gab? Und was wäre, wenn sie mich eingesperrt ließen, bis ich neunzig war, mit grauem Haar, und mein ganzes Leben verpasst hatte? Leider hatte ich gut kombiniert, denn diese halbmenschlichen A**chlöcher warfen mich im nächsten Moment doch tatsächlich in einen dunklen Kellerraum. Ich wurde brutal auf den Boden geworfen, wobei ich mir bestimmt sämtliche Knochen hätte brechen können. Dann drehten sie sich um und gingen, ohne mich nur auch noch eines Blickes zu würdigen, weg. Na toll, so hatte ich mir das vorgestellt. Ich war jetzt ganz allein an der vermutlich einzigen dunklen Stelle in diesem sonst so bunten Paradies.
Auf einmal erklang eine warme und mir sehr bekannte Stimme aus der Ecke. „Ganz allein bist du nicht.“
Mein Kopf fuhr herum. Lea! Ich wollte mich freuen, sie zu sehen, aber gerade kreisten meine Gedanken noch um ganz andere Dinge. Ich wusste nicht, ob ich ihr überhaupt erzählen sollte, dass ich unseren Vater gehen hatte.
„Alles gut bei dir?“, fragte sie mich nun.
Ein Teil des Zwillingskodex besagt, dass ich sie jetzt auf keinen Fall anlügen durfte. Ein paar Sekunden überlegte ich, wie ich es Lea schonend beibringen konnte.
Da wurde sie kreidebleich. „Du hast unseren Vater gesehen?“
Doch bevor ich antworten konnte, wurde die Tür unserer Zelle aufgeschlossen.
Kapitel 32: Alina
Die Welle hatte mich an ein Ufer getrieben. Es sah sehr schön aus. Alles war voller Pflanzen, und durch die Wasseroberfläche schienen leicht die Algen durch. Plötzlich sah ich eine rote Schwanzflosse, die mir irgendwie bekannt vorkam. Dann fiel mir auch wieder ein, woher ich sie kannte. Es war die Flosse von dem Ungeheuer, das ich unter dem Ruderboot in der Lippe gesehen hatte. Es streckte seinen Kopf aus dem Wasser, und ich sah, dass es ein süßer Kopf war. Wie der von einer niedlichen Seerobbe, nur in größer.
Es sagte zu mir: „Laura, bist du das? Du lebst? Erkennst du mich nicht? Ich bin es, Arlo. Arlo Ness!“
Ich schaute das Ungeheuer – oder eher Arlo Ness – an und sagte vorwurfsvoll: „Woher kennst du Laura?“
„Ähm, wer bist du? Du siehst aus wie Laura“, sagte Arlo Ness. „Ich kenne Laura, weil sie immer wieder hier in Turtines war. Also genauer gesagt in der Feuerwelt.“
Ich sagte verwirrt: „Ich bin Alina. Die Schwester von Laura. Ist Laura oft hier gewesen? Und wusstest du, dass sie ertrunken ist?“
„Nicht so viel auf einmal. Fangen wir mit deiner ersten Frage an. Ja, deine Schwester war oft hier, und nein, eigentlich dachte ich, dass sie zu lange in Turtines war und daran gestorben ist“, sagte Arlo zu mir.
„Sie wurde vor einigen Jahren tot in der Lippe gefunden“, erklärte ich.
Arlo Ness nickte wissend. „Wer aus eurer Welt hier bei uns in Turtines stirbt, taucht in eurer Welt in der Lippe wieder auf.“
Ich musste an Joes Vater denken. War es möglich, dass er genau wie Laura in Turtines gestorben war? Ich würde Joe davon erzählen, nahm ich mir vor. Aber erst einmal wollte ich mir die Feuerwelt anschauen, um zu verstehen, was Laura immer wieder hierhergezogen hatte.
Ich fragte Arlo also nach dem Weg, folgte seinen Anweisungen und ging durch diese tolle Welt. Sie war voller Vulkane und Feuer. Ich holte meine Mickey-Mouse-Sticker aus dem Rucksack, um eine Markierung zu hinterlassen. Es waren noch andere Leute dort, die sich vermutlich auskannten, so zielstrebig, wie sie durch die Welt liefen. Plötzlich kamen drei Männer angelaufen, die mich an den Armen und Beinen packten. Ich rief so lange um Hilfe, bis sie mir den Mund zuhielten, aber auf einmal war um uns herum sowieso niemand mehr. Mein Herz pochte so laut, dass ich dachte, sie würden mich dazu zwingen, leise zu sein. Die Männer nahmen mich mit sich. An einem Ufer stiegen wir in seltsame Blubberblasen und tauchten ab. Nach einiger Zeit kamen wir unter Wasser in einem Kerker an. Die Männer stießen mich durch eine Tür, hinter der schon Lea und Josy hockten.
Kapitel 33: Arlo Ness
Nach meiner Begegnung mit Lauras Schwester schwamm ich schnell weiter. Turtines war unverändert. Alles war wunderschön und gleichzeitig düster und unheimlich, was eine geheimnisvolle Atmosphäre darbot. Die vielen großen Luftblasen, in denen Möbel und Leute standen und schwammen, glänzten leuchtend im silbernen Wasser. Und … Na toll, der Seepferdchen-Schwimmverein war auch noch da. Ich hatte aus meiner Kindheit düstere Erinnerungen an diesen Verein. Nicht so wichtig!!! Schnell tauchte ich an dieser Blase vorbei.
Ich war schon weit gekommen und konnte in der Ferne bereits die Königsblase sehen, die als Schloss und gleichzeitig Zuhause meines Großpapas diente. Sie war die größte Blase im ganzen Unterwasserreich!!! Ich schwamm immer schneller und war plötzlich ganz aufgeregt. Ich würde einen eigenen Fluss haben, einen eigenen Ungeheuernamen und sogar eine eigene Wohnung – oder vielmehr Höhle. Herrlich! Doch trotzdem auch unnormal und gruselig. Ich hatte unterdessen die Königsblase erreicht. Ich biss die Zähne zusammen, denn das Durchqueren der Blasenoberfläche war immer ziemlich unbequem. Ich wusste, dass es noch viele andere Zugänge zum Königspalast gab. Auch aus der Feuer-, Luft- und Erdwelt konnte man den Palast betreten. Dies aber war der einzige Weg, den ich wirklich kannte.
Die Innengestaltung der Blase war unverändert. Golden glänzende Möbel standen an den hohen weißen Wänden. Mich faszinierte immer wieder, dass man von außen in die Blasen hineinsehen konnte, aber von innen nicht nach außen. Irgendwie komisch, denn man brauchte ja auch seine Privatsphäre. Aber das musste mich ja nicht stören, denn ich lebte hier ja nicht. Ich schwamm den Gang entlang. An den hellen Wänden hingen viele Gemälde von den ehemaligen Herrschern der Parallelwelt Turtines. Es waren auch Frauen dabei. Manche hatten bunte Hüte auf dem Kopf. Die meisten Männer hatten Krawatten oder Fliegen um den Hals. Es gab grüne, blaue und sogar pinkfarbene Frauen und Männer. Am Ende des Ganges war ein Gemälde, auf dem mein Großvater seinen Schnauzer zum Besten gab. Mit strengem Blick beobachtete er mich. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Ich musste mich schütteln. Schnell schwamm ich weiter. Im nächsten Gang folgten viele noch leere Bilderrahmen. Mich schauderte, als ich vor meinem künftigen Rahmen stehenblieb. Ja, ihr habt richtig verstanden, ich werde nach meinem Vater und meinem Opa selbst Herrscher von Turtines … Na ja, wenn mein Opa sich nicht ändert, denke ich, dass er wohl ewig Herrscher bleiben möchte, denn Ungeheuer sind unsterblich. Sie können nur im Kampf oder an einer Krankheit sterben.
Ich war am Ende des Ganges angekommen. Hinter dieser Tür war der Thronsaal. Wenn ich diesen Raum betrat, gab es kein Zurück mehr. Ich atmete tief ein und aus. Dann öffnete ich die Tür ins neue Leben.
Kapitel 34: Kathie
Kathie kam langsam wieder zu sich und schaute sich um. Sie war in einem Haus und lag auf einem Bett.
„Geht es dir wieder besser, Kindchen?“, fragte ein etwas älteres …
„Seepferdchen? Träume ich?”, fragte Kathie.
„Nein, mein Kind! Du kommst aus der Erdwelt, oder?“, fragte die Seepferdchenlady.
„Ähm … Ja?”, stotterte Kathie. „Wer sind Sie eigentlich?”
„Oh, entschuldige. Ich bin Merida aus der Meerstraße 23”, antwortete die Seepferdchenlady freudig.
„Moment mal! Meerstraße? Im MEER?! Bin ich tot? Oh mein Gott!”, rief Kathie entsetzt und rannte zum Fenster.
Und tatsächlich: Die Umgebung war aus Wasser! Fische, Seepferdchen, ja sogar Haie, Rochen und andere Tiere schwammen in größerer Menge herum, vereinzelte Zweibeiner ‚schwebten’ in durchsichtigen Luftbläschen umher.
„Nein!”, lachte Merida, „Du bist nicht tot. Du warst wohl noch nie mit deinen Eltern hier, oder?”
„Nein, wohl eher nicht …”, antwortete Kathie und blickte fasziniert nach draußen.
„Möchtest du vielleicht eine Miesmuschel-Suppe mit köstlichen Algen?”, fragte Merida.
Kathie dachte nach. Merida war ja nett … Aber Kathie musste die anderen suchen! Merida dachte, sie würde hier mit ihren Eltern leben. Ja! Das war es!
„Ich muss leider los. Meine Eltern warten sicher schon auf mich”, log Kathie. Sie fühlte sich echt schlecht, Merida anzulügen. „Aber ein anderes Mal, versprochen!”, fügte sie hinzu. Und das meinte sie auch so.
„Okay, alles gut! Kann ich verstehen”, erwiderte Merida und brachte Kathie noch zur Tür.
Doch als Merida die Tür öffnete, blieb Kathie stehen. „Aber da ist Wasser! Ich kann da nicht rausgehen! Ich würde ertrinken!”, meinte sie.
„Nein, nein! Ertrinken kannst du nicht, das können nur nor…”, erklärte Merida, aber ihre letzten Worte wurden von einem Gemüsehändler unterbrochen, der seine Ware direkt vor dem Haus ankündigte.
„Okay, vielen Dank für alles. Ähm, Sie haben nicht zufällig fünf Kinder hier gesehen? Alle etwa um die 1,50-1,60?”, fragte sie noch schnell hinterher.
„Bitte, und leider nein, tut mir leid!”, meinte Merida nur.
Kathie nickte und ging die Straße entlang. Plötzlich vibrierte die gesamte Unterwasserwelt, sodass Kathie hinfiel.
„Schnell! Haus Nummer 20 ist eingestürzt! Wir brauchen Hilfe!”, rief ein Hai.
Kathie zögerte keine Sekunde und rannte in die Richtung, in die der Hai zeigte. Zumindest versuchte sie es. Denn laufend kam sie im Wasser kaum vorwärts. „Echt jetzt?”, fragte sie genervt und schwamm stattdessen so schnell sie konnte dorthin. An der Nummer 20 angekommen ließ sie sich langsam wieder auf den Grund zurücksinken, wo sich bereits eine kleine Tiertraube gebildet hatte. So langsam habe ich den Dreh raus!, dachte sie.
„Mein Kind und meine Frau sind da drin!”, rief ein Mensch. (Konnte man jemanden, der unter Wasser wohnte und dort wie ein Mensch atmete, Mensch nennen?).
Kathie konnte sich später nicht mehr erinnern, warum, aber sie schwamm einfach in das zerstörte, immer noch einsturzgefährdete Haus. Von irgendwo anders hörte sie noch erschreckte Rufe, doch das interessierte sie nicht mehr.
„Hallo? Können Sie mich hören? Bitte antworten Sie mir!”, brüllte Kathie und war sich sicher, morgen heiser zu sein.
„Hier!”, kam eine schwache Stimme von ganz hinten.
Kathie paddelte schnell, schneller und dann sah sie die zwei: Die Mutter hatte sich den Fuß eingeklemmt, und die Tochter war noch ein Baby und saß unter einem Tisch. Als es Kathie sah, begann es zu schreien.
„Also, Bell bin ich nicht, aber die alte Schrumpelhexe auch nicht!”, murmelte Kathie. Eilig ging sie zu der Mutter und versuchte, den Stein von ihrem Fuß zu heben.
„Warte! Bitte! Bring erst Elinor raus! Ich kann warten, aber wenn sie jetzt unter dem Tisch hervorkrabbelt und etwas auf sie fällt … Das wäre unverzeihlich!”, rief sie Kathie zu. „Der Stein ist außerdem zu schwer für dich!”
„Ich werde wiederkommen!”, versprach Kathie. Dann schnappte sie sich Elinor (die sie trat und schlug, aber das war Kathie egal).
Als sie draußen waren, rief Kathie: „Ich brauche Verstärkung! Alleine werde ich das nicht schaffen!”
Eilig drückte sie dem Vater Elinor in die Hände und sah sich um. Keiner machte Anstalten, ihr zu folgen, und der Vater stand noch unter Schock.
„Dann halt nicht!”, rief Kathie und schwamm zurück ins Haus.
Auf dem Weg in das ehemalige Wohnzimmer suchte sie nach irgendeinem Gegenstand, der ihr helfen könnte, die Mutter zu befreien. Doch sie fand nichts. Egal! Sie versuchte mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte, den Stein anzuheben. Doch es tat sich nichts. Plötzlich hörte sie eine Stimme.
„Schnell! Das Haus stürzt gleich komplett ein!”, rief ein Mann.
Gemeinsam schafften sie es, den Stein anzuheben und die Frau zu befreien, und eilten zu dritt hinaus. Und genau in dem Augenblick, als Kathie über die Türschwelle nach draußen trat, brach das Haus komplett ein.
Alle atmeten durch ihre Lungen beziehungsweise Kiemen auf und applaudierten Kathie. Es war ihr sehr unangenehm, und deshalb stellte sie nur noch sicher, dass die Frau zu ihrem Mann und der Tochter kam, verabschiedete sich dann schnell von allen und verschwand in eine Seitenstraße.
Gerade als sie aufatmen wollte, hörte sie eine dunkle Stimme. „Dreh dich um, das ist ein Befehl des Königs!”
„Ich hasse diese Welt!”, murmelte Kathie und drehte sich mit einem übertriebenen Lächeln um. „Ja, wie kann ich Ihnen helfen?”, fragte sie mit zuckersüßer Stimme.
Vor ihr stand ein Soldat wie aus der Römerzeit, allerdings hatte er einen Helm, auf dem oben eine Art Schlüssel thronte. Über der Stirn war ein Wassertropfen in den Helm eingraviert. Ach ja! Sie war ja in der WASSERwelt!
„Bist du ein Mensch?“, fragte er.
„Und wenn ich es wäre?”, fragte sie zurück.
„Bist du es oder nicht? Der König Turti Ness erlaubt keine Scherze und erst recht keine Menschen!”, erwiderte der Soldat.
König Turti Ness! Ein komischer Name. Ob er wohl eine Schildkröte war?
„Komm mit!“, schrie der Soldat. „Das ist ein Befehl des Königs!“
„Ähm … Doof ist nur, dass ich los muss! Abendessen. Mum und Dad machen sich sicher Sorgen! Also Tschüss!”, sagte Kathie und wollte gehen.
„Komm mit! Das ist ein Befehl des Königs!”, wiederholte der Soldat.
„Okay, das habe ich mittlerweile verstanden. Müssen Sie nicht noch ein drittes Mal sagen!”, meinte Kathie.
„Es tut mir leid, aber du MUSST mitkommen!”, meinte der Soldat wieder. „Wenn du mir bitte folgen würdest?”, sagte er und bewegte sich auf sie zu.
Kathie dachte nach. Vielleicht könnte sie so tun, als ob sie ihm folgen würde, dann jedoch in eine Seitenstraße abbiegen? Könnte klappen!
„Okay, gehen … oder vielmehr schwimmen Sie vor!”, sagte sie und folgte ihm auch kurz. Dann paddelte sie einfach weg. Doch sie schwamm direkt in die Arme eines anderen Soldaten. „Oh scheiße!”, murmelte sie und wurde abgeführt.
Sie schwammen schweigend bis zu einem eindrucksvollen Palast. Doch statt den Vordereingang zu nehmen, schwammen sie durch einen Hintereingang. Na toll!, dachte Kathie sich, nicht mal durch den Haupteingang gehen wir! Da fühlt man sich ja erst recht willkommen! Dann öffnete einer der Soldaten die Tür. Dahinter führte eine Treppe hinab in einen Keller. Da Kathie keine andere Wahl hatte, stieg sie die Treppe hinunter. Sie kam an gefühlt Millionen Gefängniszellen vorbei, und weiter vorne brannte tatsächlich Licht! Als sie an den einigermaßen gut beleuchteten Zellen vorbeikamen, erkannte Kathie in einer davon ihren Vater. Noch bevor sie darüber nachdenken konnte, schlossen die Soldaten die Zelle auf und bedeuteten Kathie hineinzugehen. Sie stürmte hinein und umarmte unter Tränen ihren Vater.
„Kathie!”, rief dieser.
„Dad!”, rief Kathie. „Was ist das alles hier? Warum bin ich in dieser Stadt unter Wasser nicht ertrunken?”
Ihr Vater wurde ernst. „Kathie, du hättest nicht herkommen dürfen! Es ist hier sehr gefährlich! Nach drei Stunden in Turtines wärst du gestorben. Diese Zelle hier ist einer der Sauerstoffzellen, die König Turti Ness extra für Menschen aus unserer Welt hat bauen lassen. Du hast Glück, dass die Wachen dich gefunden haben!”, ermahnte er Kathie.
„Aber das weiß ich doch schon längst! DU hast mir einiges zu erklären Papa! Mum macht sich große Sorgen und …”, begann Kathie, doch ein Soldat betrat die Zelle und bedeutete ihr mitzukommen. Hinter ihm erkannte sie Josy, Lea und Alina. Schweigend folgten die vier Mädchen den Soldaten.
Kapitel 35: Arlo Ness
„Du, mein Enkel Arlo Ness, willst also als deinen Ort die Lippe?“ Mein Großvater schaute mich fragend an. Sein Schnurrbart zuckte, was mir sagte, dass es ihm schnurz war. Ihn interessierte meine Angelegenheit ein Schwein. Doch dies wiederum interessierte mich nicht.
Also antwortete ich: „Ja, genau! Dort fühle ich mich rundum wohl!!!“
PLÖTZLICH riss jemand die Tür auf, und mehrere Wachen marschierten in den Saal. Im Schlepptau hatte sie vier Kinder, die sich ängstlich umschauten und … Eine unter ihnen kam mir seltsam bekannt vor. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es war Alina!!! Oh nein! Sie und ihre Freunde wurden also entdeckt! Ich musste ihnen helfen. Doch wie? Da kam ich auf eine Idee.
„Duuuuuuuuu, Opa? Du willst doch, dass ich irgendwann einmal der Herrscher von Turtines werde, oder?“
Verwirrt starrte er mich an. „Ja, natürlich … ABER was tut das jetzt zur Sache? Ich habe vier Menschenkinder aus der anderen Welt zu verurteilen, wie du siehst!!!!!!!! Und wie duuuuuu weißt, ist dies meine liebste Beschäftigung und!, ich habe bis jetzt noch jeden verurteilt.“ Er grinste fies.
Ich verdrehte genervt die Augen. „Okay!!! Dann beantrage ich hiermit, dass du diese netten Kinder dort freilässt, weil ich sonst meinen Dienst als Herrscher nicht antreten werde. Dann wird König Triton, Herrscher der Himmelswelt, meinen Platz als Herrscher von Turtines einnehmen, und du wirst dann unadelig sein bis an dein unendliches Ende.“
Warum ich das in dem Moment sagte? Na, weil mein Großvater viel zu eitel ist, um zuzugeben, dass er aus einer nicht-adeligen Familie kommt und nur durch einen Zufall Thronfolger des letzten Herrschers von Turtines geworden ist. Ein Zufall, den ich vielleicht einmal an anderer Stelle näher erläutern werde. Also war ich mir sicher, dass diese Idee die beste war, auf die ich je gekommen war.
Mein Opa sah mich verdattert an. Das sah komisch aus, denn ich hatte diesen Gesichtsausdruck an ihm noch nie gesehen. Aber das war ein gutes Zeichen. Er erhob sich und schüttelte enttäuscht den Kopf: „Ich dachte wirklich, du wärst ein verantwortungsbewusstes Seeungeheuer geworden. Aber wie es aussieht, musst du noch sehr viel lernen … Wachen!!! Lasst sie frei.“
Eins der Mädchen trat vor. Ich sah ihr die Angst an. Trotzdem erhob sie die Stimme und sagte: „Bitte lassen Sie auch meinen Vater gehen! Robert Bradwell.“
Kapitel 36: Kathie
„Also, was genau machst du eigentlich in Turtines?“, fragte Kathie Robert, kaum dass die beiden den Palast verlassen hatten.
„Okay, wir fangen ganz vorne an. Diese Welt, Turtines, wie die Einheimischen sie nennen, oder alium se orbem terrarum, wie meine Forscherkollegen und ich sie genannt haben, existiert schon sehr, sehr lange. Man kann nicht genau sagen, seit wann. Meine Kollegen Lara, Simon, Maike und ich haben sie wie ihr durch Zufall entdeckt. Wir wollten sie erforschen. Peter, der aus alium se orbem terrarum kam, unterstützte uns bei der Forschung. Denn auch für die Einheimischen gibt diese Welt noch viele Rätsel auf. Allerdings hatte König Turti Ness Angst, wir würden anderen Menschen von seiner Welt erzählen, oder sie gar zerstören. Ich war da schon in England, aber hatte durch Peter davon gehört. Was kaum jemand vorher ahnte, war, dass Turti Ness vor einem Jahr von einem Tag auf den anderen alle Eingänge zu seiner Welt schließen ließ. Da Peter bereits vermutet hatte, dass dieser Fall eintreten würde, schrieb er mir einen Brief, worin er erklärte, er würde den Schlüssel für seinen Eingang nach alium se orbem terrarum verstecken. Wo schrieb er allerdings nicht. Wahrscheinlich, weil er Angst hatte, der Brief könnte in falsche Hände geraten. Ich vermutete, dass er den Schlüssel bei seinen Kindern verstecken würde. Als ich vor ungefähr einem Jahr nichts mehr von Peter hörte, beschloss ich, nach Dorsten zurückzukehren und selbst nachzusehen, was mit Peter war. Natürlich hatte ich Angst, dass er es nicht rechtzeitig zurück in seine Welt geschafft hätte. Denn für die Menschen aus alium se orbem terrarum gilt auch umgekehrt: Sie können in unserer Welt nur drei Stunden überleben. Als wir an dem Morgen dann bei Maria waren, wurde mir klar: Ich muss Peter finden. Also habe ich mich verzogen und den Schlüssel gesucht”, erzählte er.
„Dann warst du es also, der Leas Zimmer komplett auf den Kopf gestellt hat! Und ich wurde dafür beschuldigt!”, meinte Kathie empört.
„Vielleicht … Ja … Mag sein! Es tut mir auch leid, ehrlich! Aber was hättest du an meiner Stelle getan?”, fragte Robert und sah Kathie ernst an.
Vermutlich das gleiche, dachte Kathie sich.
„Und dann bin ich mit meiner Ausrüstung hierhin aufgebrochen. Ich habe in der Nähe von Peters altem Haus Simon angetroffen und erfahren, dass Peter lebt. Er war gerade unterwegs, und ich wollte nicht im Haus auf ihn warten. Deshalb bin ich mit Simon los und … Ich … Ich wurde von den Wachen des Königs erwischt. Das war’s”, beendete er seinen Bericht.
„Simon ist nicht zufällig der Vater von Joe?“, fragte Kathie.
„Doch“, sagte Robert. „Aber woher kennst du …?“
„Ah ja!”, meinte Kathie stocksauer. „Und mit dem Mord an Joes Vater hast du nicht zufällig zu tun, oder was?!”
„Also …”, begann Robert peinlich berührt, schwieg dann aber.
„Du bist also ein MÖRDER?!”, rief Kathie entsetzt.
„Es war ein Unfall!”, verteidigte Robert sich. „Ich war schon immer eifersüchtig auf Simon, weil er der beste Forscher von uns war! Ich wollte, dass er in unsere Welt zurückgeht! Deshalb habe ich seine Ausrüstung manipuliert, als wir gestern zusammen unterwegs waren. Doch der Sauerstoff hat nicht mehr ausgereicht …“
„Ach so, und dann schmeißt man die Leiche in die Lippe und lässt sie von dem Sohn des Toten finden! Ja klasse! Das hast du ja ganz toll hinbekommen! Und wahrscheinlich vergiftest du als nächstes Marias Kaffee und versteckst dich dann wieder hier, oder was?!”, brüllte Kathie ihren Vater an und schnappte nach Luft.
„Es war ein Unfall“, sagte Robert noch mal.
Plötzlich tat er Kathie leid. Es war ihm anzusehen, wie sehr der Tod seines alten Freundes und Forscherkollegen ihm zusetzte.
„Und wie gelangte die Leiche dann in die Lippe?”, fragte die immer noch enttäuschte Kathie.
„Wenn jemand aus unserer Welt hier stirbt, wird sein Körper automatisch in die unsere Welt zurückgebracht”, erklärte Robert ihr. „Und jetzt komm, wir sollten alium se orbem terrarum verlassen, ehe Turti Ness es sich noch anders überlegt.“
Kapitel 37: Josy
„Bitte, wir müssen wissen, wo Peter Lens wohnt. Er ist unser Vater, und es ist wirklich wichtig!“
Seit geschlagenen zehn Minuten versuchten Lea und ich den Oberherrscher von Turtines zu überreden, uns zu sagen, wo unser Vater lebte.
Doch auf einmal verstummte Lea und ein großes hinterlistiges Grinsen breitete sich in ihrem Gesicht aus. Ich redete weiter auf Turti Ness ein, während Lea anfing, mich unauffällig zu treten. Erst ließ ich mich davon nicht beirren, aber dann trat sie immer härter. Alina hatte das jetzt auch bemerkt, und als sie mein schmerzverzerrtes Gesicht sah, konnte sie sich ein Lachen kaum verkneifen. Alina findet, dass ich süß und lustig aussehe, wenn ich versuche, böse zu gucken. Ich hab keine Ahnung wieso sie das denkt, aber es stimmt definitiv nicht. Zumindest nicht mehr. Ich habe meinen bösen Blick nämlich vor dem Spiegel geübt, und ich finde, ich sehe sehr furchteinflößend aus.
Jetzt machte Lea das Schlimmste, was sie hätte tun können. Sie sagte: „In Ordnung, wir wollen Sie nicht weiter belästigen, Herr Ness. Danke für Ihre Zeit und Ihr gnädiges Urteil. Tschüss.“
Wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt Einzelkind! Ich war so verdattert, dass ich erst verstand, was passiert war, während Lea mich schon aus dem Saal schleifte. So würde ich nie mein perfektes Film-Happy-End bekommen.
Kapitel 38: Lea
Als sie den Thronsaal verließen, flüsterte Lea: „Ich weiß jetzt, wo unser Vater ist. Wir müssen in die Erdwelt.“
„Woher …“, setzte Alina an. Unterbrach sich dann aber selbst. „Du hast die Gedanken von Turti Ness gelesen!“
Lea führte Josy und Alina durch einen Tunnel. Als sie rauskamen, gelangten sie in die Erdwelt. Dort steuerte Lea geradewegs auf eines der ersten Häuser zu und blieb vor der Tür stehen.
Josy fragte: „Bist du dir ganz sicher?“
Lea nickte, und Josy klingelte an.
Die Tür wurde geöffnet, und vor ihnen stand ein Mann. Lea und Josy rissen ungläubig die Augen auf und schrien wie aus einem Mund: „Papa??!“
Als Peter seine beiden Mädchen erkannte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und eine Sekunde später fielen sie sich in die Arme.
„Mein Gott, wie habt ihr mich gefunden?“, fragte er.
„Das ist eine lange Geschichte“, sagte Lea.
„Na, dann kommt erst mal rein“, lud Peter alle in sein Haus ein, und bei Kakao und Keksen erzählten sie ihm die ganze Geschichte.
Als sie zu Ende erzählt hatten, seufzte Peter: „Ach, Robert, mein alter Freund.“
Josy fragte vorsichtig: „Was ist denn damals zwischen dir und Robert passiert?“
„Also, das war so. Nach ein paar Jahren der Forschung wollte Robert nicht mehr weitermachen und lieber nach England zu seiner neuen Freundin ziehen. Aber einer musste das Forschungsprojekt zu Ende führen, deshalb entschied ich mich, noch zu bleiben. Ich komme ursprünglich aus Turtines, auch wenn ich euch das nie erzählt habe. Ich wollte es euch erzählen, wenn ihr älter seid. Aber dann wurden plötzlich die Tore von Turtines geschlossen, und ich kam hier nicht mehr raus und konnte euch keine Nachricht zukommenlassen. Ich war vollkommen verzweifelt.“
„Wow, das hört sich furchtbar an“, sagte Lea.
„Das war es auch. Ich habe euch so sehr vermisst. Ständig musste ich an euch denken. Ich hatte nur einige wenige Bilder von euch.“ Er zeigte Lea und Josy alte Fotos von ihnen, an die sie sich kaum noch erinnern konnten.
„Und ich hatte schon gedacht, diese Fotos gibt es gar nicht mehr“, sagte Lea.
„Ich musste mir doch ein paar Erinnerungen an euch mitnehmen.“
Er tat Lea und Josy so sehr leid.
„Aber bald können wir vielleicht wieder eine ganz normale Familie sein. Mit Mama“, sagte er lächelnd.
„Hast du noch ein bisschen Kakao?“, fragte Josy.
„Ja, klar. Du bist so wie ich. Ich mag auch Kakao“, sagte Peter.
„Wir haben dich so doll vermisst all die Monate“, sagte Lea.
„Und ich euch erst“, sagte Peter mit Tränen in den Augen.
Sie fielen sich erneut in die Arme. Dann schlürften Josy und Peter ihren Kakao. Die beiden Schwestern waren einfach nur froh, dass sie ihren Vater wiederhatten.
Alina hatte die ganze Zeit still dabei gesessen. Lea blickte die Freundin nun an und sagte: „Nein, mach dir keine Gedanken. Du störst nicht.“
Peter schaute seine Tochter erstaunt an. „Du kannst Gedanken lesen?“
Lea nickte.
„Genau wie ich“, sagte ihr Vater lächelnd. „Es fließt eben auch turtinesisches Blut in deinen Adern.“
Kapitel 39: Alina
Für heute hatte Joe uns zu einem Picknick an der Lippe eingeladen. Er wollte uns dort etwas Wichtiges erzählen und mit uns feiern. Er hatte mir geschrieben, ob ich vielleicht Essen mitbringen könnte. Josy kümmerte sich um Decken. Lea besorgte Getränke. Und Joe würde seine Überraschung mitbringen. Natürlich würde auch Lukas zum Picknick kommen.
Gespannt auf die Überraschung packte ich das Essen ein und machte mich auf den Weg. Nach ein paar Minuten war ich da. Die Zwillinge Josy und Lea warteten schon. Dann kam Joe mit einer Frau, die ihm sehr ähnlich sah. Als sie vor uns standen, stellte Joe sie uns als seine Mutter vor.
Ich umarmte ihn und sagte: „Oh, du hast deine Mutter gefunden.“
Er antwortete freudig: „Ja.“
Dann kam auch Lukas.
Wir aßen und tranken die mitgebrachten Sachen, als plötzlich ein mir bekannter Kopf aus dem Wasser auftauchte. Es war Arlo.
Ich sagte: „Schaut mal da, das ist Arlo Ness. Ich habe ihn gestern kennengelernt.“
„Hallo, Alina”, sagte er und winkte mir mit seiner Flosse.
Ich fragte: „Was machst du denn hier?“
„Ich wollte ein bisschen schwimmen gehen und habe dich durch Zufall am Ufer gesehen.“
Ich stellte Arlo meine Freunde vor, und wir warfen ihm die Reste vom Essen zu. Ich war voller Freude, den Tag mit meinen Freunden zu verbringen.
Dann sagte Arlo: „Ich habe noch eine Überraschung für euch. Von Turti Ness, meinem Großvater, dem Herrscher von Turtines.“
Kapitel 40: Arlo Ness
Alina und ihre Freunde saßen alle beisammen beim Picknick an der Lippe, als ich aus dem Wasser stieg und ihnen die frohe Botschaft übermittelte, dass sie alle einen Besucherpass für Turtines ausgestellt bekämen, um zwischen den Welten frei hin- und herzuwechseln.
„Sooooo!!!!“, sagte ich. „Wollt ihr denn gar nicht wissen, wie ich das geschafft habe?“
Fragend schaute ich in die lachenden und nickenden Gesichter.
Also erzählte ich ihnen, wie ich es geschafft hatte: „Ihr werdet es mir nicht glauben … aber ich verwendete den gleichen Trick wie bei eurer Befreiung.“
Ich sah in die Gesichter der Kinder, die anfingen zu kichern.
Alina trat vor: „Das ist toll, Arlo. Ich freue mich riesig … Aber jetzt muss ich mich doch von dir verabschieden oder?“
Ich schüttelte lachend den Kopf. „Ich lebe jetzt hier. Mein offizieller Name lautet ab heute: Arlo Ness, das Ungeheuer aus der Lippe. Aber für euch bleibe ich einfach Arlo!“
Kapitel 41: Josy
Nach einem Monat ist endlich wieder Ruhe eingekehrt. Dad hat sich eine Sondergenehmigung von Turti Ness geholt, damit er freien Durchgang zwischen den zwei Welten hat. Dad hatte Mom alles erklärt. Er musste sie in das Geheimnis einweihen, das er so lange vor ihr verborgen hatte. Es dauerte aber ein wenig, bis sie ihm glaubte. Jetzt ist er wieder bei uns eingezogen, und wir haben einen Raum in unserem Keller mit seiner Luft befüllt. In diesem Raum arbeitet er. Dadurch, dass Dad zurück ist, muss Mom weniger arbeiten, und wir verbringen alle zusammen wieder mehr Zeit miteinander. Und Joe, Lukas, Alina, Lea, Kathie und ich treffen uns jetzt regelmäßig. Kathie und ich sind wirklich enge Freunde geworden, also lag ich mit meiner Menscheneinschätzung wohl doch falsch.
Neulich morgens um 5:45 Uhr kletterten mein Dad und ich zusammen aus dem Fenster mit Kakao und Decken. Wir quatschten über Gott und die Welt. Es fühlte sich an wie früher. Ich fühlte mich geborgen, und war einfach nur glücklich, wieder eine heile Familie zu haben. Ich ließ meine nackten Füße in die Lippe baumeln und merkte, dass etwas Hartes gegen meinen Fuß schipperte. Als ich nach unten guckte, sah ich eine bunte Flasche im Wasser treiben. Ich zog sie heraus und spähte hinein. Im Inneren der Flasche befand sich ein Brief, auf dem mein Name stand. Neugierig rollte ich den Brief auf und überflog den Text.
Liebe Josy,
ich bin’s, Rosa, dein Supereinhorn!
Ich vermisse dich hier wahnsinnig. Hoffentlich ist dein Leben jetzt wieder so perfekt, wie du es verdienst! Ich gehe nun auf die Einhorn-Mittelschule. Erst hatte ich etwas Angst, weil ich dort ja niemanden kannte, aber ich habe immer daran gedacht, wie mutig du warst, und jetzt habe ich hier Freunde gefunden. Wenn du magst, kannst du mich ja mal besuchen kommen? Ich verspreche dir, egal wo du wohnst, ich werde immer dein Einhorn bleiben!
Tschüss und hoffentlich bis bald
deine Rosa!
Seitdem führen Rosa und ich eine regelmäßige Brieffreundschaft, und ich war sie auch schon zweimal besuchen. So haben sich dann alle Dinge wieder gefügt, und ich bekam doch noch mein perfektes Film-Happy-End. Ich musste nur geduldig sein. Ob jetzt also alles so wie immer ist? Bestimmt nicht! Es ist viel besser. Und jetzt entschuldigt mich. Ich muss noch neuen Kakao kaufen gehen.
Ende Teil 1
Turtines I Krieg der Welten
Eine Dorstener Lippe-Geschichte von:
Emma Clausen
Finn Droste
Merle Gabriele Dückers
Nele Hülsmann
Zoe Langner
Dana Loup
Kilian Pieck
Levje Schmadel
Simon Woitinas
Mit Unterstützung von Sarah Meyer-Dietrich
Kapitel 1: Madeleine
Jeder stellt sich wohl irgendwann die Frage, wer er ist. Ich habe gerade erfahren, dass ich adoptiert bin. Kannst du dir das vorstellen? Wo gehöre ich jetzt hin? Mir wurde mein ganzes Leben lang verheimlicht, dass ich gar nicht wirklich zur Familie gehöre. Also, wer bin ich? Wo gehöre ich jetzt hin?
Ich habe mich noch nie so alleine gefühlt wie jetzt gerade. Ich liebe das Schreiben, dabei Musik zu hören, meine Gedanken zu sortieren und auch mal aufzustehen und einfach los zu tanzen. Ich bin gerade echt ganz zufrieden mit mir. Trotzdem scheint mich aus meiner Klasse niemand wirklich zu mögen, und wie soll man in der Welt überleben, ganz alleine?
So, und jetzt erzählen mir meine Eltern, dass vor elf Jahren eine Frau an ihrer Haustüre klingelte. Sie hatte ein kleines Baby von einem Jahr in ihren Armen liegen. Das war ich. Die Frau sei verzweifelt gewesen, sagen meine Eltern. Sie habe etwas von einem Krieg erzählt, und meinen Eltern tat sie wohl leid. Sie haben mich einfach behalten. Die Frau rannte zur Lippe. Man kann diesen Fluss von unserem Wohnzimmerfenster aus sehen. Meine Mutter, die also gar nicht meine Mutter ist, rannte hinter der Frau her, doch sie, meine richtige Mutter, sprang hinein, in die Lippe. Die Frau, die sich meine Mutter nennt, hat nach der anderen Frau gesucht, aber sie war … einfach weg.
Und jetzt sitze ich hier, an meinem Schreibtisch, klammere mich an meinen Kugelschreiber. Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Wie konnten mich meine Eltern so lange anlügen? Was, wenn das nicht das Einzige ist, was gelogen war?
Und was ist mit meiner richtigen Mutter? Wieso hat sie mich einfach zurückgelassen, ihr eigenes Kind? Ob sie jetzt tot ist? Eine schreckliche Vorstellung!
Kapitel 2: Arlo Ness
Es war schon lange her, dass ich hier gewesen war. Hier in Turtines … Seit ich das Ungeheuer aus der Lippe geworden war, hielt ich mich nur noch selten dort auf.
Es hatte sich nichts verändert. Gelangweilt tauchte ich am Seepferdchen-Schwimmverein vorbei in Richtung Palast. Ob es mir gut ging? Nein! Mir ging es an diesem Tag gar nicht gut. Ich tat einfach jeden Tag das Gleiche! Und das langweilte mich. Der Ausflug heute war mir allerdings (das musste ich zugeben) als eine sehr gelungene Abwechslung erschienen, die mich ein bisschen auf Trab gebracht hatte. Mein Großvater, der besser unter dem Namen Turti Ness bekannt war, hatte mich per Fischtelegramm gebeten, ihn doch einmal besuchen zu kommen. Ich wusste zwar, dass er mich ganz sicher nicht einfach nur herbestellt hatte, um mich zu sehen, aber ich hatte mich trotzdem sofort auf den Weg zum Portal gemacht. Und jetzt schwamm ich hier und mir war wieder todlangweilig!
In der Ferne erblickte ich schon den riesigen, prachtvollen Palast. Er kam mir bei jedem Mal größer vor als bei dem Mal davor. Ich war noch verzaubert vom wunderschönen Anblick, als plötzlich ein paar der riesigen Blubberquellen anfingen zu kochen. Die Alarmglocken des Sicherheitssystems schrillten auf. Meine Ohren waren nicht für diesen Lärm gemacht, und so tauchte ich schnell in einen der vielen Supermärkte.
Das Innere des Supermarktes war nur schwach beleuchtet. In dem kleinen Raum war sehr wenig Platz, denn die Ecken und Wände waren vollgestellt mit riesigen Regalen. Neben der Eingangstür stand ein kleiner Tresen, hinter dem ein bierbauchiger Fisch mit Schnurrbart gerade seine Einnahmen zählte.
Als er mich sah, machte er große Augen. „Arlo? Ja, du bist es! Bist wohl immer noch so ein kleiner Hosenschisser! So wie früher.“
Ich verstand zuerst gar nicht, was dieser Fisch von mir wollte. Ich kannte ihn nicht! Aber dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. In meiner Kindheit hatte ich in der Schule wenige Freunde gehabt, und eine der Personen, die ich zu meinen besten Freunden gemacht hatte, war Jerry gewesen. Jerry, der Große. So hatten wir ihn auf der High-School immer genannt. In der Grundschule waren wir schon die besten Freunde gewesen. Wir waren unzertrennlich. Wir hatten eine Freundschaft wie im Märchen gehabt, und wir hatten uns fest vorgenommen, irgendwann mal aufs gleiche College zu gehen und in eine WG zu ziehen. Aber diese WG wurde, als sie in die Tat umgesetzt worden war, zur Hölle. Jerry war einer, den man mit leichtesten Tricks zu allem überreden konnte, und das machte ihn verletzlich. Eines Nachts kam er erst sehr spät zurück in die WG und er war sturzbetrunken. Dann, ein anderes Mal, hatte er seine Kumpels mitgebracht und bei uns in der WG sein Unwesen getrieben. Das war die Zeit, in der wir uns immer weiter voneinander entfernten. Ich hatte mich von ihm verraten gefühlt. Nach dem College hatten wir uns dann völlig aus den Augen verloren.
„JERRY“, nuschelte ich betrübt.
„Ja, ich bin es. Freust du dich denn gar nicht?“ Er machte eine übertriebene Verbeugung.
Diesen Schleimbeutel ertrug ich nicht mehr. Mit rotem Gesicht verließ ich den Laden sofort. Jerry rief mir noch etwas Unverständliches nach. Aber eines wusste ich, es war nichts Nettes …
Kapitel 3: Liam
Nachdem Liam mit seinem Vater und seiner Mutter endlich alles ausgepackt hatte, brauchte er frische Luft. Also rief er seinem Vater, der noch Dinge für seinen neuen Job organisieren musste, zu, dass er mal frische Luft schnappen müsse, und zog dann die Tür hinter sich zu. In Liams alter Heimat, El Yagual in Venezuela, hatte sein Vater einen Job als Ranger in einem Nationalpark, der in der Nähe ihres Hauses lag, gehabt. Deshalb waren die beiden oft einfach in die Natur gewandert und hatten zusammen sehr spaßige und lehrreiche Wochenenden verbracht. Nun würde Liams Vater aber wahrscheinlich erst mal viele Dinge für seinen neuen Job organisieren müssen, bevor sie wieder mit so etwas anfangen könnten. Also ging Liam die Gegend erkundend allein in den Wald. Es gab viele Unterschiede zu der Umgebung in seiner alten Heimat. Deshalb war er ganz gespannt, was ihn so erwartete.
Kapitel 4: Arlo Ness
Ich war froh, nach diesem Rückblick in meine Kindheit und Jugend wieder in der Gegenwart zu sein. Ich saß am Ende der riesigen Tafel und Turti Ness berichtete mir gerade, warum er mich so dringend sehen wollte. Natürlich hatte ich Recht behalten – er hatte eine Aufgabe für mich.
„Also, mein Enkelsohn … Du willst bestimmt wissen, warum ich dich per Fischtelegramm hergerufen habe. Na ganz einfach, ich habe …“, er machte eine wirkungsvolle Pause, „… eine sehr wichtige Aufgabe für dich. Du wirst heute anstelle von zwei meiner Wachen am Wasserportal Wache halten.“ Erwartungsvoll sah er mich an.
Was erwartete er? Dass ich vor unbändiger Freude in die Luft sprang (was, davon abgesehen, dass mir nicht danach war, unter Wasser gar nicht ging)? Er stand dann aber nach ein paar stillen Minuten auf und ging. Verdattert sah ich ihm nach. Er hatte wirklich einen an der Latte. Nach wenigen weiteren Sekunden kam er mit einer knallblauen Uniform zurück, und ich ahnte nichts Gutes.
Kapitel 5: Madeleine
Es ist Nachmittag.
Ich brauche meine Ruhe, muss nachdenken.
Es ist einfach alles zu viel im Moment. Ich erfahre, dass ich adoptiert bin, alle scheinen mich zu hassen und dann ist da ja auch noch die Schule. Wie halten die anderen das aus?
Ich setze mich wie so oft an das Ufer der Lippe. Mit den Füßen im Wasser baumelnd beobachte ich die glitzernde Wasseroberfläche des Flusses und lasse meinen Gedanken freien Lauf: Wie schön es ist, das Wasser. So schön und kraftvoll. Es strahlt Ruhe und Gelassenheit aus und zählt doch zu den wildesten Naturkräften. Es besitzt große Macht.
Wieso kann ich nicht sein wie Wasser? Ich bin nie stark und zerbreche fast an der Tatsache, dass ich nicht zu der Familie gehöre, bei der ich aufgewachsen bin, und von meiner Mutter zurückgelassen wurde. Wieso wollte sie mich nicht? Und was, wenn sie tot ist? Dann kann ich sie das gar nicht mehr fragen.
Kapitel 6: Arlo Ness
Es war todeslangweilig. Nur ab und zu schwammen ein paar verwirrte Fische am Portal vorbei, die ich allerdings angewiesen hatte, nicht zu nah heranzuschwimmen. Niemand aus der anderen Welt durfte einfach so nach Turtines. Nicht einmal die Fische. Man brauchte einen Passierschein, um durch die Lippe in diese Parallelwelt zu gelangen, aus der auch ich ursprünglich stammte. Die Uniform, die mein Großvater mir angedreht hatte, juckte tierisch, und ich musste mich andauernd kratzen. Gelangweilt schaute ich ins Portal.
Hinter dem bläulich-rosa schimmernden luftigen Vorhang erkannte man, wenn man genau hinsah, bunte Fische, wunderschöne Korallen und sogar Delfine und Seeigel. Konzentriert starrte ich weiter vor mich hin, als ich auf einmal einen leicht orangefarbenen Schimmer hinter einem der vielen Felsen entdeckte. Angespannt schwamm ich auf den eher kleinen als großen Felsen zu.
Kapitel 7: Chrispi
Pfeilschnell tauchte ich durchs Korallenriff. Um mich herum erkannte ich nur noch einzelne Schemen, die mir ängstlich auswichen. Mir konnte es egal sein. In der Ferne erkannte ich schon das Ende des Portals in die Wasserwelt von Turtines. Ich wurde etwas langsamer. Aufmerksam steckte ich meinen Kopf aus der Portalöffnung und sah mich misstrauisch um. Vor dem Portal stand nur eine einzelne Wache, die sich nervös am Rücken kratzte und vor sich hin fluchte. Ich grinste schadenfroh. Die machten es mir heute ja leicht. Ich ging gerade meiner Lieblingsbeschäftigung nach. Heimlich durch alle möglichen Portale tauchen und sich möglichst nicht erwischen lassen. Nun schwamm ich langsam hinter einen großen Felsen weiter hinten und duckte mich schnell, als sich die Wache plötzlich umdrehte. Angespannt hielt ich den Atem an. Ich wagte es nicht, meinen Kopf hinter dem Stein hervorzuheben, um zu sehen, ob die Wache mich gesehen hatte. Aber das brauchte ich auch gar nicht …
Kapitel 8: Madeleine
„Schnatterattat, tattat“, reißt mich eine Ente aus meinen Gedanken.
Was für ein Schreck! Ich fuchtle wild mit den Armen herum, doch es ist schon zu spät. Ich plumpse mit einem lauten „Platsch“ in die Lippe hinein. Na toll, immer muss mir so etwas passieren! Vor lauter Wasserbläschen kann ich zunächst kaum etwas sehen. Doch als meine Sicht sich wieder klärt, bemerke ich … nichts. Ich habe kein Bedürfnis, Luft zu holen, und kann frei atmen. Viele Gedanken schwirren mir im Kopf herum: Was ist das hier? Was tue ich, und wieso fühlt sich das so gut an? Ich fühle mich … frei, geborgen, sicher. Ich schwebe! Wie kann das sein? So was hatte ich noch nie. Unglaublich!
Erfüllt von Glücksgefühlen beginne ich mich zu bewegen. Komischerweise bewegt sich nicht nur mein Körper, sondern auch das Wasser um mich herum. Ich bewege das Wasser. Und das nicht so, wie man das im Schwimmunterricht lernt. Gerade forme ich einen Delfin, ist ganz einfach.
Es ist ein verrücktes und doch seltsam vertrautes Gefühl, einfach nur komplett surreal, doch es gefällt mir.
Als ich gerade aufhöre, mit allen möglichen Formen zu experimentieren, fällt mir etwas Seltsames auf. Da ist so ein funkelndes Licht im Hintergrund. Geheimnisvoll vertraut. Das beschreibt mein Gefühl beim Anblick des Lichts wohl am besten. Vorsichtig nähere ich mich dem Licht und erkenne einen Riss in der Felswand und ein darüber liegendes Symbol. Es ist ein Kringel, und es zählt zu der Art Symbol, die man sonst nur in Filmen zu sehen bekommt. Es sieht allerdings nicht aus wie ein Schriftzeichen, schwer zu beschreiben.
Gerade habe ich es kurz berührt, da macht sich plötzlich ein lautes Krachen bemerkbar. Die Felswand öffnet sich! Wo bin ich denn jetzt gelandet? Will ich das? Hier ist auch überall Wasser, und hinter mir scheint ein Wasserfall aus der Luft zu entstehen. Bin ich jetzt völlig verrückt geworden? Hier sind Haie, Rochen, Seepferdchen und da hinten scheinen auch ein paar normale Leute zu sein, die allerdings … in Luftblasen schweben? Ich bin wirklich verrückt geworden … oder schon tot? Und was ist das? Ist das eine Schildkröte? Will die etwa zu mir? Was mache ich jetzt? Abhauen? Ich hoffe, es ist wenigstens eine Schildkröte der netteren Sorte …
Kapitel 9: Liam
Nachdem Liam ungefähr eineinhalb Stunden herumgezogen war, wollte er im Fluss tauchen gehen. Weil er nicht so gut die Luft anhalten konnte, rannte er zurück zum Haus, das zum Glück nicht so weit entfernt war, da er sich eigentlich schon auf dem Rückweg befunden hatte, und holte seinen Taucheranzug. Den Anzug unter den Arm geklemmt ging er zurück zum Fluss und zog ihn sich an.
Dann entdeckte er ein Stück den Fluss hinauf ein Mädchen. Es hatte knallrote Haare und eine kurze Hose und ein lilafarbenes T-Shirt an. Plötzlich erschreckte es sich vor einer Ente und fiel ins Wasser … und tauchte nicht mehr auf. Liam bekam Panik. War sie ertrunken oder hatte sich verletzt? Kurzerhand sprang er in den Fluss und schwamm auf die Stelle zu, an der er das Mädchen zuletzt gesehen hatte. Zuerst fand er sie nicht und fragte sich, ob sie wohl ertrunken und ihre Leiche schon weggespült worden war. Schließlich entdeckte er das Mädchen aber zum Glück ein Stück weiter, wie sie durch einen Durchgang verschwand.
Jetzt wurde Liam neugierig: Was war das für ein Durchgang? Lag dahinter wohl eine geheime Höhle oder so? Also schwamm er hinterher. Hinter dem Durchgang lag aber keine Höhle. ES WAR EINE VÖLLIG ANDERE LANDSCHAFT!!! Oder vielleicht sogar eine andere Welt … Überall war Wasser und die Häuser befanden sich in riesigen Luftblasen. Liam konnte es gar nicht fassen.
Nachdem er sich eine Weile sortiert hatte, entdeckte er das rothaarige Mädchen, das auf den Boden zusteuerte. Aber Liam war zu neugierig, um ihr hinterher zu schwimmen. Er wollte erst mal erfahren, was das hier alles war. Also schwamm er einfach geradeaus.
Kapitel 10: Arlo Ness
Hinter dem Stein kauerte ein junges Seeungeheuermädchen. Sie sah mich mit hellgrünen Augen frech an. Sie hatte so einen Ausdruck in den leuchtenden Augen, der mich zum Stottern brachte.
„Hi … Äömmmmmmm … Könntest du vielleicht … Also … Könntest du vielleicht ein wenig weiter weg vom Portal schwimmen? Dieses Portal ist für Fische und Lebewesen aller Art, die KEINE Lizenz haben, strengstens untersagt.“
Das Seeungeheuermädchen sah mich beschämt an. „Ähmmmm … Ja, na klar kann ich das. Tut mir schrecklich leid. Ich hoffe, ich habe keine … na ja … keine Umstände gemacht … Na dann schwimm ich mal weiter … Ja, das werde ich dann mal tun.“
Doch kurz bevor das merkwürdige Mädchen hinter einem der Felsen verschwand, rief ich ihr ohne zu überlegen nach: „Und wenn du mal Zeit hättest … Ich hätte Lust, dich besser kennenzulernen … Also … vielleicht dann heute? Also dann bis gleich …“
Kapitel 11: Madeleine
„Hi. Was machst du denn hier? Habe dich noch nie hier in der Wasserwelt gesehen. Ich bin Schildti übrigens“, sagt die komischerweise echt süß aussehende kleine Schildkröte, die jetzt schließlich bei mir angekommen ist.
Was, die kann reden? Was sag ich denn jetzt? Ääääähhhh … „Hallo, ich bin Madeleine. Was ist das denn hier so? Was ist eine Wasserwelt?“, antworte ich nach reiflichem Überlegen.
Schildti entgegnet erfreut: „Ach, eine von denen bist du also. Habe noch nie einen richtigen Menschen kennengelernt. Ich kann dir hier alles zeigen und erklären. Seit der Geburt von diesem Mädchen habe ich niemanden mehr, zu dem ich gehöre.“
Ich wundere mich und mir fällt auf, dass wir da was gemeinsam haben. Ich habe ja auch niemanden mehr so wirklich. Meinen Adoptiveltern kann ich gerade nicht vertrauen. Ich frage mich auch, von wem Schildti spricht.
„Was denn für ein Mädchen?“, hake ich nach.
„Das ist eine lange Geschichte. Früher regierte hier die große Herrscherin Königin Mareike mit ihrem Mann Loch Ness. Die beiden bekamen ein kleines Mädchen. Davon wussten nur wenige, doch ich war der Geburtshelfer. Eigentlich wäre ich ihr Begleittier geworden. So was hat jeder hier. Eine Art bester Freund, der immer für dich da ist. Doch dann brach ein schrecklicher Krieg aus. Ich weiß nicht viel, hier spricht niemand mehr darüber, doch Tyson Black, der König der Erdwelt, soll etwas damit zu tun gehabt haben. Mareike brachte das kleine Mädchen in die Menschenwelt, damit sie sicher ist. Sie selbst starb im Krieg. Wie so viele, viele andere. Loch Ness, der im Namen seiner Frau nun allein weiterherrschen sollte, hat ihren Tod nie verkraftet und schwamm nach Schottland, wo er fortan als Ungeheuer von Loch Ness lebt. Er machte Turti Ness, seinen Vater, zum Herrscher, obwohl das kleine Mädchen als einzige Nachfahrin von Königin Mareike eigentlich die rechtmäßige Thronfolgerin gewesen wäre. Loch Ness hat jetzt, glaube ich, einen Sohn mit Arielle, der Meerjungfrau. Er heißt Arlo Ness und ist neuerdings das Ungeheuer der Lippe.“
Da ist die kleine Schildkröte ganz außer Atem. Ich muss mir ein lautes Lachen verkneifen und gehe stattdessen auf Schildtis Vortrag ein: „Vielleicht bin ich ja das kleine Mädchen“, meine ich also. Es ist eine seltsame Vorstellung und scherzhaft gemeint, aber … was, wenn es wirklich so ist?
„Wieso?“, reißt mich Schildti aus den Gedanken.
Ich antworte: „Na ja, ich wurde vor elf Jahren von einer Frau zu den Menschen gebracht, die mich adoptiert haben. Sie hat auch von einem Krieg gesprochen, aber das ist bestimmt nur Zufall. Das war eine Verrückte. Wer würde sein Kind schon einfach so Wildfremden in die Hand drücken?“
„Nein, das kann sein. Das hier muss eine schicksalhafte Begegnung sein. Ich bin sonst nie hier unterwegs, aber heute wollte ich einfach mal meine Ruhe haben.“ Schildti ist wohl sehr begeistert von seiner Neuentdeckung, doch ich zweifle immer noch. Das wäre ein großer Zufall, allerdings ist es schon auffallend, dass wir aus demselben Grund hier sind …
Nach einer kurzen Pause sage ich: „Wenn du meinst. Ich muss jetzt jedenfalls schnellstens wieder zurück nach Hause. Meine Eltern oder Adoptiveltern vermissen mich bestimmt schon. Wie komme ich hier wieder weg?“ Eigentlich ist mir egal, ob mich meine Adoptiveltern suchen. Ich wollte an der Lippe meine Ruhe haben und Schildti hier in der Wasserwelt ja anscheinend auch. Mir haben seine Anregungen zwar gefallen, jedoch hieße das, meine Mutter wäre tot, das will ich nicht …
„Wie schade. Leider darf ich meinem Wasserfreund keinen Wunsch ausschlagen. Du musst jetzt einfach in den Wasserfall hineinschwimmen, dann bist du wieder in der Lippe“, antwortet mir Schildti enttäuscht.
„Danke für deine Hilfe“, verabschiede ich mich, „und die nette Geschichte. Wir sehen uns.“
„Klar sehen wir uns wieder, ist Schicksal. Schüüüüs!“
„Tschüss. Bis bald.“
Schildti, die Schildkröte, dreht sich um und schwimmt weg, während auch ich Anstalten mache, wegzuschwimmen. Allerdings tue ich nur so. Ich will meine Ruhe und Schildti doch auch, was ist falsch daran zu behaupten, ich will zu meinen Adoptiveltern zurück?
Alles, ich weiß. Och, ich hätte nicht lügen dürfen. Jetzt bin ich so schlimm wie meine Adoptiveltern. Ich fühle mich echt schuldig.
So schwimme ich jetzt einfach ein Stück, denke nach und beobachte die wunderschöne Natur und Artenvielfalt der gerade erst neu entdeckten Unterwasserwelt. Es muntert mich irgendwie auf, auch wenn ich mich furchtbar schuldig fühle. Diese Wasserwelt verdient, dass man sie bestaunt. Es gibt schillernde Fische, grüne Algenwälder und bunte Korallenriffe voller kleiner Tierchen und anderer Bewohner …
Was ist denn das? Ein bräunliches, helles Schimmern kommt von einem Felsvorsprung. Ich schwimme näher heran. Sieht nach einem Anhänger aus. Der ist wunderschön, könnte Bernstein sein. Erinnert mich an die Form meiner Lieblingsblume, der Gerbera. Moment, da hinten ist etwas eingraviert. Ich kann es nicht lesen … Es ist zu dunkel hier und der Schriftzug zu klein. Ich nehme den Anhänger einfach mal mit. Wird wohl niemandem gehören, so fern ab von Häusern oder Menschen. Gerade habe ich auf meine leuchtende Uhr geschaut. Es ist schon spät. Ich wusste gar nicht, dass die Uhr wasserdicht ist.
Ich bin echt müde und langsam wird es gruselig hier. Ich bin wohl gerade in eine düstere Gegend geschwommen, doch in meiner Gedankenabwesenheit habe ich das gar nicht gemerkt. Also schwimme ich denselben Weg wieder zurück, wechsle durch den Wasserfall die Welten und stelle mich zu Hause erst einmal unter die Dusche. Meine empörten Nicht-Eltern, die im Flur auf mich gewartet haben, ignoriere ich einfach und renne schnurstracks an ihnen vorbei in mein Zimmer. Den zauberhaften Anhänger lege ich auf meinen Nachtisch. Ich kann an nichts anderes mehr denken als an meinen Ausflug in die geheimnisvolle Unterwasserwelt.
Ob ich wirklich das Mädchen bin, die verschwundene, rechtmäßige Thronfolgerin?
Kapitel 12: Liam
Die Wasserlandschaft wurde immer bevölkerter. Leider tauchten nun aber auch Wachen in blauen Uniformen auf. Liam glaubte nicht, dass er hier sein durfte. Deshalb versteckte er sich jedes Mal, wenn Wachen in seine Nähe kamen. Nach einiger Zeit waren es so viele Wachen, dass er fast durchgehend in den Schatten der Felsen und Wasserpflanzen bleiben musste. Aber er war einfach zu neugierig zum Umkehren. Also schwamm er weiter und kam irgendwann an einen riesigen Palast. Liam vermutete, dass er gar nicht mehr weiterkäme, wenn er dort hineinschwimmen würde, weil es dort wahrscheinlich vor Wachen wimmelte. Also schwamm er um den Palast herum, stieg an einem Strand aus dem abflachenden Wasser und entdeckte wieder eine völlig andere Landschaft: Hier war alles einigermaßen normal. Der einzige Unterschied zur normalen Welt war, dass alle Straßen rechtwinklig angeordnet waren und jede Stelle, an der man abbiegen konnte, eine Kreuzung war. Da Liam auch hier nicht entdeckt werden wollte, huschte er wieder von Schatten zu Schatten.
„So solltest du hier nicht herumlaufen“, flüsterte ihm plötzlich jemand zu.
Liam fuhr herum. Hinter ihm stand ein älteres Mädchen. Anscheinend hatte es bemerkt, dass er nicht entdeckt werden wollte, und bedeutete ihm, ihr zu folgen.
Er überlegte. Er war eigentlich eh in Gefahr und das Mädchen sah nicht wirklich gefährlich aus. Also folgte er ihr und sie lotste ihn weiterhin im Schatten zu einem Schloss. Dort führte das Mädchen ihn durch die Hintertür und viele Gänge entlang zu einem prachtvollen und sehr großen Zimmer. Sie ließ ihn hinein, schloss die Tür hinter ihm ab, setzte sich und bedeutete ihm, sich ebenfalls hinzusetzen.
Nachdem er sich gesetzt hatte, fragte sie skeptisch: „Wer bist du? Hast du einen Besucherpass?“
„Ganz ruhig“, sagte Liam, „ich beantworte von mir aus deine Fragen. Aber eine nach der anderen.“
Das Mädchen antwortete: „Okay. Dann wäre meine erste Frage: Wer bist du?“
„Liam“, beantwortete er ihre Frage. „Ich bin letztens hier in die Gegend gezogen, bin zwölf Jahre alt und habe gerade etwas entdeckt, was ich eigentlich für unmöglich gehalten habe.“
„Alles klar!“, sagte das Mädchen lachend und stellte sich vor: „Ich bin Beyla, siebzehn Jahre alt und die Tochter des Königs vom Erdreich.“
Erstaunt fragte Liam: „Du bist die Tochter eines Königs und diese Landschaft wird also Erdreich genannt? Dann war ich wahrscheinlich gerade im Wasserreich. Weil Erde und Wasser beides Elemente sind, würde ich jetzt mal folgern, dass es noch ein Luft- und ein Feuerreich gibt. Stimmt das?“
„Jep“, stimmte Beyla ihm zu. Dann ging die Fragestunde weiter: „Nächste Frage: Hast du einen Besucherpass?“
Liam antwortete verwundert: „Nein. Braucht man den?“
„Natürlich!“, sagte Beyla entsetzt. „Wenn die Wachen dich ohne Pass gefunden hätten, säßest du jetzt im Gefängnis.“
„Oh“, sagte Liam. „Aber wie hast du eigentlich erkannt, dass ich aus der anderen Welt komme?“
Beyla antwortete: „So einen Anzug, wie du ihn anhast, trägt hier in Turtines keiner. Außerdem schleicht eigentlich niemand von Schatten zu Schatten.“
„Was ist Turtines?“, fragte Liam, und Beyla beantwortete seine Frage, indem sie ihm erklärte, dass es alle vier Reiche zusammengenommen waren.
Sie sprachen noch eine Weile über Liams Welt und Beyla war sehr beeindruckt. Plötzlich sagte sie erschrocken: „Aber du musst gleich wieder zurück in deine Welt. Wer aus deiner Welt kommt, kann in Turtines nämlich nur drei Stunden atmen.“
Liam sagte: „Dann sollte ich mich mal auf den Weg machen. Wie komme ich denn am schnellsten zurück?“
„Ich kann dir ein Portal zeigen“, bot Beyla ihm an.
Liam entgegnete glücklich: „Danke. Ich war vorher eine Weile im Wasserreich. Deshalb sollten wir jetzt wohl losgehen.“
„Okay“, kam es von Beyla, die schon zur Tür ging.
Liam folgte Beyla. Sie führte ihn durch viele Gänge, viele Straßen entlang und auf einen hohen Berg. Dort war ein Durchgang, hinter dem alles nur verschwommen zu sehen war. Liam verabschiedete sich dankbar für die Informationen von Beyla und ging hindurch. Auf der anderen Seite war ein kurzer Glasgang unter dem Wasser, der an einer Tür endete. Liam ging ihn entlang und fragte sich, wo er wohl rauskommen würde. Er wollte gerade nach der Klinke greifen, als … die Tür sich plötzlich vor ihm öffnete. Dahinter standen zwei Mädchen und ein Mann …
Kapitel 13: Josy
„Ist Mom jetzt we – Mom, was machst du denn noch hier?“ Erschrocken blieb ich im Flur stehen, wo ich eigentlich meine Schwester Lea erwartet hatte.
Scheiße! Hoffentlich würde Mom jetzt keine blöden Fragen stellen. Lea, Dad und ich wollten eigentlich schon vor einer halben Stunde in Turtines sein, aber da meine Mutter nicht in die Puschen kam und endlich zur Arbeit fuhr, ging das ja leider nicht. Meine Güte, ich war jetzt schon richtig hibbelig. Wir waren mit Rosa zum Kakao verabredet. Nicht, dass die noch dachte, wir kämen nicht mehr. Dürften wir meine Mama einfach in die geheimnisvolle Parallelwelt unter der Lippe einweihen, wäre es viel einfacher!
„Ich hatte nur meinen Schlüssel vergessen. Hast du denn noch was Besonderes vor?“, fragte meine Mutter. „Du weißt, ihr sollt keinen Blödsinn anstellen.“
Na toll! Sie wurde gleich wieder misstrauisch.
„Keine Sorge, Dad ist doch da.“ Etwas Besseres fiel mir in dem Moment wirklich nicht ein, obwohl ich ja wusste, dass die beiden zur Zeit nicht besonders gut aufeinander zu sprechen waren. Irgendwie hatte ich mir das mit der heilen Familie anders vorgestellt. Erst war nach Dads Rückkehr aus Turtines alles sehr gut gelaufen, meine Eltern verstanden sich hervorragend und wir unternahmen viel zusammen als Familie. Doch dann kam der erste Tiefschlag: Alina zog weg! Meine beste Freundin war nun so weit weg von mir. Joe hatte das auch echt hart getroffen. Die beiden waren ja schon sehr eng. Ich war nur froh, dass ich meine anderen Freunde hier hatte. Meine Schwester Lea und auch Kathie und all die anderen. Aber dann folgte eine sehr schwierige Zeit. Dad kam in eine sogenannte Midlife-Crisis und das löste wirklich schlechte Stimmung bei meiner Mom aus. Die beiden fingen an, viel zu streiten, aber mein Vater war plötzlich auch wie ausgewechselt. Einmal kam er von der Arbeit nach Hause und hatte sich einen Lamborghini und eine Lederhose gekauft!
Gerade hatten sie es jetzt mal geschafft, sich eine Woche nicht zu streiten, aber da ich noch keine Friedensflagge gesehen hatte, konnte ich schwer einschätzen, ob das nur die Ruhe vor dem Sturm war oder der offizielle Ruhezustand.
Ich wurde aus meinen Gedankenfluten gerissen, als Lea mich von hinten antippte und sagte: „Los, beweg dich! Sie ist weg. Oder willst du deine flauschige Einhornfreundin noch länger warten lassen?“
Wir beide stürmten die Treppen runter bis in den Keller und stellten uns brav neben unseren Vater. „Kann es losgehen?“, fragte er und grinste uns mit einem erwartungsvollen Lächeln an.
Wir nickten nur ungeduldig. Doch als wir die Tür zum geheimen Tunnel nach Turtines öffneten, bekamen wir einen Schreck.
Ich traute meinen Augen nicht! Vor uns stand ein Junge. Durchschnittlich groß, dünn, mit heller Haut. Er trug einen Taucheranzug. Seine blauen Augen reflektierten das grelle Kellerlicht und er schaute verwirrt und unsicher.
Keiner sagte etwas. Wir starrten uns alle gegenseitig an. Ich wollte etwas sagen. Ich meine etwas wie Wer bist du? Was machst du in unserem Keller? Wie hast du diesen Durchgang gefunden? Wo lebst du ursprünglich? oder so was in der Richtung. Stattdessen blickte ich unsicher durch den Keller. Mittlerweile war der schon sehr heruntergekommen. Die grüne Farbe blätterte von den Wänden und bei jeder Bewegung knirschten die Holzdielen unter uns. Auf dem Boden lag eine aufgerissene Zehnerpackung Kakao. Was würde ich jetzt dafür tun, mit Rosa einen Kakao zu schlürfen, mein lieber Kakao. Ich betrachtete das Familienbild an der Wand, das Lea und ich hier unten aufgehängt hatten, als wir nach Dads Rückkehr wieder komplett waren. Auf dem Bild hielten Lea und ich uns an den Händen und streckten die Zungen raus. Wir waren zu dem Zeitpunkt ungefähr fünf Jahre alt. Unsere Eltern standen hinter uns mit einem zufriedenen Lachen. Auch wenn das Foto schon lange vor Dads Verschwinden aufgenommen worden war, war es bis heute mein Lieblingsbild von uns. Wie sehr ich diese Zeit vermisste. Auch wenn ich versuchte, diese Gefühle zu verdrängen, hatte ich einfach Angst, dass meine Eltern sich trennen könnten. Was sollte ich dann machen? Jetzt waren wir doch endlich wieder vereint. Ich unterdrückte die Tränen und schluckte einmal fest. Ich kam wieder zurück in die Gegenwart und realisierte, dass dieser fremde Junge immer noch in unserem Keller stand. Ich schielte Lea an und im Gegensatz zu ihr brauchte ich keine übernatürlichen Gedanken-Lese-Kräfte, um zu wissen, dass sie genauso verblüfft war wie ich.
Jetzt erhob mein Vater die Stimme: „Gut, ich denke, du bist nicht mit Absicht hier gelandet, oder?“
Der Junge nickte nur.
„Wie heißt du denn?“
Jetzt fand auch unser überraschender Gast seine Sprache wieder und entgegnete meinem Vater: „Liam. Ich heiße Liam.“
„Sollen wir uns vielleicht erst mal zu einem Glas Kakao hinsetzen, Liam?“, fragte mein Papa nun.
Da niemand etwas gegen diesen hervorragenden Vorschlag einzuwenden hatte, liefen wir im Gänsemarsch die Treppen hinauf. Lea, Liam und ich setzten uns an unseren Couchtisch im Wohnzimmer, und in der Stille hörte ich das leise Zischen von dem im Hintergrund kochenden Kakao aus der Küche.
Ein paar Minuten später kam Dad mit vier Tassen ins Zimmer und gesellte sich zu uns. „Dann erzähl mal, was ist vorgefallen, und wie bist du in unserem Keller gelandet?“
Mein Papa lächelte den Jungen vor uns an, als würden wir ihn schon ewig kennen, und auch Lea blickte ihn mit ihren warmen Augen erwartungsvoll an. Anscheinend war ich die einzige hier, die noch auf dem Boden der Tatsachen blieb. Da hatte plötzlich ein völlig fremder Junge im Taucheranzug in unserem Keller gestanden und jetzt behandelten ihn alle wie einen alten Freund! Wer wusste denn schon, ob er die Wahrheit sagte. Vielleicht hieß er gar nicht Liam. Vielleicht war er nicht in Leas und meinem Alter, sondern 60, hieß Alberto und war Massenmörder. Wer wusste das schon? Ich meine, klar war das ein bisschen unglaubwürdig, weit hergeholt und übertrieben, aber bis vor einem Jahr hätte ich auch nicht gedacht, dass in dem Fluss vor unserer Tür ein Seeungeheuer lebte und sich hinter der verschlossenen Tür in unserem Keller eine Parallelwelt mit Einhörnern, Hexen, sprechenden Seepferdchen und fliegenden Pumas befand. Also war mein Misstrauen doch vielleicht gar nicht so weit hergeholt! Ich musterte den Jungen. Während Dad und Lea freundliche Blicke in die Runde warfen, schaute ich grimmig – und zwar mit Absicht. Der Junge bemerkte das und fühlte sich wohl eingeschüchtert. Er schenkte mir ein unsicheres Lächeln. Es wurde immer wärmer und freundlicher, je länger er mich anschaute. Ich versuchte, so unhöflich und kühl wie möglich zu schauen, aber dann fiel mir plötzlich ein, wie voreingenommen ich gegenüber Kathie gewesen war, als ich sie das erste Mal getroffen hatte, und nun war sie immerhin meine beste Freundin. Ich verdrehte kurz die Augen und ärgerte mich ein bisschen über mich selbst, bis ich dann auch ein ganz kleines Lächeln unserem Gast gegenüber zustande brachte.
Liam schien zufrieden und begann zu erzählen. Er redete wie ein Wasserfall, und dafür, dass er anfangs recht schüchtern gewirkt hatte, war er nun sehr aufgeschlossen und von sich selbst überzeugt. Er erzählte, er sei durch Zufall nach Turtines gelangt, da er einem Mädchen durch ein Portal in der Lippe gefolgt wäre. Außerdem erzählte er uns von Beyla, einem Mädchen aus der Erdwelt, und schwärmte davon, wie wunderschön und überwältigend diese Welt sei. Dann, so erzählte er, hatte er nur wieder heimgewollt, und als er auf einmal in unserem Keller gestanden hatte, war er selbst überrascht gewesen. Liam beteuerte noch einmal, dass das wirklich unabsichtlich gewesen war. Zum Schluss sagte er: „Ich bin froh, hier von fast allen so nett empfangen worden zu sein.“ Dann grinste er mich an.
Okay, ertappt, vielleicht war ich ein wenig übervorsichtig gewesen, aber auch nur, weil es in dieser Familie sonst keiner war. Jetzt konnte ich mir ein Grinsen auch nicht mehr verkneifen und lächelte zurück, aber nur kurz, dann versteckte ich mich hinter meiner Kakaotasse.
Liam guckte wieder ernster und fragte in die Runde: „Wieso habt ihr eigentlich diesen Durchgang in eurem Keller?“
„Unser Dad kommt aus der Parallelwelt“, schaltete sich nun Lea ein.
„Ja, er geht immer mal wieder rüber, und wir schauen nach, wie die Lage dort so ist“, ergänzte ich noch.
Liam lachte schon wieder. „Cool, also bist du richtig dort geboren, also ein Einheimischer?“, richtete er sich dann an meinen Papa. Er wirkte wirklich interessiert und begeistert.
„Ja, stimmt, ich bin dort geboren.“ Papa nickte.
Auf einmal fuhr Lea hoch. „Rosa, wir sind mit Rosa verabredet!“
Kacke, das hatte ich schon wieder völlig vergessen. „Ja, Liam, wir müssen jetzt los, meine Einhorn-Freundin erwartet uns, also musst du gehen. Hat uns aber wirklich sehr gefreut.“ Ich grinste, und man konnte die Ironie in meiner Stimme nicht überhören.
Lea knuffte mich in die Seite und schüttelte den Kopf, aber Liam schien die Ironie meines Satzes nicht zu stören.
Wir gingen alle mit ihm zur Tür. Lea und Papa, um höflich zu sein, ich, um Liam so schnell wie möglich loszuwerden und sicherzugehen, dass er das Haus auch wirklich verließ. Nichts gegen ihn persönlich, aber ich wollte nun mal zu Rosa.
Liam stand in der Tür und sagte zum Abschied: „Bis bald.“
Witzig! Wollte der mich damit ärgern?
Lea sagte mit ihrer mal wieder überfreundlichen Art: „Ja, für Freunde steht unsere Tür immer offen.“
Sie hatte mir einfach eine zu gute Vorlage geliefert. Ich musste etwas sagen: „Ja, also nicht für dich.“
Liam fing an zu lachen, aber Lea boxte mir gegen den Arm. Keiner verstand meinen Humor, obwohl … Liam wirkte nicht so, als würde er mir das übelnehmen.
Ich sagte dann doch noch mal schnell „Sorry“, denn Leas bösen Blicken nach zu urteilen, konnte ich mich sonst auf etwas gefasst machen.
Ich warf Liam noch ein genervtes Lächeln zu, dann ließ ich die Tür ins Schloss fallen und stürmte die Treppe zum Keller herunter, Lea folgte mir eilig und unser Vater kam gemütlich hinterhergeschlendert.
Kapitel 14: Beyla
Beyla konnte schon von weitem ein Brausen hören. Sie dachte sich nichts dabei. Es könnte ein Sandsturm sein, die gab es hier öfter. Also versuchte sie, sich weiter auf ihr Buch zu konzentrieren, das sie aus der alten, nach Holz riechenden Schlossbücherei mitgenommen hatte, bevor ihr Vater den Raum für sich in Anspruch genommen hatte. „Wichtige Termine“, hatte er nur genuschelt, bevor er sich wieder auf das Balancieren etlicher alter Dokumente konzentriert hatte. Beyla fand, dass er sehr kalt geworden war. Aber sie konnte es ihm auch nicht übel nehmen. Die Jahre nach dem Tod ihrer Mutter waren auch für sie eine harte Zeit gewesen, doch sie hatte mittlerweile gelernt, ihren Geist zu beruhigen: durch Meditation. Und so hatte sie auch von ihren Kräften erfahren.
Sie erinnerte sich zurück an den seltsamen Jungen von vorhin, der sich verloren umgeblickt und dabei versucht hatte, nicht entdeckt zu werden. Er war eigenartig gekleidet gewesen. In weichen Stoff, der durchnässt an seinem Körper klebte und aus dem es auf die harte Erde tropfte. Er erzählte von einem merkwürdigen Ort, einer Kombination aus allen vier Welten von Turtines. Mit wilden, reißenden Flüssen, dichten, sattgrünen Wäldern und Wolken, die so weich wie Zuckerwatte aussahen, mit stürmischem Wind, der nach allem griff, was nicht festgenagelt war, und knisternden Feuern, deren tanzenden Flammen gierig Häuser verschlangen und schwarze Spuren von Ruß und Asche hinter sich zurückließen. Beyla beneidete diesen Jungen um seine Welt.
Das Brausen wurde lauter, und Beyla schaute verwundert auf. Sie legte ihr Buch zur Seite und lief zum Fenster, neugierig darauf, was sie dort zu sehen bekommen würde. Der Boden im Hof begann langsam feuchter zu werden, bis sich dreckige braune Pfützen bildeten, die merkwürdig vibrierten, und sie wusste, dass gleich eine Horde majestätischer Seepferde in den Hof schweben würde, in Blasen, gefüllt mit klarem sauberem Wasser, und es würde ein Mann aus einer korallenfarbenen Kutsche aussteigen und im Schloss eine lange nasse Spur hinterlassen. Neugierig schlich Beyla sich nach unten und wartete auf Turti Ness, den König der Wasserwelt, nicht sicher, ob sie ihn empfangen oder ob sie warten sollte, bis jemand anderes die Ankunft der Majestät bemerken würde.
Ein paar Bedienstete huschten auf den Hof, um das Begrüßungskomitee zu bilden. Es hatte also noch jemand den Besuch bemerkt! Sie drückte sich etwas tiefer hinter die Säule, aus Angst, es könnte sie jemand entdecken. Es erklangen Trompeten, die die Ankunft des Königs ankündigen sollten. Beyla fühlte ein Zupfen an ihrem Rock. Erschrocken drehte sie sich um, in der Hoffnung, nicht ihrem Vater in die Augen zu blicken. Nein, sie schaute ins Leere. Sie musste sich das Zupfen wohl eingebildet haben. Sie atmete durch und ließ ihren Blick wieder aufs Geschehen fallen.
„Hier unten“, hörte sie da eine altvertraute Stimme sagen und lächelte, bevor sie sich bückte, um den schwarzen Fuchs hinter den Ohren zu kraulen.
„Root“, sagte sie erleichtert. „Guck mal, was macht der Wasserkönig denn hier?“
Der Fuchs schaute an ihr vorbei auf den Hof. „Versuchen wir es herauszufinden! Das Schlossleben ist sowieso viel zu langweilig, wir können etwas Spannung gut gebrauchen!“ Flink huschte er von Säule zu Säule. „Komm, oder willst du Wurzeln schlagen?“
Er lachte leise, und Beyla konnte seine spitzen weißen Zähne aufblitzen sehen. Sie schmunzelte, bevor sie zusammen versuchten, so unauffällig wie möglich näher an die Kutsche heranzukommen.
Ein Mann im königsblauen und mit Algen und Muscheln bestückten Umhang machte die Kutschentür von innen auf und wurde von langweilig einfältigen Soldaten herausgeleitet, die alle monotone ausdruckslose Gesichter hatten – ein Kontrast zu Turti Ness selbst, der wutentbrannt die Kutschentür hinter sich zuknallte. Zorn funkelte in seinen blauen Augen, seine nassen Haare fielen über seine Stirn, wo eine Ader pulsierte und zu platzen drohte, und in seine Augen. Immer wieder schüttelte er sich, um die lästige Strähne loszuwerden, sodass das Wasser überall hin spritzte. Über seinem Kopf hatte sich eine dunkle Gewitterwolke gebildet, und dicke Regentropfen fielen in sein Gesicht und zerplatzten auf seiner Haut.
Im Hof begann es zu flüstern, während die Majestät zum Eingang schritt. Turti Ness hinterließ eine nasse Spur hinter sich und steuerte die große Fichtenholztür der Schlossbibliothek an, hinter der Tyson Black, Beylas Vater, in schwere Bücher und alte Dokumente vertieft war. Beyla und Root folgten dem von Wachen umgebenen Turti Ness, krochen durch einen von Maulwürfen gegrabenen Tunnel und schlichen durch einen gut versteckten Eingang in die Bibliothek, um sich hinter einem Bücherregal auf den Boden zu kauern.
„Turti, was treibt dich in mein Schloss?“, fragte Tyson überrascht.
„Tu nur ruhig unschuldig, wir wissen beide, dass du ihn hast!“, erklang Turti Ness’ Stimme wie ein Donner im stillen Raum.
Beyla hielt den Atem an und sah verwirrt zu Root, der gespannt zuhörte.
„Was soll ich haben? Ich verstehe nicht …“ Man hörte Tyson verunsichert auflachen.
„Du warst schon immer hinter meiner Position her“, dröhnte Turti Ness, „aber ich sage dir eins: Wenn du meinst, du könntest machen, was du willst, und einfach deinen Talisman zurücknehmen …“
Beylas Kinnlade klappte herunter. Ihr Vater? Ein Dieb? Das konnte doch gar nicht sein, er war seit Tagen nur im Schloss gewesen! Sie stand auf.
„Beyla, ich warne dich …“ Root hatte sich an ihrem Rock verbissen. „Das ist keine gute Idee“, sagte er verängstigt.
„Ich muss ihm helfen“, sagte sie entschlossen und trat hinter dem vollgestopften Bücherregal hervor. „Ich bin mir sicher, das ist ein Missverständnis!“, sagte sie und ging auf die beiden zu.
„Halt dich da raus. Dir ist wohl nicht die Wichtigkeit dieses Talismans klar! Wie auch? Du bist nur ein Kind, was weißt du schon?“, sagte der Meereskönig spöttisch. „Dein Vater war schon immer hinter meinem Posten her. Mit allen vier elementarischen Talismanen würde er für immer die Herrschaft über alle vier Welten haben, und nun ist der Stein vom Erdreich weg! Wer könnte ihn sonst genommen haben?“, fragte er laut und schaute Beyla und ihren Vater an.
„Du hättest ihn genauso gut selbst nehmen können, um für immer an der Macht zu bleiben! Du hast nichts gegen mich in der Hand!“, sagte Beylas Vater. „Beyla, geh jetzt, dieser Mann ist gefährlich!“, fügte er beschützend hinzu.
Mit festem Blick ging Beyla zurück zu Root, der sie besorgt ansah. „Komm mit, du musst mir einen Gefallen tun.“
Zusammen liefen sie zurück zu Beylas Turmkammer, sie mit einem entschlossenen Blick, Root mit einem verunsicherten. Sie setzte sich an ihren von Holzwürmern zerfressenen Tisch und fing an, in verschnörkelter Schrift einen Brief zu schreiben. Hektisch stopfte sie ihn in einen braunen Umschlag und versiegelte ihn mit dem königlichen Erdreichssiegel. Danach legte sie den Brief vorsichtig in Roots Maul.
„Bring den bitte zu dem Jungen von vorhin!“, flüsterte sie dem Fuchs zu.
Ohne nachzufragen lief Root los, und Beyla stand am Fenster, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte, während die schon tief am Himmel stehende Sonne von Turtines in lilafarbenes Licht getaucht wurde und zu tanzen begann.
Kapitel 15: Josy
Einige Stunden später kamen wir wieder nach Hause. Rosa hatte Verständnis dafür gehabt, dass wir zu spät gekommen waren, und war nicht wirklich böse gewesen. Wir waren über die Wolken geflogen und hatten uns dort noch den Sonnentanz angesehen. Es war ein Ereignis, das nur in Turtines zu sehen war und das auch nur alle zehn Jahre. Die Sonne wird dabei kurz vor ihrem Untergang in ein lilafarbenes Licht getaucht und tanzt auf magische Weise.
Zu Hause kuschelten Lea und ich uns im Spielezimmer unter eine Decke in dem großen Bett, das sich in der Mitte des Raumes befand. Im Spielezimmer standen außerdem ein großer Fernseher und mehrere Bücherregale. In den letzten paar Wochen hatten Lea und ich uns nur noch hier aufgehalten. Wir wollten nicht alleine sein. Nur wenn wir doch mal Freiraum brauchten, gingen wir in unsere eigenen Zimmer.
Plötzlich hörten wir Geschrei von unten. Mama war wieder da. Aber Lea und ich trauten uns nicht runterzugehen. Da war auf einmal wieder dieser Kloß in meinem Hals, und ich spürte, wie eine Träne meine Wange runterkullerte. Ich hatte so sehr gehofft, es wäre vorbei und wir wären jetzt endlich wieder die glückliche Familie, die ich mir doch so sehr wünschte. Ich fühlte mich nicht wirklich wohl. Da lag dieser Stein in meinem Magen, so tief drinnen, und er nahm mir das Gefühl von Geborgenheit und Frohsinn, das ich beim Anblick des Sonnentanzes gespürt hatte. Wie konnte ich das abstellen? Meine Wangen wurden immer nasser. Ich hatte die Kontrolle über meine Gefühle verloren. Wie konnten meine Eltern uns das antun? Es betraf doch auch uns, wenn sie unsere Familie zerstörten! Ich war überfordert. Ich konnte einfach nicht mehr. Wieso gingen sie so respektlos miteinander um? Mein Herz pochte schneller und ich fühlte mich bedrückt. Lea kam näher an mich herangerutscht und legte den Kopf auf meine Schulter. Wir sagten nichts, schwiegen nur vor uns hin. So blieben wir eine ganze Weile sitzen.
Dann kam ein lautes Scheppern von unten und eine Tür knallte zu. Wir schreckten hoch und liefen die Treppen herunter. Auf dem Küchenboden lagen mehrere zu Bruch gegangene Teller und Tassen. Mama kniete davor und begann, die Scherben aufzusammeln. Von Papa weit und breit keine Spur. Ich kniete mich neben unsere Mutter auf den Boden und half ihr, die Sachen aufzufegen. Lea schmierte Brote, und dann setzten wir uns alle drei still und ohne ein Wort zu sagen an den Tisch. So aßen wir da vor uns hin, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft. Ich traute mich nicht zu fragen, warum sie sich diesmal gestritten hatten. Ich fragte auch nicht, wann Papa wiederkäme, denn bekanntlich soll man keine Fragen stellen, auf die man die Antworten nicht hören will.
Als wir fertig waren mit essen, schickte Mama uns wieder hoch. Im Gehen sagte sie noch zu uns: „Ich denke nicht, dass euer Vater bis morgen wieder da ist.“
Lea und ich gingen in das Spielezimmer. Ich ließ mich neben Lea auf unser Bett fallen und schnappte mir mein Buch Zimt & weg von Dagmar Bach. Ungefähr eine halbe Stunde steckten unsere Nasen in unseren Büchern, dann machten wir uns bettfertig und guckten noch unsere Serie weiter. Ich versuchte mich so gut es ging abzulenken. Ich wollte einfach nicht darüber nachdenken, was für Konsequenzen dieser Streit für unsere Familie haben könnte. So schlimm war es noch nie gewesen. So viel Angst um die Existenz unserer Familie hatte ich noch nie gehabt. Eng an Lea gekuschelt merkte ich, wie mir langsam die Augen zufielen.
Kapitel 16: Lea
Am nächsten Morgen lag Lea in ihrem Zimmer auf dem Bett. Sie brauchte ein bisschen Zeit für sich. Sie hatte eine Duftkerze angezündet. Den Geruch nach Vanille liebte sie. Draußen prasselte der Regen gegen die Scheiben, aber hier drinnen war es warm und gemütlich. Sie las ein Buch über die Gedanken-Lese-Fähigkeit. Das hatte sie von ihrem Vater bekommen. In dem Buch las sie, dass nicht nur Menschen die Gedanken-Lese-Fähigkeit hatten, sondern auch Tiere. Da kam ihr eine Idee. Sie ging zum Käfig, in dem ihr kleiner Hamster Fernando wohnte, und versuchte, die Gedanken des Tieres zu lesen. Ganz leise hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf.
Wann kriege ich was zu essen?, fragte ihr Hamster.
Wow! Tatsächlich konnte sie ihn hören. Sie versuchte es noch mal.
Hallo? Kriege ich mal was zu essen?, wiederholte Fernando.
Sie lächelte vor Freude und holte eine Tüte Hamsterleckerlis aus einem kleinen Schrank neben dem Käfig. Danach setzte sie sich wieder aufs Bett und steckte die Nase erneut in ihr Buch. Es hatte 300 Seiten und sie war bereits bei der Hälfte angelangt.
Kapitel 17: Liam
Am Morgen nachdem er die Parallelwelt Turtines entdeckt hatte, saß Liam auf dem Sofa bei sich zu Hause und meditierte, weil er immer noch damit zugange war, die Informationen, die Beyla, Josy und Lea ihm gegeben hatten, zu verarbeiten. Außerdem dachte er über Dinge nach, die er von Turtines noch nicht wusste. Wie zum Beispiel, fragte er sich, war diese Welt wohl entstanden? Oder warum …
Plötzlich wurde er in seinen Gedankengängen gestört, weil etwas ein Geräusch verursachte. Er stand auf und ging zur Tür, um zu gucken, was es wohl war. Das Geräusch schien von draußen zu kommen. War es der Regen? Nein, bemerkte Liam mit einem Blick aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen. Also öffnete Liam die Tür … und bemerkte, dass dort ein schwarzer Fuchs mit einem Brief im Maul stand. Der Fuchs legte den Brief vor Liams Füßen ab und trabte davon.
Verwundert hob Liam den Brief auf, ging in die Küche, um sich ein Messer zum Öffnen zu holen, und las:
Hallo,
hier ist Beyla aus Turtines. Ich habe diesen Brief geschrieben, um dich zu warnen und um Hilfe zu bitten. In Turtines bahnt sich wahrscheinlich ein Krieg an. Ein Teil des für Turtines sehr wichtigen Element-Amulettes wurde im Wasserreich gestohlen, und jetzt verdächtigt Turti Ness, der König des Wasserreiches, meinen Vater, dass er es gestohlen haben könnte.
Erklärung zum Amulett:
Es besteht aus vier Steinen. Jedes Reich hat einen hergestellt. Das Wasserreich einen Aquamarin in Tropfenform, das Feuerreich einen in Lava eingefassten Rubin in Flammenform, das Luftreich einen weißen Mondstein in Wolkenform und das Erdreich einen Bernstein in Blütenform. Nach dem Krieg der vier Welten vor elf Jahren wurde ein Friedensvertrag geschlossen. Dabei haben alle Reiche ihre Steine untereinander ausgetauscht. Die Teile sind also im Prinzip ein Friedenszeichen. Aber sie sind mehr als nur ein Symbol, denn wenn man sie zusammensetzt, hat der Besitzer Macht über alle dunklen Wesen der vier Welten, und der Palast in der Mitte von Turtines wird zerstört.
Könntest du also nach Turtines kommen, um den Frieden zu sichern und die Unschuld meines Vaters zu beweisen? Wir brauchen die verbliebenen Steine. Und wir müssen herausfinden, wer den Stein aus dem Wasserreich gestohlen hat.
Viele Grüße und hoffentlich bis bald
Beyla
P.S.: Es gibt wohl noch andere Personen aus deiner Welt, die Turtines kennen und schon mehrmals hier waren. Vielleicht würden sie auch helfen!?
Liam las sich den Brief viele Male durch, um sicherzugehen, dass er richtig sah. Er wusste, dass es sehr wichtig war, wenn Turtines Hilfe aus der normalen Welt brauchte, weil ja wahrscheinlich nicht viele hier von Turtines wussten und die Parallelwelt anscheinend fast für sich alleine sorgen musste. Also stand er auf, rüstete sich für den Ausflug und machte sich dann auf den Weg, die Mädchen, die er nach seinem Besuch in der Parallelwelt kennengelernt hatte, zu informieren.
Kapitel 18: Lea
Während Lea noch in ihr Buch vertieft war, klingelte es an der Tür. Als Lea öffnete, stand Liam davor.
„Was machst du denn hier?”, fragte sie.
„Dürfte ich vielleicht zuerst reinkommen?”, fragte er.
Lea nickte.
„Ich habe eine Nachricht aus Turtines bekommen.”
Sie nickte wieder, gespannt auf das, was jetzt kommen würde.
„Beyla, die ich in Turtines kennengelernt habe, hat mir geschrieben, dass es einen Krieg in Turtines geben wird, wenn wir nicht handeln. Sie hat erzählt, dass es in Turtines vier Steine gibt. Also in jeder Welt einen. Aber nun ist der Stein aus der Wasserwelt verschwunden.“
Lea stutzte. „Mein Vater hat diese Steine zwei Jahre lang erforscht. Mit diesen Steinen könnte man Turtines Schaden zufügen. Jedenfalls hab ich das so von den Erzählungen meines Vaters in Erinnerung.” Lea blickte ernst in Liams Augen.
Liam nickte. „Das hat Beyla auch geschrieben. Aber wieso würde jemand einen der Steine haben wollen? Keiner aus Turtines würde doch seine eigene Welt freiwillig in Gefahr bringen.”
Lea war sich bei der ganzen Sache nicht so sicher.
„Jedenfalls meinte Beyla, dass wir die anderen Steine aus Turtines holen müssen, um größeren Schaden zu vermeiden“, erklärte Liam.
„Okay“, sagte Lea. „Dafür brauchen wir Verstärkung. Ich sage Josy Bescheid. Und unserem Freund Joe.“
Kapitel 19: Joe
Seitdem Alina weggezogen war, machte ich mir immer wieder Gedanken. Wie es ihr wohl ging? Ob sie an mich dachte oder mich schon vergessen hatte? Was sollte ich jetzt nur tun? Sollte ich sie anrufen oder lieber nicht? Mein Kopf sagte mir immer wieder: Ruf sie doch einfach an. Aber dann dachte ich mir wieder, dass sie, wenn ich sie zu oft anrief, vielleicht genervt wäre und den Kontakt abbrechen würde. Schließlich rief ich sie doch an und auf dem Handydisplay stand wird angerufen. Nach gefühlt einer halben Ewigkeit ging Alina endlich ran.
Ich sagte: „Hi, ich vermisse dich. Ich habe gerade niemanden mehr, der mir mit der neuen Situation hilft.“
Sie sagte: „Wir können telefonieren und ich kann dir dann so helfen.“
Als sie das sagte, dachte ich mir: Es wäre viel besser, wenn du jetzt hier wärst. Auf einmal brummte mein Handy. Ich schaute auf das Display. „Ich habe eine Nachricht bekommen, von Lea“, sagte ich zu Alina.
Sie antwortete: „Was ist denn?“
Ich las die Nachricht vor: Komm schnell zu uns. Turtines ist in Gefahr. Wir brauchen Hilfe.
Alina fragte: „Ist das ein blöder Scherz?“
Und ich sagte: „Nein, das glaube ich nicht. Lea ist doch nicht so.“
Ich verabschiedete mich von Alina und sagte ihr, dass ich später noch mal anrufen würde, wenn sich herausgestellt hätte, was los sei. Dann ging ich los. Ich hatte ein mulmiges Gefühl.
Kapitel 20: Kathie
Es war nun schon fast ein ganzes Jahr vergangen, die Kisten waren ausgepackt und alle Väter wieder bei ihren Familien. Na ja … Fast alle. Kathie konnte es immer noch nicht fassen, dass ihr Vater Schuld hatte am Tod von Joes Vater. Anfangs war sie sauer gewesen, hatte sich zu Hause in ihrem Zimmer eingeschlossen und sich geschämt, wenn sie Joe in der Schule gesehen hatte. Sie hatte nichts mit dem Tod von Joes Vater zu tun, aber für sie war es einfach schrecklich gewesen.
Nach geraumer Zeit hatte Kathie sich etwas beruhigt. Trotzdem dachte sie immer noch häufig an jenen Tag zurück, an dem sie es erfahren hatte. Sie war, sooft sie konnte, bei Josy und Lea, trank mit ihnen Kakao und sprach mit ihnen über Turtines. Manchmal erzählte Peter ihnen Geschichten, die er als Forscher erlebt hatte.
„Das Leben muss weitergehen!“, hatte ihr Peter einmal gesagt, und das wollte Kathie nun auch umsetzen.
Nach dem Frühstück nahm sie sich aus dem Lesezimmer ein Buch und verkroch sich mit einem Blaubeer-Tee in ihrem Zimmer, während von draußen der Regen gegen die Fensterscheibe prasselte.
Irgendwann musste Kathie eingeschlafen sein, denn der Tee dampfte nicht mehr und das Buch war vom Sessel gefallen. Hätte die Sonne sie nicht an der Nase gekitzelt, hätte Kathie vielleicht noch 100 Jahre geschlafen. Schnell schlürfte sie den Rest kalten Tee und brachte ihre Tasse runter in die Küche.
Also sie gerade die Zimmertür schloss, vernahm sie ein kleines „Pling“. Josy hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Schnell entsperrte Kathie ihr Handy. Kathie! Komm schnell! Turtines ist in Gefahr!
Eilig schmiss sie dies und das in ihren Rucksack und sprintete zu Josy und Lea.
Kapitel 21: Lea
Nach einer Stunde saßen dann alle im Wohnzimmer.
„Möchtet ihr etwas trinken?“, fragte Lea.
„Ich hätte gerne einen Orangensaft“, sagte Kathie.
„Ich auch“, sagte Joe.
Lea blickte zu Liam und Josy.
„Ich hätte gerne Wasser“, sagte Liam.
Josy wollte natürlich Kakao. Lea lächelte.
Als sie kurze Zeit später mit allen Getränken zurückkam, begann Liam zu sprechen: „Also, ich habe in Turtines ein Mädchen kennengelernt, sie heißt Beyla. Sie ist die Tochter des Herrschers der Erdwelt. Beyla hat mir gesagt, dass Turtines kurz vor einem Krieg steht. Jede Welt besitzt einen Teil eines Amuletts. Der Erdstein wurde vor kurzem aus der Wasserwelt geklaut, und die Herrscher der vier Welten beschuldigen sich nun gegenseitig. Keiner traut mehr dem anderen. Beyla hat mich um Hilfe gebeten, alle Steine zu finden. Ich schlage vor, dass wir uns auf die verschiedenen Welten aufteilen. Ich würde in die Erdwelt gehen, wenn ihr damit einverstanden seid.“
Alle nickten.
„Ich könnte in die Luftwelt gehen“, sagte Josy, „dann kann mir Rosa, mein Einhorn, helfen.“
„Ich suche erst mal Arlo und gehe dann mit ihm in die Wasserwelt“, schlug Kathie vor. „Dort versuchen wir herauszufinden, wer den Stein gestohlen hat.“
„Dann können Lea und ich in die Feuerwelt gehen“, sagte Joe.
Alle waren einverstanden.
Kathie zog sich Jacke und Schuhe an, um auf die Suche nach Arlo zu gehen.
Josy schlug vor, dass sie und Liam erst noch zu ihrem Freund Lukas gehen und ihm Bescheid geben würden. „Er hat kein Handy und kein Telefon, deshalb konnten wir ihm noch nicht Bescheid sagen, aber er kommt selbst aus Turtines, genauer gesagt aus der Erdwelt, und kann dir sicher eine Hilfe sein“, erklärte sie Liam.
Somit war alles entschieden, und die Freunde machten auf den Weg.
Kapitel 22: Shadow
Als ich mir sicher war, dass ich alleine war, ging ich zum geheimen Aufzug in meinem Baumhaus. Wenn ich ankomme, wird Carag, der Puma, auf mich warten? fragte ich mich. Carag war das Tier, das mich seit meiner Geburt begleitete. Jedes Kind in Turtines hatte so ein Begleittier. Ich hatte Carag furchtbar vermisst, während ich ein Jahr lang allein in dieser Welt gelebt hatte – ohne Zugang zu meiner Heimat Turtines. Nun, da ich aus freien Stücken weiter hier lebte, sah ich Carag regelmäßig. Auch wenn er nicht bei mir im Baumhaus bleiben konnte. Ein Junge mit einem zahmen Puma – das wäre einfach zu auffällig gewesen.
Ich zog mir auf dem Weg nach unten den Schutzanzug mit den integrierten Roboarmen an. Ich kam unten an und war erleichtert. Erstens war Carag da und zweitens hatte er nichts verwüstet.
„Hi Carag“, meinte ich.
Warum hast du so lange gebraucht? sagte Carag. Genau genommen sagte er es nicht, sondern dachte es nur in meinen Kopf hinein.
Ich antwortete: „Du weißt, dass erst mal niemand von unserem Projekt wissen darf.“
Eigentlich war Carag kein richtiger Puma, sondern eine Unterart, die Florida Panther heißt. Es gab in dieser Welt nur noch ungefähr zweihundert von ihnen. In den Everglades, den riesigen Sümpfen in der Nähe von Miami. Und einige wenige Exemplare in Turtines. Doch Carag wurde sauer, wenn ich ihm sagte, dass er kein richtiger Puma war. Einmal war er so wütend geworden, dass er mich gekratzt hatte. Die Narbe hatte ich noch immer. An der Hand. Immer, wenn ich an den Tag zurückdachte, tat die Wunde wieder weh. Doch diese Geschichte erzähle ich ein anderes Mal. Jetzt ging es erst mal um mein geheimes Projekt. Es war ein Bus, der sich in allen vier Welten von Turtines ohne Probleme bewegen konnte. Er hatte eine große rote feuerfeste Windschutzscheibe, Rotorblätter, normale Reifen und Tragflächen.
„Sieht schon sehr gut aus“, sagte ich.
Ja, sehr katzig, meinte Carag.
Plötzlich hörte ich über die Video-Live-Übertragung meiner oben im Baumhaus versteckten Kamera ein „Lukas? Wo bist du?“ Lukas, das war der Name, den ich mir in dieser Welt gegeben hatte. Ich erkannte Josy. Und einen mir unbekannten Jungen, der sagte: „Hier ist er offenbar nicht.“ „Er ist wahrscheinlich wieder mal Schrott sammeln“, antwortete Josy. Oh, oh. Meine Freunde aus der anderen Welt suchten mich!
Ich sagte zu Carag: „Jetzt kann ich nicht weg.“
Warum? fragte er.
Ich antwortete: „Zum zehnten Mal! Das Projekt soll erst mal geheim bleiben!“
Oh war das einzige, was ihm als Antwort einfiel.
„Na ja … Ich muss es auch noch testen“, sagte ich verzweifelt.
Carag meinte: Egal, wir schaffen das.
„Du bist der beste Freund, den man sich wünschen kann“, sagte ich.
Kapitel 23: Lea
Gemeinsam gingen Joe und Lea in den Keller, vorbei an dem Regal mit den Vorräten an Kakao. Sie gingen langsam auf die Tür des Tunnels zu und Lea öffnete sie. Wie immer sah man den runden Glasdurchgang. Dort konnte man jederzeit hingehen, um Fische zu beobachten. Aber dazu waren sie jetzt nicht hergekommen. Schnell liefen sie durch den Tunnel hindurch und auf der anderen Seite öffnete sich das Portal zur Parallelwelt Turtines.
Die Welt sah so bunt aus wie früher. Und schon kam wieder die Welle. Renn einfach geradeaus und hoffe, dass sie dich in die Feuerwelt spült, dachte Lea, und sie rannten los. Bald verloren sie sich, doch Lea hoffte, Joe würde genau da landen, wo es auch sie hin spülte.
Nach wenigen Augenblicken landete Lea wieder mal auf dem heißen Boden. Schnell schaute sie sich nach Joe um.
Plötzlich hörte sie eine Stimme hinter sich: „Lea? Sind wir hier richtig?”
Lea drehte sich um. Da stand Joe mit nasser Kleidung.
„Ja”, sagte sie. „Keine Sorge, dir wird gleich wieder warm.”
Er lächelte und seufzte, weil es so heiß war.
Sie machten sich auf den Weg durch die Feuerwelt, als plötzlich ein brennender Puma auf sie zukam. War das derselbe Puma, der Lea bereits bei ihrem ersten Besuch die Feuerwelt gezeigt hatte? Tatsächlich, der Puma schien sie erkannt zu haben. Lea versuchte, ihre neu erworbene Gedanken-Lese-Fähigkeit bei dem Puma anzuwenden, und hörte eine kleine Stimme in ihrem Kopf.
Schön dich wiederzusehen, Lea. Ich heiße übrigens Jay. Jay guckte sie süß an.
„Wie geht es dir?”, fragte Lea beeindruckt davon, dass sie seine Gedanken hören konnte.
Mir geht es gut. Meine Frau Roxy und ich haben ein Baby bekommen. Es ist ein Junge, und er heißt Blade. Und wie geht es dir, Lea? fragte die kleine Stimme in ihrem Kopf.
Wie cool! Lea konnte mit ihm reden! „Mir geht es gut. Das ist Joe. Wir suchen einen bestimmten Stein. Kannst du uns helfen?”, fragte sie.
Klar doch. Was soll es denn für ein Stein sein?
„Redest du gerade mit einem Puma?“, fragte Joe verblüfft.
Lea nickte. „Ich kann seine Gedanken lesen. Jetzt will er wissen, was für einen Stein wir suchen.“
Joe sagte in Richtung Puma gewandt: „Hast du schon mal von den vier Steinen von Turtines gehört?”
Jay schreckte zusammen. So sah es zumindest aus. Wisst ihr denn nicht, dass diese Steine gefährlich sind? Wofür braucht ihr die?
„Um Turtines zu retten. Vertrau uns“, sagte Lea.
Jay schien zu überlegen und dann hörte Lea die kleine Stimme in ihrem Kopf sagen: Okay. Wenn ihr meint. Dann springt mal auf.
Sie setzten sich auf seinen Rücken und schon rannte Jay los. Wie bei Leas erstem Besuch kamen sie an brennenden Häusern, Vulkanen, Drachen und vielen anderen Feuerwesen vorbei. Joe staunte Bauklötze.
Kapitel 24: Josy
Da wir Lukas nicht finden konnten, eilten Liam und ich alleine wieder zurück zu mir nach Hause. Glücklicherweise war es von dem Baumhaus, in dem Lukas wohnte, bis zu mir nicht sonderlich weit. Als ich da so neben Liam ging, fiel mir auf, dass ich schon wieder zu voreingenommen gewesen war. Bei unserer ersten Begegnung war ich ganz schön misstrauisch gewesen. Und jetzt? Gerade einen Tag war es her, dass Liam in unserem Keller gestanden hatte, aber komischerweise hatte ich jetzt so ein Gefühl, als könnte ich ihm vertrauen, als würden wir uns ewig kennen. So wie es Alina mit Joe gegangen war. Ach, Alina. In dem ganzen Stress der letzten Tage hatte ich komplett vergessen, sie mal anzurufen. Ich würde es nachholen.
Jetzt waren Liam und ich auch schon durch den Tunnel und an dem Punkt angelangt, von wo aus wir in zwei unterschiedliche Richtungen gehen würden. Ein bisschen mulmig war mir schon zumute. Die anderen waren jeweils zu zweit, rechnete man Beyla mit, ich würde jetzt alleine in diese Welt gehen. Was war, wenn es nicht gut ausginge und ich keinen meiner Freunde wiedersehen würde? Was würde ich jetzt dafür geben, Lea neben mir stehen zu haben, die mir sagte, dass alles gut würde.
Die Angst war mir offenbar ins Gesicht geschrieben, denn Liam sagte: „Das wird schon.“
Ich lächelte ihm ängstlich zu, dann liefen wir in zwei unterschiedliche Richtungen.
Kapitel 25: Kathie
Während Josy und Liam also zu Lukas gingen, machte Kathie sich auf zur Lippe. Am Ufer angekommen, holte sie eine Muschel hervor, die als Kette um ihren Hals hing. Sie war leicht lilafarben, vermischt mit ein wenig rosa und himmelblau. Vorsichtig pustete Kathie hinein. Der Ton war so leise, dass man ihn eigentlich gar nicht hören konnte, aber trotzdem dauerte es keine zehn Sekunden und ein gelb-grünlicher Kopf tauchte aus dem Wasser auf.
„Was ist denn los?“, fragte Arlo sie besorgt. Als Arlo Kathie die Muschel geschenkt hatte, hatten sie abgemacht, sie nur bei Alarmstufe Endstation zu nutzen.
„Wir haben keine Zeit! Turti Ness’ Palast! So schnell wie möglich!“, erwiderte sie knapp.
„Ai Ai!“, meinte Arlo und verschwand unter Wasser.
Kathie trat den Rückweg an. Als sie vor der Haustür von Lea und Josy stand, hob sie die Fußmatte ein Stück an. Eilig nahm sie den darunter befindlichen Schlüssel und schloss damit die Tür auf. Sich umguckend legte sie ihn wieder zurück, ging hinein und zog die Tür hinter sich zu. Ohne sich noch einmal umzuschauen und ohne die Schuhe abgeklopft zu haben, watschelte sie durch den frisch gewischten Flur. Kathie stürmte die Treppe hinunter. Die Holzdielen knarrten, als Kathie zu der Tür ging, die seit Peters Auftauchen wieder unabgeschlossen war. Sie drückte die Türklinke hinunter. Obwohl der Anblick atemberaubend schön war, ging Kathie schnell zum Portal. Kurz blieb sie stehen und checkte die Uhrzeit, dann ging sie durch das verschwommene Etwas, das wie eine Seifenblase vor ihr schwebte. Sie merkte nichts, und nun stand Kathie wieder dort, wo sie bereits vor einem Jahr gestanden hatte: auf dem Berg, auf dem das Keller-Portal endete. Damals hatte sie gestaunt und war hin und weg gewesen, doch dieses Mal hatte sie keinen Blick für die beeindruckende Landschaft, sondern nur für das winkende Etwas ganz unten. Schnellen Schrittes ging Kathie den Berg hinunter zu Arlo.
„Hi Arlo“, begrüßte sie ihn knapp.
„Hi Kathie, worum geht’s?“, fragte er.
„Erkläre ich dir unterwegs. Los!“, erwiderte Kathie und zog Arlo mit sich.
Sie erklärte ihm, dass es um Turtines alles andere als gut stand und dass das Erdamulett aus der Wasserwelt verschwunden war.
Gemeinsam gingen sie in Richtung Wasserwelt, um dort Zeugen zu finden, die möglicherweise etwas gesehen haben könnten. Schließlich waren sie vor der Wasserwelt gelandet. Kathie schloss die Augen und machte …
„Denk daran: Du musst pünktlich wieder in deiner Welt sein!“, ermahnte Arlo sie.
Kathie öffnete ihr rechtes Auge. „Ich weiß, Arlo!“
Nun denn. Kathie schloss ihr Auge wieder und …
„Du weißt, uns bleibt keine Zeit …“
„Ich weiß, Arlo! Los!“, fiel Kathie ihm ins Wort. Eilig ging sie voraus. Sie spürte, wie das angenehme, kalte Wasser ihr bis über die Schultern stieg. Und schließlich war sie ganz über der Grenze. Sie sah, dass Arlo hinter ihr ebenfalls über die Grenze gegangen war.
„Wo soll dieses Amulett jetzt angeblich gewesen sein?“, fragte sie ihn.
„In der Shark Street, nahe am Marktplatz! Dort soll es angeblich gewesen sein“, antwortete Arlo ihr.
„Dann nichts wie los!“, meinte Kathie und wollte losgehen, doch ihre Beine zappelten im Leeren. „Ach ja. Schwimmen“, murmelte sie. Und schwamm.
„Ähem?“, räusperte Arlo sich. Kathie schaute ihn an. „Da entlang!“, meinte er.
„Oh! Das … das wusste ich! Also los! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“, meinte Kathie und schwamm eilig in die Richtung, in die Arlo zeigte.
„Natürlich!“, meinte dieser und zwinkerte ihr zu.
Schnell schaute Kathie wieder nach vorne.
Gefühlt dauerte es Jahre, bis sie endlich da waren. Doch als sie schließlich ankamen, meinte Arlo: „Gut. Am besten teilen wir uns auf. Du fragst rechts jeden, den du siehst, und ich links. In Ordnung?“
Der Marktplatz war gut besucht, da jeder sich selbst davon überzeugen wollte, dass das Amulett verschwunden war.
„Okay!“, meinte Kathie.
Und so schwamm jeder in seine Richtung.
Kapitel 26: Beyla
Beyla hatte ein paar Kerzen angezündet, die nach Zimt und frischen Äpfeln rochen, und sich dann im Schneidersitz auf ihr weiches, nach Rosenblüten duftendes Bett gesetzt und die Augen zugemacht, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie war unruhiger geworden seit dem Streit zwischen ihrem Vater und Turti Ness. Sie hoffte immer noch auf eine Antwort des Jungen aus der anderen Welt. Sie wusste nicht, ob er seinen Namen schon beim ersten Aufeinandertreffen erwähnt hatte. Sie hatte sich auf jeden Fall nicht mehr erinnern können. Deshalb war sie umso erleichterter gewesen, als Root zurückkam. „Liam“, hatte er gesagt, doch als Beyla die alte Buche nach einem Menschen namens Liam gefragt hatte – sie wollte schon etwas mehr über ihn erfahren –, konnte der weise Baum ihr nur ein paar Stars aufzählen, die Liam hießen. Es war bedauerlich. Zu gerne hätte sie mehr über den Jungen erfahren.
Sie wurde durch ein Pfeifen aus ihrer Trance geweckt. Neugierig schaute sie aus dem glaslosen Fenster. Liam stand im Innenhof, wo der Boden mittlerweile getrocknet war. Lächelnd weckte sie Root auf, der es sich auf dem Boden gemütlich gemacht hatte, und zusammen empfingen sie Liam, der mit einer Nachricht kam.
„Wir beide müssen den Feuerstein aus der Erdwelt holen, um den Krieg zu verhindern. Ich habe den anderen Bescheid gegeben. Sie machen sich auf die Suche nach den anderen Steinen.“
„Gut, du hast meine Nachricht also bekommen“, antwortete Beyla. „Komm mit.“
Sie gingen zusammen in die Bibliothek. Es war düster und still. Sie liefen zu dem Regal mit den vergilbten Landkarten, und Beyla zog ein Buch heraus. Es war Teil eines versteckten Mechanismus, den nur die Königsfamilie kannte. Ein kleines Fach öffnete sich an der alten Blumentapete, die sich schon von der Wand zu lösen begann. Es kam ein altes Pergament zum Vorschein und Beyla nahm es vorsichtig heraus. Sie rollte es auf.
„Hier müssen wir hin“, sagte sie und zeigte auf die Mitte der Karte, wo ein Berg abgebildet war.
Liam nickte und Beyla steckte die Karte in ihre Umhängetasche aus braunem Leder, bevor sie wieder auf den Hof gingen.
„Warte hier“, sagte sie und ließ ihn stehen.
Sie kam zurück mit einem Gewand aus Leinenstoff, das Ähnlichkeit mit ihrem eigenen hatte. „Hier, zieh das über, damit du nicht so auffällst“, sagte sie und hielt es ihm hin. „Keine Sorge, ich gucke nicht.“ Sie drehte sich um und ging.
Als sie mit einem großen Maulwurf zurückkam, der neben ihr herlief, fiel dem mittlerweile umgezogenen Liam die Kinnlade herunter.
„Wow“, sagte er einfach nur und ließ seine Hand durch das kurze Fell des Riesentiers streichen, das laut grunzte.
„Liam, das ist Flora, mein Maulwurf. Flora, das ist Liam“, sagte Beyla in die Stille hinein.
Flora grunzte noch einmal.
Beyla holte einen großen braunen Sattel aus einer Kammer und setzte ihn dem aufgeregten Maulwurf auf. „Es kann losgehen.“ Sie ließ Liam den Vortritt, weil er sicher etwas Hilfe beim Aufsteigen brauchen konnte. Dann verabschiedete sie sich von Root: „Ich weiß, du willst mitkommen, aber je mehr Leute wir sind, desto gefährlicher ist es.“ Sie setzte sich zu Liam. „Halt dich fest“, warnte sie ihn noch. Dann gab sie Flora einen Klaps auf die Seite, und der Maulwurf fing an, sich über die harte steinige Erde zu wühlen.
In der Nähe vom Schloss war ein kleiner Erdberg, der Ähnlichkeit mit einem Maulwurfshügel hatte. Beyla ließ sich auf den warmen Körper des Maulwurfs fallen und genoss die Vorfreude auf das Gefühl, das sie nun überkommen würde. Fallen. Sie hörte Liam hinter sich schreien und konnte spüren, dass er sich verkrampft an ihr festhielt. Doch sie blendete es aus. Sie wollte öfter reisen. Es war überwältigend.
Als sie wieder aufschaute, waren sie in einem von Fackeln beleuchteten Tunnel, umgeben von weiteren Maulwürfen, auf denen Passanten saßen. Diese waren allerdings mit allerlei anderen Sachen beschäftigt und bemerkten die Tochter des Erdkönigs nicht. Das war auch gut so, denn die Bewohner waren im Moment nicht gut auf die Königsfamilie zu sprechen. Sie glaubten daran, dass Beylas Vater den Erdstein geklaut hatte. Liam hinter ihr war offenbar sprachlos. Verwundert musterte er die anderen Leute und die verschiedenen Abzweigungen, die in weitere Tunnel führten. Beyla nahm ihre Karte aus dem Lederbeutel und rief Flora ein paar Anweisungen zu.
Kapitel 27: Josy
Endlich war ich in der Luftwelt angekommen. Alle wuselten hin und her, die meisten versteckten sich in Wolkenbunkern. Da sah ich Rosa. Ich war so erleichtert wie lange nicht mehr. Sie kam auf mich zu, doch das bunte, sonst so fröhliche Einhorn schaute ernst und besorgt.
„Wieso verstecken sich alle in den Bunkern?“, fragte ich, als wir uns erreicht hatten.
„Sie haben Angst, dass der nächste Krieg ausbricht, und sie wollen nicht sterben. Aber was machst du hier? Es ist viel zu gefährlich!“, entgegnete mir meine plüschige Freundin.
„Meine Freunde und ich haben beschlossen, dass wir den Krieg verhindern. Hilfst du uns? Wir haben uns alle auf die unterschiedlichen Welten aufgeteilt, und ich bin hier alleine. Bitte hilf mir.“
Kapitel 28: Beyla
Nach einer guten Stunde – Liam war mittlerweile eingeschlafen – nahmen sie endlich den Ausgang und kamen mitten im Wald heraus.
„Liam, wach auf“, versuchte Beyla Liam sanft zu wecken.
Verschlafen rieb er sich die Augen und schaute sich um. Nur wenige Sonnenstrahlen fielen durch die dichten Nadelzweige auf die beiden hinab und tanzten auf ihrer Haut. Beyla und Liam stellten Flora ab und ließen einen kleinen Kristall bei ihr, um später wieder zurück zum Maulwurfshügel finden zu können. Dann stapften sie durch das Dickicht in Richtung Westen, immer der Karte nach, bis sie an eine kleine Lichtung kamen, durch die sich ein Fluss schlängelte. Ein Weg in die Wasserwelt. Man konnte ein Rufen hören, doch je genauer man hinhörte, umso deutlicher erkannte man, dass es eher ein Flüstern war. Im Wasser schwammen viele kleine Fische umher, die hektisch versuchten, sich einen Weg durch das Gewusel zu bahnen. Beyla wollte eine Hand in das glitzernde Wasser tauchen, doch es wich zurück.
„Turti Ness hat also wirklich die Tore geschlossen!“, flüsterte sie gedankenverloren.
„Hä?“, fragte Liam.
„Die Bewohner der Erdwelt können nun weder die Wasserwelt betreten noch mit Wasser in Kontakt kommen“, erklärte sie. „Passagen wie diese gibt es eigentlich nicht oft in den verschiedenen Welten, aber da wir nicht wirklich ohne einander auskommen … Wir alle brauchen Wasser zum Leben und Passagen wie diese sind für die Waldtiere.“
Sie standen auf und gingen weiter nach Westen, wo die Bäume immer weniger wurden. Plötzlich standen sie auf nackter Erde und vor ihnen baute sich ein steiler Berg auf.
Beyla steckte die Karte weg. „Wir müssen da hoch.“ Sie guckte Liam an.
Er sah aufgeregt aus. „Ich liebe Klettern!“ Seine Stimme war voller Erwartung und Vorfreude.
Sie hatten die ersten zehn Meter schon hinter sich, als Beyla sich auf einen kleinen Vorsprung setzte, um kurz zu verschnaufen und auf Liam zu warten, der etwas langsamer als sie war. Als Kind war sie jeden Tag geklettert, weil ihre einzige Freundin eine verrückte alte Dame gewesen war, die auf einem Berg wohnte.
Je höher sie kamen, desto fahriger wurde Liam unter ihr. Auf einmal rutschte er ab. Er fiel auf den nächsten Vorsprung und knallte mit der Stirn auf. Eine hässliche Platzwunde bildete sich auf seiner Stirn und Liam sah benommen zu Beyla hoch. Sie sprang runter zu ihm und kramte besorgt in ihrer Tasche, nachdem sie Liams Tränen weggewischt hatte.
„Bleib ruhig, okay? Ich kann dir helfen!“, sagte sie suchend. Sie sagte es nicht nur, um Liam zu beruhigen, nein, auch um sich selbst Mut zuzusprechen.
Sie holte ein Bündel mit roten getrockneten Blumen heraus, nahm eine der Blüten und zerrieb sie zwischen den Fingern. Dann legte sie vorsichtig die Hand auf Liams Stirn, der ein Wimmern ausstieß. Sie schloss die Augen und konzentrierte all ihre Energie auf die Wärme unter ihrer Hand, die nun zu kribbeln begann. Der Felsvorsprung wurde einen Moment in ein grünes Schimmern getaucht, das so schnell wieder verschwand, wie es erschienen war. Beyla öffnete die Augen. Liam hatte seine noch immer zugekniffen, seine Wangen waren wieder nass von Tränen. Aber keine Spur mehr von der Wunde auf seiner Stirn.
Jetzt öffnete auch er vorsichtig die Augen und fasste sich verwundert an die Stelle, wo eben noch eine Wunde geklafft hatte.
Kapitel 29: Lea
Jay steuerte auf einen glühenden Berg zu. Als sie näher kamen, entdeckten sie den Eingang zu einer Höhle.
Dort müsst ihr hinein, hörte Lea Jays Gedanken.
Lea und Joe bedankten sich schnell und gingen hinein. Es war stockduster. Man konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Plötzlich sahen sie ein rotes Licht am Ende des Gangs. Vorsichtig gingen sie darauf zu. Was da so leuchtete, war ein kleiner glänzender Stein, der in einem Käfig lag und durch Laserstrahlen abgesichert war.
„Das muss der Stein sein. Wie sollen wir da jetzt drankommen?”, fragte Lea.
Eine Stimme ertönte: „Was wollt ihr hier?”
„Wir würden gerne den Stein haben”, sagte Joe.
„Wisst ihr nicht, wie gefährlich dieser Stein ist?”, erwiderte die Stimme.
„Doch, das wissen wir”, sagte Joe.
Sie beide starrten in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dann erkannten sie ein rothaariges Mädchen in ihrem Alter, das ein glühendes Zepter in der Hand hielt.
„Wer bist du?”, fragte Lea.
„Ich bin die Wächterin des Steins der Feuerwelt. Meine Aufgabe ist es, den Stein Tag für Tag zu bewachen, bis ein neuer Hüter kommt und ihn mir abnimmt. Ist einer von euch der neue Hüter?”
Lea und Joe guckten sich an.
„Ich bin es”, sagte Joe.
Das Mädchen schaute Joe fest in die Augen und sagte schließlich: „Ich glaube dir!” Sie öffnete den Käfig und gab Joe den Stein. „Pass gut darauf auf”, sagte sie.
Lea und Joe konnten ihr Glück kaum fassen. Sie verabschiedeten sich von der Wächterin und machten sich auf den Weg zurück zum Portal.
Kapitel 30: Beyla
Der Rest des Aufstiegs verlief etwas entspannter, da sie nun vorsichtiger waren. Beyla hatte darauf bestanden, dass Liam vorauskletterte, und bald hatten sie die Kante des Berges erreicht. Erleichtert zogen sie sich hoch und verschnauften kurz, bevor sie sich umschauten. Eine kleine Hütte mit schiefem Dach und ungleichmäßig aufeinander gestapelten Ziegeln wurde sichtbar. Eine kleine alte Frau saß davor auf einem Schaukelstuhl und hielt eine dampfende Tasse in der Hand.
Als sie die beiden sah, bildete sich ein Lächeln auf ihrem faltigen Gesicht. „Beyla“, sagte sie freudig. „Schön, dass du mich mal wieder besuchst!“
„Ihr kennt euch?“, fragte Liam verwundert.
„Beyla kommt öfter her, um ihre alte Freundin zu besuchen und nach dem Feuerstein zu schauen“, meinte die alte Frau erklärend.
„Ach … zu dem Stein.“ Beyla kam auf sie zu. „Wir brauchen ihn. In Turtines droht ein Krieg auszubrechen, und wir brauchen die Steine, um den Frieden zu wahren.“
Die Frau nickte. „Trinkt doch erst mal einen Kräutertee mit mir!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, huschte sie in die Hütte und kam mit zwei weiteren Tassen heraus.
Liam schaute hinüber zu Beyla. Sie nickte nur aufmunternd. Der Tee schmeckte bitter, aber gut, und sie hatten ihn schnell ausgetrunken. Die alte Frau gab ihnen den rot schimmernden Rubin in Flammenform und zeigte ihnen eine kleine Rutsche, die zum Fuß des Berges führte. Lachend rutschten sie hinunter. Der Rückweg ging schneller, weil sie den Kristall hatten und er ihnen zeigte, wo Flora und der Eingang zum Maulwurfshügel waren.
Als sie wieder aus dem Maulwurfshügel nahe dem Schloss kamen, dämmerte es schon, und Liam und Beyla verabschiedeten sich hektisch voneinander. Bald wären drei Stunden vergangen und Liam musste sich beeilen.
Beyla drückte Liam beim Abschied noch den Feuerstein und einen Zettel in die Hand. „Wir sehen uns morgen an der Lippe. Gib den anderen Bescheid“, sagte sie, bevor sie ihm die Tür öffnete.
Er nickte ihr noch ein letztes Mal zu, ehe er die Tür hinter sich zuzog.
Kapitel 31: Arlo und Kathie
Als erstes fragte Arlo eine Meeresschnecke: „Entschuldigen Sie, aber haben Sie irgendetwas Auffälliges hier gesehen?“
„Was? Wie? Nein! Die doofen Erdwelt-Bewohner haben das Ding geklaut! Ja, das meinen auch Jenny und der Hans! Ach und …“, begann die ältere Schnecke, doch Arlo unterbrach sie.
„Schon gut! Vielen Dank für Ihre Zeit!“, meinte er und schwamm eilig weiter.
Nach zwei Stunden trafen sich Arlo und Kathie wieder am Tor zu den anderen Welten. „Und?“, fragten sie gleichzeitig.
„Nichts“, erwiderte Arlo.
„Also, ich vielleicht“, berichtete Kathie. „Einige meinten, ein Mädchen mit roten Haaren und lilafarbenem T-Shirt hier gestern gesehen zu haben. Aber ob das eine Spur ist? Ich glaube, wir müssen darauf hoffen, dass die anderen etwas herausgefunden haben.“
„Na dann schnell“, sagte Arlo. „Du musst zurück in deine Welt, und ich muss …“
„Jaaaaa?“, fragte Kathie neugierig.
„Ähem … Also …!“, stotterte Arlo.
„Wie heißt sie? Kenn ich sie? Woher kommt sie?“, fragte Kathie und sah ihn erwartungsvoll an.
„Woher …?“
„Na wie auch immer! Viel Spaß und … erzähl mir mal, wie es war!“, meinte sie und zwinkerte.
Eilig ging sie zurück in ihre Welt. Arlo sah ihr noch nach. Dann ging er ebenfalls. Zu Chrispi.
Kapitel 32: Lea
Lea und Joe waren begeistert, dass sie das Luftamulett aus der Feuerwelt mitnehmen konnten. Während sie wieder zum Portal zurückliefen, betrachteten sie den Stein genauer. Es war ein durchsichtig schimmernder Mondstein, der die Form einer Wolke hatte. Er glänzte wunderschön.
„Kaum zu glauben, dass wir das geschafft haben, oder?“, sagte Joe begeistert.
„Ja, Wahnsinn“, stimmte Lea ihm zu.
Als sie am Portal angelangt waren, öffnete es sich. Sie gingen durch den Tunnel zurück in den Keller von Leas und Josys Haus. Als sie an dem Regal mit dem Kakaovorrat vorbeikamen, entdeckten sie einen Zettel, der dort klebte.
Lea las die Nachricht vor:
Hallo zusammen,
ihr kennt mich noch nicht, aber ich bin diejenige, die Liam um Hilfe gebeten hat, um Turtines zu retten. Ich würde mich gerne morgen früh mit euch allen an der Lippe treffen, um zu besprechen, was wir als nächstes tun. Falls ihr mich vorher erreichen möchtet, dann wendet euch bitte an Liam, der mir Bescheid geben kann. Ich freue mich schon auf euch.
Liebe Grüße
Beyla Black
„Ob Beyla hier war?“, fragte Joe.
Lea schüttelte den Kopf. „Sicher hat sie Liam den Brief für uns mitgegeben.“
„Gut“, sagte Joe, „dann sehen wir uns also morgen am Fluss.“
„Warte“, sagte Lea, „wer von uns beiden behält denn jetzt den Mondstein?“
„Den kannst du ruhig aufbewahren“, meinte Joe.
„Mir ist egal, wer ihn nimmt. Eigentlich bist du ja der neue Wächter des Steins. Also finde ich, du solltest ihn haben“, sagte Lea.
„Okay“, erwiderte Joe und nahm den Mondstein an sich.
Dann gingen sie nach oben, und Joe machte sich auf den Weg nach Hause.
Im Wohnzimmer traf Lea auf Josy. „Hey, wie war es mit Rosa in der Luftwelt?“, fragte sie, „hast du den Stein in gefunden?“
Josy nickte und nahm einen Aquamarin hervor, der die Form eines Tropfens hatte. „Und? Habt ihr den Stein in der Feuerwelt gefunden?“, fragte Josy.
Lea nickte. „Ja, wir haben einen Mondstein mitgebracht, der aussieht wie eine Wolke. Joe hat ihn mit nach Hause genommen.“
Die beiden Schwestern guckten sich mit fröhlichen Gesichtern an.
„Wie war es denn?“, fragte Lea.
„Wie meinst du das?“, fragte ihre Schwester.
„Wie war es, wieder bei Rosa zu sein?“
„Rosa zu sehen war toll. Aber es war auch unheimlich zu sehen, wie die Luftwelt sich auf den Krieg vorbereitet. Und wie war es so bei dir?“, fragte Josy.
„Ich habe den kleinen Puma wiedergetroffen. Er heißt übrigens Jay. Seine Frau heißt Roxy und die beiden sind gerade Eltern geworden. Ihr Sohn heißt Blade“, erzählte Lea ganz aufgeregt.
„Woher weißt du das alles?“, wollte Josy wissen.
„Ich habe herausgefunden, dass ich auch Gedanken von Tieren lesen kann, und so konnte ich mit Jay kommunizieren. Er hat uns übrigens auch zu dem Stein geführt.“ Und dann erzählte Lea Josy die ganze Geschichte, wie sie den Stein gefunden hatten, und von dem rothaarigen Mädchen, das ihn bewacht und ihnen den Stein letztendlich überlassen hatte.
„Wow!“, sagte Josy. „Ganz schön aufregend das alles.“
„Das war es wirklich“, bestätigte Lea.
Kapitel 33: Madeleine
Seit meinem Ausflug in die Wasserwelt sind jetzt schon fast zwei Tage vergangen.
Ich sitze wieder an der Lippe, diesmal mit dem Anhänger in der Hand.
Es scheint so etwas wie ein Samen im Bernstein eingeschlossen zu sein.
Ich weiß jetzt auch, was hinten eingraviert ist: terra mundi. Ich bin zwar nicht die Beste in Latein, trotzdem ist auch mir klar, dass es Erdwelt bedeutet.
Das verstehe ich nicht. Ich dachte, ich war in der Wasserwelt – das hat Schildti doch gesagt.
Gibt es etwa noch andere Welten? Vielleicht frage ich Schildti das mal.
Vorsichtig streiche ich über die glatte Oberfläche des Bernsteins. Für mich war Magie immer nur Bestandteil meiner Fantasie und Träume, jetzt wird sie real. Ob das etwas Gutes ist?
Und wenn ja, bringt alles Gute nicht immer auch Schlechtes mit sich?
Ein Geräusch von hinten unterbricht den Gedankenfluss: „Eeehhmm.“ Ein Mädchen mit langen braunen Haaren steht vor mir. Was will die denn jetzt von mir?
„Kann es sein, dass ich dich hier schon mal gesehen habe?“, fragt sie.
Woher soll ich wissen, ob die mich schon mal gesehen hat? Sie ist eher zierlich und scheint irgendwie schüchtern zu sein, sonst würde sie nicht mit den Händen hinter dem Rücken und von einem auf das andere Bein tretend vor mir stehen.
„Weiß nicht, kann sein. Sitze manchmal eben hier“, antworte ich vorwurfsvoll und verwundert über diese Nachfrage.
Das Mädchen jedoch stellt weiter Fragen: „Auch vorgestern? Kann es sein, dass du da in der Lippe geschwommen bist?“
Jetzt bin ich vollkommen verwirrt. Woher weiß die das? Ich habe ja schon oft was von Stalkern gehört, aber dass ich selbst auch mal betroffen sein würde, hätte ich nicht gedacht.
„Wieso“, meine ich, „hast du mich beobachtet?“
„Nee, habe da was gehört. Hattest du da vielleicht ein lilafarbenes T-Shirt an?“
Ich habe ein ungutes Gefühl. Was will die von mir? Wieso stellt sie mir so seltsame Fragen? Was sage ich jetzt? Ich will einfach nur weg. Also meine ich: „Keine Ahnung, schon möglich. Ich muss jetzt aber nach Hause, habe noch etwas vor.“
Ich bin noch nie in meinem Leben so schnell aufgestanden wie gerade. Hastig versuche ich wegzulaufen, ohne zu rennen. Es fühlt sich an, als wären hundert Blicke auf mich gerichtet.
Im Hintergrund erklingt noch ein leises, fast trauriges „Tschüss.“
Kapitel 34: Lea
Am nächsten Morgen machten sich Lea und Josy fertig für das Treffen. Das Wetter sah vielversprechend aus. Draußen schien bereits die Sonne.
Nach dem Frühstück sagte Josy: „Okay. Dann mal los.“
Sie machten sich auf den Weg zum Fluss. Dort angekommen sahen sie Liam am Ufer neben einem Mädchen mit karamellfarbenen Locken stehen. Das musste Beyla sein. Kathie und Joe waren auch schon da und Arlo schwamm seine Runden im Wasser.
Das Mädchen neben Liam hielt ein Buch in der Hand. Als die Zwillinge sich zu den anderen gesellten, sagte sie: „Hallo, mein Name ist Beyla. Beyla Black. Ich bin die Tochter des Erdherrschers in Turtines. Ich habe dieses Treffen organisiert, weil ich eure Hilfe brauche. Ihr habt gestern bereits geholfen, drei der Elementsteine in Sicherheit zu bringen und nach dem vierten zu suchen. Wenn wir ihn nicht finden und die vier Herrscher von Turtines dazu bringen, sich wieder zu versöhnen, wird es einen Krieg geben. Vor elf Jahren hat es schon einmal einen furchtbaren Krieg der Welten in Turtines gegeben. Niemand spricht mehr darüber. Aber ich habe davon in diesem Tagebuch gelesen.“ Beyla zeigte ihnen das Buch. „Hier gibt es ein paar Einträge, die sehr wichtig sind.“ Beyla las vor:
Samstag, der 16. August
Tyson hat heute das gesamte Schloss abgesichert. Beyla fragt mich immer wieder, was mit ihm los ist. Aber sie ist zu jung, um es zu verstehen. Eines Tages wird sie es erfahren. Ich habe versucht, Tyson davon abzuhalten, in den Krieg der Welten mit einzusteigen, aber er lässt sich nicht aufhalten. Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf. Ich versuche weiterhin, ihn zu überreden.
Lilith
Sonntag, der 17. August
Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Tyson ist so ein Dickkopf! Er will einfach nicht auf mich hören, bis er den Krieg gewonnen hat. Zusammen mit freiwilligen Männern aus den Dörfern und seinen Soldaten will er gewinnen. Aber er wird nicht gewinnen. Die anderen Armeen sind zu stark.
Lilith
Montag, der 18. August
Es ist soweit! Gleich zieht Tyson in den Krieg. Er hat die Feuerwelt als Verbündete gewinnen können. Gemeinsam kämpfen sie gegen Wasser- und Luftwelt, die sich ebenfalls verbündet haben. Root passt auf Beyla auf. Die zwei sind in der Bibliothek. Dort kann Beyla sich stundenlang aufhalten! Sie kommt ganz nach mir! Dass Root da ist, gibt mir schon einmal ein besseres Gefühl. Ich bin extra früher aufgestanden, um die Truppen abzufangen. Ich werde mit in den Krieg ziehen! Da Tyson es mir natürlich verbieten würde, werde ich es tun, ohne dass er es weiß. Ich werde ihn dann hoffentlich stoppen.
Lilith
Meine geliebte Lilith,
ein Jahr ist es nun her, dass du deinen letzten Eintrag geschrieben hast. Ein Jahr, den dieser Krieg gedauert hat, den du nicht stoppen konntest. Ich werde mir nie verzeihen, dass du, um meine dummen Kriegspläne zu stoppen, dein Leben hergegeben hast. Das alles hätte nie passieren dürfen! Wie konnte ich das nur zulassen? Der Krieg hat nicht nur Turtines fast zerstört, nein, er hat mir einen Teil meines Herzens, meines Lebens genommen. Viel zu viele unschuldige Bürger sind gefallen! Das darf nie wieder passieren! Ich bin ein schlechtes Vorbild für Beyla! Ein schlechtes Vorbild für Turtines!
Lilith, du wirst immer in meinem Herzen bleiben!
Dein Tyson
Beyla klappte das Buch zu und sagte dann mit ernster Miene: „Der Erdstein ist immer noch verschwunden. Und ich habe Angst, dass es einen zweiten Krieg geben wird, wenn der Stein in falsche Hände gerät. Oder wenn er verschwunden bleibt und Turti Ness weiter meinen Vater beschuldigt. Wenn das stimmt, was in dem Tagebuch steht, dann müssen wir ihn unbedingt finden.“
„Wer ist dieser Tyson, um den es in dem Tagebuch geht?“, fragte Josy. „Und wer ist diese Lilith?“
„Lilith ist … Sie war meine Mutter“, sagte Beyla leise. „Und Tyson ist mein Vater, der Herrscher der Erdwelt.“
Kapitel 35: Madeleine
Ich bin jetzt endlich zu Hause angekommen und lasse mich erleichtert auf die Couch fallen. Plötzlich höre ich Stimmen von draußen. Schnell drehe ich mich zum Fenster, das auf Kipp steht, und sehe hinaus zur Lippe. Da sitzen sechs Jugendliche in meinem Alter im Gras und besprechen irgendwas, unter ihnen ein Mädel, das schon Karneval zu haben scheint und … dieses Mädchen von eben.
Ich drehe mich wieder weg. War ja klar, dass so ein Mädchen wie die wieder so viele Freunde hat. Immer sind es die Gemeinen, die am beliebtesten sind.
Worüber die wohl so sprechen? Ich weiß zwar, dass es sich nicht gehört, andere zu belauschen, doch ich bin neugierig und höre ihr Gespräch mit. Sie sprechen von irgendwelchen Steinen, von denen einer verschwunden ist. Und von einem Krieg. Und etwas namens Turtines. Was das wohl sein mag? Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor.
Dann liest das Mädchen, das aussieht wie an Karneval, etwas vor. Der Text handelt von einem Krieg, scheint heftig gewesen zu sein. Turtines ist wohl ein Ort oder so. Jetzt reden sie wieder von einem Erdstein, der verschwunden ist. Sie müssen ihn finden, um einen neuen Krieg zu verhindern, behauptet das Mädchen.
Etwas drückt in meiner Hosentasche. Ich krame den Anhänger aus meiner Tasche, auf dem ich schon die ganze Zeit gesessen habe. Ich hoffe, ich krieg da keinen blauen Flecken. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Was, wenn es um diesen Stein geht – den im Anhänger? Vielleicht war das Mädchen deshalb eben so seltsam. Aber was mache ich denn jetzt? Ich will nicht, dass in Turtines, wo auch immer das sein mag, wieder so ein schlimmer Krieg ausbricht! Menschen würden sterben. Das muss ich verhindern!
Ich greife den Anhänger ganz fest, ziehe mir meine Schlappen für den Garten an und eile nach draußen zur Lippe. Als ich da stehe, vor den Jugendlichen, ist erst einmal einen Moment lang alles still, und ich würde am liebsten im Boden versinken, weil ich es hasse, angestarrt zu werden, bis ein Junge sagt: „Du bist das. Das Mädchen, das in die Lippe gefallen und dann plötzlich weg gewesen ist!“
„Eeehmm … Ja, das bin ich wohl. Mein Name ist Madeleine“, meine ich, wobei ich mich frage, woher er weiß, dass ich in die Lippe gefallen bin. Hat er mich etwa auch beobachtet? Egal, den Krieg verhindern ist wichtiger! Da sprudeln die Worte nur so aus mir heraus: „Ich weiß nicht, wo Turtines ist, aber ich habe euch zugehört und wir müssen diesen Krieg verhindern. Ich bin, als ich in der Lippe verschwunden bin, in eine Wasserwelt geraten und habe diesen Stein gefunden. Ich glaube, das ist der, den ihr sucht. Ich will helfen!“
Daraufhin sind mal wieder alle baff.
Ich drehe meinen Kopf zur Lippe, um der Situation ein Stück weit zu entkommen, und entdecke eine Art blau-grünliche Gestalt, die in der Lippe herumschwimmt. Was das wohl sein mag?
Kurz darauf meint ein Mädchen: „Sie sagt die Wahrheit. Ich habe ihre Gedanken gelesen.“
Ich wundere mich. Sie kann doch nicht wirklich Gedanken lesen, oder? Obwohl … Wenn ich Wasserkräfte habe, kann sie vielleicht auch Gedanken lesen. Jedenfalls: Kaum ist dieser Satz gefallen, knubbeln sie sich alle zu einem Pulk und flüstern etwas, bis eine andere mir vorträgt: „Wir haben beschlossen, dass du uns helfen kannst, aber wir brauchen deinen Stein. Ach genau, ich bin übrigens Josy.“
Nach dieser Ansprache meldet sich jeder zu Wort und stellt sich kurz vor. Ich erfahre, dass der Junge, der mich erkannt hat und ganz in Grün und Braun gekleidet ist, Liam heißt, das Mädchen, das meine Gedanken gelesen hat, Lea, meine Stalkerin, die mich gar nicht gestalkt hat, Kathie, ein anderer Junge mit Brille und blonden Haaren Joe und das Mädchen mit den außergewöhnlichen Karneval-Hexen-Klamotten Beyla.
Ich setze mich zu der Truppe. Ein seltsames, aber auch schönes Gefühl – als würde ich auch mal dazugehören. Zusammen überlegen wir uns einen Plan, um die Herrscher zu besänftigen. Es stellt sich heraus, dass Turtines eine Parallelwelt zu unserer Menschenwelt ist und die Wasserwelt, in der ich den Anhänger gefunden habe, auch zu Turtines gehört.
Deshalb kam mir der Name auch so bekannt vor. Schildti hat mir von Turti Ness erzählt. Er ist der Herrscher von Turtines.
Die anderen zeigen mir die Steine aus den anderen Welten. Sie sind wunderschön.
Ich erzähle, was wirklich mit dem Erdstein passiert ist. Alle haben nämlich gedacht, einer der Herrscher hätte den Stein geklaut. Ich meine, dass ich durch eine Ente, die mich erschreckt hat, in die Lippe gefallen bin, dort meine Wasserkräfte entdeckt und lieben gelernt habe. Außerdem beschreibe ich ihnen das besondere Symbol an der Felswand und wie ich schließlich in die Wasserwelt gekommen bin. Auch die Begegnung mit Schildti und meine Vermutung, tatsächlich rechtmäßige Thronfolgerin zu sein, bleiben nicht außen vor. Als letztes berichte ich noch von dem fast magischen Moment, als ich den Anhänger gefunden habe. „Und den habe ich dann einfach mitgenommen, ohne zu überlegen“, schließe ich meine Erzählung ab.
Den anderen ist die Situation jetzt viel klarer und wir überlegen uns einen Plan: Wir werden alle Herrscher zusammentrommeln und dann die Lage erklären, beschließen wir.
„Du musst aber unbedingt mitkommen, Madeleine“, beschließt Joe, und ich stimme zu. Ich freue mich schon, mehr von Turtines zu sehen.
Nachdem die Bedeutung der Steine und der weiterführende Plan geklärt sind, habe ich noch eine Frage: „Sag mal, Beyla … Wieso siehst du eigentlich aus, als wäre gerade Karneval?“
Daraufhin erschallt lautes Gelächter, bis Beyla mir antwortet: „Keine Ahnung, was Karneval ist. Aber für mich ist das ganz gewöhnliche Kleidung. Ich komme eben nicht von hier, sondern aus der Erdwelt von Turtines. Mein Vater ist da sogar Herrscher.“
In diesem Moment kommt ein seltsames Gefährt aus der Lippe geschossen und bleibt direkt vor uns am Ufer stehen.
Kapitel 36: Shadow
Ich fuhr, flog und schwamm durch Turtines. Ich hielt nur kurz vor dem Restaurant meiner Eltern.
Carag schrie: Ich hasse Achterbahn!, als wir hielten.
Kurz darauf rasten wir aber schon wieder mit einer Höllengeschwindigkeit weiter.
Baust du mir eigentlich den „unzerstörbaren Kratzbaum“, den du mir vor zwei Zyklen[1] versprochen hast?, fragte Carag. Ich hatte ihm zum elften Prismatag[2] einen Kratzbaum versprochen.
„Ich tue, was ich kann!“, schrie ich, da wir unbeabsichtigt in der Lippe gelandet waren, direkt vor meinen Freunden, die mit zwei fremden Mädchen und einem fremden Jungen am Ufer saßen. Eins der Mädchen kam mir bekannt vor. Sie hatte wilde karamellfarbene Locken.
„Na, wenn das nicht Lukas ist, dann weiß ich auch nicht!“, rief Joe.
Ich ließ die Windschutzscheibe einfahren und stieg mit Carag aus.
„Wer ist das denn?“, fragte das Mädchen mit den karamellfarbenen Locken und deutete auf Carag.
Ich bin Carag, der beste Puma der Parallelwelt Turtines!
„Aber du bist doch gar k…“, fing Josy an, doch ich fiel ihr ins Wort.
„Nein!!! Sag das NICHT!!!“, brüllte ich.
„Ohhhkay …“, sagte Josy kleinlaut.
„Und was ist das für ein verrücktes Fahrzeug, mit dem ihr gekommen seid?“, fragte Kathie verwundert.
„Das sollte eigentlich noch geheim bleiben“, antwortete ich. „Aber jetzt könnt ihr es auch genauso gut wissen. Es ist ein Bus, mit dem man problemlos alle vier Welten von Turtines durchfahren kann.“
„Genial!“, rief Josy aus. „Genau das, was wir jetzt brauchen! Bist du bereit, damit alle vier Herrscher von Turtines einzusammeln und zum Palast du bringen?“
„Klar!“, sagte ich.
Als alle eingestiegen waren, schloss ich die Windschutzscheibe und sagte das Wichtigste: „Also, das Fahrzeug ist gepanzert und sollte auch Atombomben standhalten. Alle auf die Plätze, die sie möchten. Alle bereit?“, fragte ich.
Ein mehrstimmiges „JA!“ ertönte, dann rasten wir los.
Kapitel 37: alle
Als sie es endlich geschafft hatten, alle vier Herrscher im Palast, dem Herzen von Turtines, zu versammeln, stritten sich die Regenten immer noch, wie sie es bereits auf dem Hinweg zum Palast getan hatten.
„Ich bin mir sicher, du warst es selbst, Turti Ness! Du warst immer davon besessen, der Herrscher für alle Zeiten zu sein!“, schimpfte Tyson Black.
„Wie kannst du es wagen! Warum sollte ich so etwas nur tun?! Schließlich …“, begann Turti Ness zu erwidern.
„RUHE!“, schrie Arlo.
Die Könige schauten verdutzt zu den Kindern hinüber.
„Wie im Kindergarten!“, murmelte Kathie.
„Das stimmt!“, raunte Josy zurück.
„Der Grund, warum wir euch hierher geführt haben, ist, dass der angebliche Diebstahl ein riesengroßes Missverständnis ist!“, begann Lukas.
„Genau! Madeleine hier ist durch Zufall nach Turtines gekommen. Durch das Portal in der Lippe. Ebenso Liam“, erklärte Lea und machte eine Handbewegung in Richtung der beiden.
Sie nickten zur Bestätigung.
„Na ganz toll“, murmelte Turti Ness. „Jetzt habe ich gerade euch mein Einverständnis gegeben, hier rumzuspielen wie die Poltergeister, und jetzt kommen wieder neue Nervensägen!“
„Mhmh!“, räusperte sich Arlo.
Beleidigt verschränkte Turti Ness die Arme. „Und jetzt fällt mir auch noch mein eigener Enkel in den Rücken!“, nuschelte er so laut, dass es trotzdem noch alle deutlich verstehen konnte. Dafür wurde er von den Kindern mit bösen Blicken durchbohrt. Er hob beschwichtigend die Hände.
Dann schien ihm etwas einzufallen. „An welchem Tag sind die beiden denn durch das Portal gekommen?“, brummelte er.
„Vor zwei Tagen“, sagte Lea.
Turti Ness funkelte seinen Enkel wütend an. „Hättest du nicht an dem Tag Wache am Portal halten sollen?“
„Ich … Mir ist etwas dazwischen gekommen“, gab Arlo kleinlaut zu und blickte zu dem Seeungeheuermädchen hinüber, das sie auf der wilden Fahrt durch Turtines unterwegs noch eingesammelt hatten.
„Ist doch jetzt egal! Auf jeden Fall hat Madeleine den Erdstein unabsichtlich mitgenommen. Sie wusste nicht, welche Bedeutung er hat“, setzte Joe fort.
Die Regenten schüttelten die Köpfe und redeten wild durcheinander.
„Meine Herren! Ich muss doch bitten!“, meinte Tyson Black.
„Also wirklich! Paps, sag doch auch was!“, meinte Arlo zu Loch Ness, der in Anbetracht der brenzligen Situation extra aus Schottland angereist war.
Doch Loch Ness sah Madeleine gebannt an.
„Hallo?! Erde an Paps!“, meinte Arlo und wackelte mit der Flosse vor Loch Ness’ Augen herum, der allerdings immer noch Madeleine ansah.
„Ma… Maddie? Madeleine? Ist das dein Name?“, fragte er und starrte sie weiterhin an.
„Ähem … Ja. Warum?“, fragte Madeleine.
„Aber das ist doch völlig unmöglich, das ist doch … Ich … Aber wie …?“, stotterte er.
„Wie was?“, fragte Beyla ungeduldig.
„Maddie! Du hast die Augen deiner Mutter!“, raunte Loch Ness.
Madeleine sah ihn an, als hätte sie einen Geist gesehen. „Sie kannten meine Mutter? Meine echte Mutter?“, fragte sie.
„Maddie, du wurdest als Baby abgegeben, oder? Du hast Wasserkräfte, oder? Du bist bei Adoptiveltern groß geworden, richtig?“, fragte er ungläubig.
„Ja … Nein … Also … Woher wissen Sie das alles?“, fragte Madeleine.
Loch Ness hatte Tränen in den Augen. Schnellen Flossenschlags schwamm er auf sie zu. „Du bist meine Tochter!“, schluchzte er. „Du bist meine Tochter!“
Madeleine stand da, in den Armen Loch Ness, und wusste nicht, was sie machen sollte. Dann begriff sie. Sie nahm ihren Vater in die Arme. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Arlo auf sie zuschwamm und sie sicherlich auch umarmen wollte, doch dann stoppte er und sank zu Boden. Erschrocken sah er Madeleine an. Sie stürzte auf ihn zu …
Kapitel 38: Arlo
Ich konnte es immer noch nicht fassen. Sie … sie war meine Schwester … Also, meine Halbschwester. Ich hatte schon eine Weile mit ihr verbracht. Ich war zusammen mit ihr in den Palast gekommen und hatte sie als nettes und aufmerksames junges Mädchen gesehen. Aber niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass sie meine Halbschwester sein könnte. Und jetzt stand ich da und starrte an die Decke. Ich hatte in Büchern davon gelesen, dass es Kinder gibt, die nicht wissen, wer ihre Eltern sind und nach ihnen suchen und die dann auf Geschwister und Halbgeschwister stoßen, von denen sie nichts geahnt haben, aber dass mir das mal passieren würde …
Madeleine tat mir schrecklich leid. Wie war es wohl herauszufinden, dass man ein Waisenkind ist. Dann auch noch, dass man die Tochter von einem Seeungeheuer war und die eigene Mutter vor vielen Jahren in einem Krieg getötet worden war. Ich schaute mit gemischten Gefühlen zu der Umarmung, wenige Flossenschläge von mir entfernt, die sich langsam löste. Madeleine und mein Vater sahen so glücklich aus.
Ich wollte gerade losschwimmen, um Madeleine ebenfalls in die Arme zu schließen, als ich plötzlich einen dunklen Schatten hinter einer der vielen Säulen sah. Dieser Schatten zielte mit einer Waffe auf … Ich folgte der Richtung, in die die Waffe zielte, mit dem Blick … Sie zielte auf Madeleine! Ich dachte gar nicht darüber nach, was mir passieren würde, nur was Madeleine zustoßen könnte. Ich schwamm los und sprang mit einem Satz genau in dem Moment, als der Pfeil durchs Wasser gesaust kam, vor Madeleines Körper. Ich spürte, wie etwas meinen Körper durchdrang. Ich spürte, wie mein Herz langsam versagte und ich zu Boden sank, strengte mich aber an durchzuhalten. Als Madeleine sich vor mir auf den Boden kauerte, hörte es endgültig auf zu schlagen …
Kapitel 39: Chrispi
Ich hockte zusammengekauert vor dem leblosen Körper Arlos. Er starb als Held. Als Lebensretter. Er starb, um das Leben seiner Halbschwester zu retten. Aber was er nicht wusste und auch nie wissen würde, war, dass er dadurch mein Leben zerstörte.
Kapitel 40: Joe
Nachdem alles gelaufen war, rief ich Alina an. Ich sagte: „Hallo Alina, ich habe dir ja versprochen, dich zurückzurufen und dir zu erzählen, was passiert ist.“
Alina antwortete: „Ja, und was ist jetzt bei euch los?“
Ich fing an zu erzählen: „Wir mussten, um Turtines zu retten, aus jeder Welt einen Stein holen. Sonst wäre ein Krieg ausgebrochen.“
Alina sagte: „Das ist ja schrecklich. Ist denn alles gutgegangen?“
„Alina“, sagte ich. „Ich muss dir etwas Trauriges erzählen. An dem Tag, an dem wir Turtines gerettet haben, ist Arlo gestorben.“
Alina sagte: „Oh nein … Wie ist Arlo denn gestorben?“
„Er wurde von einem Pfeil getroffen“, sagte ich. „Es passierte, als er seiner Halbschwester das Leben rettete.“
„Ich wusste nicht, dass Arlo eine Schwester hat“, sagte Alina leise.
„Das wusste Arlo bis dahin auch nicht“, erklärte ich. „Arlos früherer Freund Jerry wollte sie töten. Er wollte nicht, dass Arlo glücklich ist. Jerry wollte eigentlich Arlos Schwester treffen, aber Arlo hat sich dazwischengeworfen.“
Alina schien sprachlos. Ich hörte sie schluchzen und wünschte mir, ich könnte sie in den Arm nehmen und trösten. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte sie: „Wann ist denn die Beerdigung? Ich würde sehr gerne kommen.“
„Das weiß ich nicht“, sagte ich. „Ich rufe dich wieder an, wenn ich weiß, wann die Beerdigung ist.“
„Ich freue mich schon, dich dann zu sehen“, sagte Alina. „Auch wenn der Grund Arlos Tod ist.“
Kapitel 41: Madeleine
Da schwimme ich, auf der Beerdigung meines gestern erst neuentdeckten Halbbruders, nein, Bruders, er war, er ist mein Bruder.
Neben mir schwimmen mein richtiger Vater, das Seeungeheuer von Loch Ness, und Schildti, mein Begleittier in der Wasserwelt und kleiner Schildkrötenfreund. Ich halte seine Flossen ganz fest. Wir haben entschieden, Arlos Beerdigung hier in der Wasserwelt stattfinden zu lassen. Es ist seine Heimat, und ich gehöre jetzt ebenfalls irgendwie hierher, auch wenn ich meine Adoptiveltern und die Menschenwelt echt gerne habe.
Als gerade eine Perle in meiner Hand entsteht – ich habe herausgefunden, dass mir das unter Wasser passiert, wenn ich traurig bin –, kommt Kathie auf mich zugeschwommen. Ich glaube nicht mehr, dass sie meine Stalkerin ist, sondern lerne sie gerade besser kennen. Sie scheint ziemlich nett zu sein. Ich glaube, Arlo ist ihr echt wichtig gewesen. So gern hätte ich ihn kennengelernt, auch mal einen Bruder gehabt. Nur wegen ihm lebe ich noch. Er hat sich geopfert für mich, eine ihm fremde, neue Schwester. Einfach so. Ohne mich würde er noch leben …
Kathie hat eine wunderschöne hellblau-, rosa- und lilafarbene Muschel in der Hand. Sie meint: „Hey, wie geht es dir? Arlo hat mir mal diese Muschelflöte geschenkt, damit ich ihn in Notfällen immer rufen kann. Aber ich glaube, du kannst sie jetzt besser gebrauchen.“
Ich lächle. Mich ehrt es, dass sie mir so etwas Bedeutsames schenkt. Jetzt habe ich meinen Bruder immer bei mir.
Ich antworte: „Wow, dank dir ganz doll. Ich weiß nicht recht, wie ich mich fühlen soll. Ich hätte Arlo unbeschreiblich gerne kennengelernt. Er hatte wohl ein sehr gutes Herz.“
„Ja, er ist einfach wundervoll gewesen …“
Nach einer Weile tritt Turti Ness, mein neuer Großvater, auf das mit Korallen und Wasserblüten geschmückte Podium, das vor uns aus dem Boden ragt. Es ist mit einem beeindruckenden Gemälde von Arlo versehen. Ein fabelhaftes Beispiel für das Wunder, das dieser Welt innewohnt. Mein Opa erhebt die Stimme: „Seid gegrüßt, alle zusammen. Danke, dass ihr so zahlreich erschienen seid, um Arlo Ness, dem Ungeheuer der Lippe, zu gedenken.
Er war uns ein toller Enkel, Sohn, Bruder und Freund und wird für immer in unseren Herzen ruhen. Bevor wir jetzt mit der Trauerzeremonie weitermachen, habe ich noch eine wichtige Neuigkeit zu verkünden: Und zwar werde ich als Herrscher zurücktreten. Ich überlasse diesen Posten meiner Enkelin Madeleine, Tochter von Mareike und Loch Ness. Madeleine, in einem Jahr wirst du 18 Jahre alt. Möchtest du dann den Posten der Herrscherin über die Wasserwelt und all ihre Weiten einnehmen? Außerdem wirst du mit der Zeit nach Absprache mit den anderen Welten auch Herrscherin über ganz Turtines werden. Möchtest du dieses Amt bekleiden?“
Ich bin vollkommen baff und kann es nicht fassen. Vor wenigen Tagen erfahre ich, dass ich adoptiert bin, lerne dann Schildti, die Wasserwelt und meine Kräfte kennen, löse fast einen Krieg aus, begegne Kathie, Lea, Josy, Joe, Liam, Beyla, Lukas und meiner leiblichen Familie, helfe dabei, den Krieg abzuwenden, muss mitansehen wie mein Bruder für mich stirbt, und jetzt schwimme ich hier und soll Herrscherin über die Wasserwelt werden. Ohne großartig nachzudenken antworte ich einfach: „Ja, das will ich, klar will ich.“
Alle applaudieren und gratulieren mir. Ich bin gerade voll im Rausch, mein Körper ist mit so vielen verschiedenen Gefühlen vollgepumpt. Aber schnell lässt der Rausch wieder nach. Ich werde ruhiger, kann nur noch an meinen Bruder denken. Was er für mich getan hat, war unglaublich!
Da geht die Trauerzeremonie auch schon weiter. Jeder spricht ein paar Worte und legt eine Blume nieder oder einen Gegenstand, den er mit Arlo verbindet.
Ich bin als Letztes dran. Mit gesenktem Blick trete ich nach vorn auf das Podium: „Ich weiß, ihr erwartet jetzt viel von mir. Arlo ist nur tot, weil er mich gerettet hat, und dann werde ich auch noch Herrscherin … Die Wahrheit ist: Ich hätte meinen Bruder gerne besser kennengelernt und genau wie ihr länger bei mir gehabt, doch er musste einfach ein Held sein. Er hatte ein zu gutes Herz, er war, er ist einfach großartig. Wir werden ihn niemals ersetzen können, doch das müssen wir auch gar nicht. Arlo ist bei uns, beobachtet uns vom Himmel aus und wird immer da sein, wenn wir ihn brauchen. Wir werden ihn niemals vergessen, so ewig unser Leben auch dauern mag. Ruhe in Frieden, Arlo!“
Dann hole ich seine Muschelflöte hervor. Ich blase vorsichtig hinein und ein imposanter, aber liebeerfüllter Ton erklingt in der Wasserwelt von Turtines und gelangt in dessen tiefste Tiefen, höchste Höhen und weiteste Weiten …
[1] Ein Zyklus ist bei Carag ein halbes Jahr.
[2] Carag nennt den Tag, an dem Shadow geboren wurde, einen Prismatag.
Das Projekt
Diese Geschichte entstand im Herbst 2020 als Nachfolgeprojekt des Sommerferienprojekts „Am Fluss“, mitten in der zweiten Corona-Welle. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen: In sechs Videokonferenzen planten und diskutierten die neun Autorinnen und Autoren ihre gemeinsame Geschichte und die einzelnen Kapitel gemeinsam mit der Workshopleiterin Sarah Meyer-Dietrich und präsentierten sie in einer Abschlusslesung. Unterstützung gab es wie bereits im Sommer von Birgitt Hülsken von der Stadtbibliothek Dorsten, die den Workshop beantragt und organisiert hat.
Das Projekt wurde gefördert von Schreibland NRW.
Die Autorinnen und Autoren
Jeder der neun Autorinnen und Autoren entwickelte eine eigene Hauptfigur für die gemeinsame Geschichte und schrieb aus der Sicht dieser Hauptfigur Kapitel.
Hier seht ihr, wer welche Kapitel geschrieben hat:
Kapitel 1: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 2: Nele Hülsmann
Kapitel 3: Simon Woitinas
Kapitel 4: Nele Hülsmann
Kapitel 5: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 6: Nele Hülsmann
Kapitel 7: Nele Hülsmann
Kapitel 8: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 9: Simon Woitinas
Kapitel 10: Nele Hülsmann
Kapitel 11: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 12: Simon Woitinas
Kapitel 13: Zoe Langner
Kapitel 14: Levje Schmadel
Kapitel 15: Zoe Langner
Kapitel 16: Emma Clausen
Kapitel 17: Simon Woitinas
Kapitel 18: Emma Clausen
Kapitel 19: Finn Droste
Kapitel 20: Dana Loup
Kapitel 21: Emma Clausen
Kapitel 22: Kilian Pieck
Kapitel 23: Emma Clausen
Kapitel 24: Zoe Langner
Kapitel 25: Dana Loup
Kapitel 26: Levje Schmadel
Kapitel 27: Zoe Langner
Kapitel 28: Levje Schmadel
Kapitel 29: Emma Clausen
Kapitel 30: Levje Schmadel
Kapitel 31: Dana Loup
Kapitel 32: Emma Clausen
Kapitel 33: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 34: Emma Clausen, Dana Loup
Kapitel 35: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 36: Kilian Pieck
Kapitel 37: Dana Loup
Kapitel 38: Nele Hülsmann
Kapitel 39: Nele Hülsmann
Kapitel 40: Finn Droste
Kapitel 41: Merle Gabriele Dückers
Illustrationen: Levje Schmadel (Cover), Merle Gabriele Dückers (Kapitel 5 und 41), Kilian Pieck (Kapitel 22)
Tatort
Ein Dorsten-Krimi
Geschrieben von:
Emma Clausen, Finn Droste, Merle Gabriele Dückers, Nele Hülsmann, Clara Kunzmann, Dana Loup, Kilian Pieck, Levje Schmadel, Simon Woitinas
Mit Unterstützung von Sarah Meyer-Dietrich
Kapitel 1: Die Familie
Es war ein lauer Abend am Ende des Sommers. Eine vierköpfige Familie saß idyllisch in einem weitläufigen Garten in Dorsten zusammen und aß ihr Abendessen. Die schöne Idylle wurde allerdings von zwei für die allgemeine Laune sehr verheerenden Sätzen der Mutter zerstört: „Euer Vater und ich müssen leider über das Wochenende eine berufliche Reise machen und sind erst am Samstagabend wieder da. Deshalb müsstest du, Elara, in dieser Zeit auf Ilias aufpassen.“
Elara, die große Schwester, stöhnte genervt auf. „Könnt ihr nicht bitte irgendeine Babysitterin für kurze Zeit einstellen?“, fragte sie mit einem absolut perfekten Hundeblick. „Ich muss doch dieses Wochenende für die Schule lernen. Da kann ich nicht auch noch auf Ilias aufpassen. Er wird mich bestimmt die ganze Zeit ablenken und fragen, ob ich irgendetwas mit ihm machen kann.“
„Es tut mir wirklich leid!“, sagte ihre Mutter. „Aber der Auftrag, den wir bekommen haben, kam spontan. Wir haben auf die Schnelle leider nirgendwo mehr eine Babysitterin oder einen Babysitter auftreiben können, und mitnehmen können wir Ilias auf gar keinen Fall. Sonst werden wir, wenn wir dort sind, direkt wieder nach Hause geschickt. Außerdem wird er dir vielleicht gar nicht so viele Probleme bereiten, wie du denkst.“ Sie wies auf Ilias, der friedlich auf seinem Stuhl eingenickt war. „Wir wollen jedenfalls, dass du auf Ilias aufpasst, und dabei bleibt es!“
„Ist ja gut“, stöhnte Elara. „Aber ich gehe trotzdem zum Recherchieren in die Bücherei.“
„Dann wäre das ja geklärt“, beendete der Vater, der anscheinend keine Lust auf die sich schnell verbreitende schlechte Stimmung hatte, die Diskussion. „Dann könnt ihr jetzt mal den Tisch abräumen, und ich bringe Ilias ins Bett.“
Kapitel 2: Elara
Ein paar wenige Schäfchenwolken treiben am Himmel. Zu klein und zu mickrig, als dass sie es schaffen würden, die Sonne zu verdecken. Ich seufze, bevor ich mich auf mein Fahrrad schwinge und entlang der Lippe zur Stadtbibliothek Dorsten fahre. Ein paar Schaumkronen schwimmen an der Oberfläche und kleine Wellen schwappen hier und da am Ufer hoch. Ich sehe eine Entenfamilie, die gegen den Strom versucht, zum Ufer zu gelangen. Eine kühle Windböe kommt mir entgegen und kündigt still das nahende Ende des Sommers an. Ich trete etwas fester in die Pedale und schließe kurz danach mein Fahrrad ab. Ich bin extra etwas schneller gefahren, um Ilias abzuhängen, der nach zwei Minuten ganz aus der Puste mit seinem blauen Minifahrrad ankommt. Er kann noch nicht so gut Fahrrad fahren und braucht immer noch seine Stützen. Zusammen gehen wir in das Gebäude, um in dem verwirrenden Ordnungssystem der Bücherei nach Büchern zum Klimawandel zu stöbern. Ich muss in der Schule darüber eine Präsentation halten.
Kapitel 3: Ilias
Ich lief in die Kinderecke und schaute mir schöne und witzige Bücher an. Aber schnell verging mir die Lust. Ich konnte die Bücher ja nicht einmal lesen. Ich bin schließlich erst sechs. Immer wieder fragte ich mich: Was finden denn alle so spannend an einer Bücherei? Mir war sterbenslangweilig. Ich wusste schon nach gut einer halben Stunde nicht mehr, was ich machen sollte, und fragte meine Schwester: „Wie lange brauchst du denn noch? Ich will nach Hause!“
Sie sagte: „Wir bleiben so lange hier, bis ich fertig bin. Und das dauert noch.
Kapitel 4: Elara
Ich entscheide mich für das Unterthema Flüsse, denn dazu finde ich eine Menge Bücher und Notizen. Die Bücherei ist erst 2038 komplett renoviert worden. Es gibt eine wundervolle Leseecke mit weichen Kissen und Lichterketten, die ein warmes Licht ausströmen, aber ich entscheide mich für einen langweilig harten und eckigen Tisch mit einem Computer und einem ungemütlichen Stuhl. So kann ich mich besser konzentrieren. Neben mir sitzt ein merkwürdig gekleideter Mann, einen Hut tief in die Stirn gezogen. Er trägt einen braunen Mantel, der für so ein gutes Wetter viel zu warm ist. Ich schüttle kurz den Kopf und atme tief durch. Ich habe mich nicht extra hier hingesetzt, um mich von den Leuten um mich herum ablenken zu lassen. Ich fange an, mir ein paar Notizen zu machen. „Stürme können verantwortlich sein für Fluten. Überschwemmung.“ Ich bin froh, dass heute so gutes Wetter ist. Ich schalte den Computer ein und versuche, dort noch mehr über mein Thema herauszufinden, bevor etwas an meinem Ärmel zupft. Ich drehe mich um, und es ist Ilias, der irgendetwas sagt, aber ich höre ihm nicht richtig zu, sondern nicke einfach nur, bevor er sich wieder vom Acker macht. Ich lehne mich zurück, atme durch und fange dann an, weiter über Erderwärmung und Flüsse zu lesen. Aber Ilias will mich einfach nicht in Ruhe lassen. Mal legt er den Kopf auf meinen Tisch und starrt mich schwer seufzend an, dann muss er aufs Klo und hat Angst, alleine zu gehen.
„Wie lange dauert das noch? Ich habe Hunger!“
Ich merke, dass ein Blick auf uns ruht, und drehe mich zu dem komischen Mann neben mir um, der uns lächelnd mustert, einen Schokoriegel in der Hand, den mein kleiner Bruder dankend annimmt, um ihn sich komplett in den Mund zu stecken.
Kapitel 5: Ilias
„Was macht ihr denn hier?“, fragte der Mann. Eigentlich hatte ich ihn komisch gefunden. Aber nun fand ich ihn doch nett. Immerhin hatte er mir Schokolade geschenkt.
„Sitzen in eurem Alter nicht alle zu Hause vor dem PC?“, fragte er.
Elara antwortete: „Nein, ich muss etwas für die Schule recherchieren.“
Da sagte der Mann: „Dann will ich dich nicht davon abhalten.“
„Und du beschäftige dich bitte noch ein bisschen alleine“, sagte Elara zu mir.
Ich ging genervt weg und ließ mich in der Kinderecke in den Sitzsack fallen. Ich dachte nach, was ich machen könnte. Vielleicht fangen spielen, verstecken spielen …
Doch dann bemerkte ich, dass ich für alle meine Ideen jemanden brauchte, der mitspielte. Aber ich hatte ja niemanden. Meine Schwester brauchte ich gar nicht erst zu fragen. Dann hatte ich eine Idee: Ich würde einfach nach draußen gehen und mich mal so umschauen.
Ich lief also zu Elara und fragte, ob ich nach draußen darf, aber wie erwartet sagte sie: „Nein, ich soll auf dich aufpassen. Wenn dir etwas passiert, bekomme ich richtig Ärger mit Mama und Papa. Das will ich nicht riskieren.“
Ich ging wieder in die Kinderecke und dachte weiter nach. Mir fiel einfach nichts mehr ein, was ich hätte machen können. Ich lief in Gedanken versunken durch die ganze Bücherei, Treppe rauf und Treppe runter, immer wieder.
Dann dachte ich mir: Wieso hörst du eigentlich auf deine Schwester? Sie ist doch nicht deine Mutter und hat dir nicht zu sagen, was du machen darfst. Zu dem Zeitpunkt wusste ich, dass ich jetzt einfach das machen würde, worauf ich Lust hatte, egal, was Elara zu mir sagte.
Als Elara nicht hinsah, huschte ich von Regal zu Regal, bis ich am Ausgang war. Ich wollte gerade rausgehen, da sah ich meine Schwester auf mich zurennen.
Sie fragte: „Wolltest du gerade abhauen?“
Ich sagte: „Nein, ich wollte nur etwas schauen.“
Ich ging mit meiner Schwester wieder zurück zur Kinderecke.
Gelangweilt blickte ich aus dem Fenster. Da entdeckte ich einen süßen kleinen Frosch. Ich wollte unbedingt zu ihm. Also startete ich den nächsten Anlauf. Und dieses Mal gelang es mir, aus der Bücherei zu entkommen. Ich lief gleich auf den n Frosch zu. Er hüpfte immer wieder vor mir weg, aber ich rannte ihm hinterher. Nach ein paar Minuten blieb er stehen, drehte sich um und sagte: „Ich bin Balsamico.“ Verblüfft schaute ich ihn an und fragte: „Du kannst sprechen?“
Er antwortete: „Ja, wieso denn nicht, du kannst ja auch sprechen.“
Ich dachte, ich wäre in einem schlechten Traum. Ein sprechender Frosch! Das musste ich gleich Elara sagen. Sofort fiel mir aber ein, dass dann ja rauskäme, dass ich abgehauen war, und es würde Ärger mit Mama und Papa geben.
„Und wie heißt du?“, fragte Balsamico nun.
„Ilias“, antwortete ich.
Balsamico fragte: „Was machst du eigentlich hier draußen so ganz alleine?“
Ich sagte: „Mir war drinnen so langweilig. Dann habe ich dich entdeckt. Also bin ich rausgegangen. Ich bin eigentlich am liebsten draußen. Deshalb will ich auch Biologe und Naturforscher werden.“
Balsamico sagte: „Komm mit, ich zeige dir etwas.“
Ich fragte: „Was ist es denn?“
„Wirst du dann sehen“, antwortete Balsamico. „Folge mir einfach.“
Nach gefühlt einer halben Ewigkeit, die ich hinter Balsamico hergeflitzt war, sagte er: „Hier wohne ich. Direkt an der Lippe.“
„Wie schön es hier ist“, sagte ich zu ihm.
Kapitel 6: Ilias
Während ich Balsamico ganz viel über verschiedene Flusstiere frage, folge ich ihm die Lippe entlang bis zu einem kleinen Wiesenstück, von wo mich schon vier andere Glubschaugen anblicken.
Da bleibt er dann einfach stehen. Zuerst bin ich etwas verwundert darüber, wieso er mich ausgerechnet hierhin geführt hat und wer die anderen Frösche sind, doch ich will unbedingt wissen, was sie mir Wichtiges zu sagen haben. Bestimmt was Cooles! Also hocke ich mich einfach mal zu ihnen ins Gras, so wie im Kindergarten bei der Morgenbegrüßung. Das kenn ich schon, von wegen ich bin nicht groß genug. Die Fröschlein verstehen mich! Balsamico, der Laubfrosch, deutet auf den Wasserfrosch und den Teichfrosch, die ich aus meinem Naturforscherbuch kenne: „So, Ilias, das sind meine Freunde Fukasaku und Kinoko. Ich wollte sie dir vorstellen, da du als angehender Biologe und Naturforscher unbedingt auch verschiedene Froscharten kennenlernen musst. Ist ja gar nicht so einfach, heutzutage noch Frösche an der Lippe zu finden.“
Stimmt, ich habe erst zweimal einen Frosch hier gesehen. „Wieso eigentlich?“, frage ich.
Ich bekomme schnell eine Antwort, dieses Mal von dem Wasserfrosch, das muss Fukasaku sein: „Wir sind leider die letzten Froschfamilien hier an der Lippe, schon viele Freunde haben wir verloren, nie wieder gesehen. Entweder wir werden im Sommer im Wasser gekocht, wir verdursten oder trocknen aus, oder die Strömung reißt uns mit, wenn wieder einer dieser schrecklichen Regenfälle über uns hereinbricht.“
Oh nein, das wusste ich nicht, ist ja furchtbar für die Frösche, dass ihre Freunde weg sind. Wenn mein Freund Paul weg wäre, würde mich das sehr traurig machen. „Aber wieso passieren denn all die schlimmen Sachen mit euren Freunden?“
Dieses Mal meint der Teichfrosch Kinoko: „Wegen des blöden Klimawandels, ist doch klar. Was hast du denn gedacht?“
„Sei doch mal netter zu dem Jungen. Der ist doch nicht persönlich schuld am Klimawandel“, sagt Fukasaku.
Ich bin verwirrt, was kann Kinoko meinen? „Was ist ein Klimawandel?“, frage ich.
Balsamico fängt an zu erklären: „Beim Klimawandel wandelt sich das Klima. Es wird auf der Erde immer wärmer, das weiß ich. Aber vielleicht kann Fukasaku dir erklären, was das mit uns zu tun hat, der hat von uns Fröschen am meisten Ahnung vom Klimawandel.“
Daraufhin meint Fukasaku: „Dadurch, dass es immer wärmer wird, verändert sich das Wetter in den verschiedenen Jahreszeiten sehr. Im Sommer regnet es deshalb fast gar nicht mehr und es ist total heiß und trocken, und im Winter regnet es dann ganz viel und stürmt. Im Moment ist die Lippe an manchen Stellen wie da drüben fast ganz ausgetrocknet, und das Flusswasser war letzte Woche sogar einmal 22° C warm, das haben vor allem viele Frösche und Fische leider nicht überlebt. Wir Flussbewohner sind ganz andere Umstände gewohnt. Du kannst den Boden hier ja mal anfassen, der ist total trocken. Selbst wenn es jetzt regnet, kann der Boden den Regen gar nicht aufnehmen und der Fluss tritt über die Ufer. So ist letztes Jahr unser treuer Freund Kaeru von uns gegangen.“
Das wusste ich ja alles gar nicht, ist ja schrecklich. Ich merke, wie eine kleine Träne über meine Wange kullert, gerne hätte ich Kaeru auch kennengelernt. Die Frösche nähern sich mir vorsichtig und hopsen schließlich sogar auf meine Schultern, sie wollen mich wahrscheinlich trösten. „Wieso ist Kaeru denn weggegangen, ist doch schön hier in Dorsten.“
Kinoko findet das anscheinend sehr dämlich: „Hahahhhaa! Das ist ja ein toller Forscher. Der denkt, unser Freund wäre ausgewandert oder so.“
„Kinoko!“, ruft Fukasaku, und Balsamico fügt hinzu: „Das muss doch nicht sein, mach dich nicht über Ilias lustig, er ist unser Freund. Also, Ilias: Kaeru ist im späten Herbst letzten Jahres vom Fluss mitgerissen worden und ertrunken. Wir haben ihn an der Baumgabelung gefunden, er ist gestorben.“
„Das tut mir aber leid. Und wieso gibt es den Klimawandel dann, wenn er schlecht für Frösche ist?“
„Weil seit Jahrzehnten ganz viel von dem Gas Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre gepustet wird“, meint Fukasaku, „das kommt vom Autofahren und Fliegen, vom vielen Baumfällen, Züchten von Tieren und zum Beispiel auch von Kohlekraftwerken. Deshalb gibt es in Deutschland mittlerweile auch gar keine Kohlekraftwerke mehr. Die sind schlecht für die Natur. Viele Menschen haben auch diese Autos von FLY, die pusten nicht so viel CO2 in die Luft, aber natürlich ist Fahrradfahren immer noch am besten.“
Auch das wusste ich nicht, muss ich gleich sofort Mama und Papa erzählen, wenn sie wieder da sind. Ich will ab jetzt jeden Tag mit dem Fahrrad zur neuen Schule fahren, dann werde ich bestimmt auch immer besser und kann demnächst Elara abhängen. Das wäre toll. „Und ihr habt den Klimawandel also überlebt. Seid ihr dann nicht ganz traurig und einsam hier als einzige Frösche der Lippe?“
Balsamico antwortet mir: „Ja, ziemlich oft sogar. Wir haben nur uns und unsere Familien, Überleben ist ein einziger Kampf, den wir allerdings gerne auf uns nehmen, um dafür zu sorgen, dass die Spezies der Frösche hier an der Lippe nicht ausstirbt. Aber wir brauchen Hilfe im Kampf gegen den Klimawandel. Von euch Menschen. Ihr müsst auch an uns Tiere denken! Es muss noch so viel getan werden, um den Klimawandel zu verlangsamen und am besten sogar zu stoppen, das kann so nicht weitergehen!“
„Ich denke an euch, ganz bestimmt, und ich erzähle meiner Schwester davon, damit sie auch an euch denken kann“, verspreche ich.
„Das ist lieb von dir, Junge“, entgegnet Fukasaku. „Wir müssen jetzt zu unseren Familien zurück, die können wir nicht so lange alleine lassen.“
Kinoko sagt: „Ja, da hat Fukasaku Recht, aber versprich uns: Tu was! Und vergiss das nie!“
„Versprochen!“
Auch Balsamico verabschiedet sich von mir: „Es war mir eine Ehre, dich kennenlernen zu dürfen. Du bist der netteste Naturforscher, den ich je getroffen habe.“
„Und du bist der Frosch mit dem lustigsten und essigsten Namen, den ich je gesehen hab, Balsamico. Schüüüüüss ihr alle!
Schneller, als ich gucken kann, sind die drei Frösche schon hinter dem breitblättrigen Rohrkolben, einer Sumpfpflanze, verschwunden. Ich schaue mich um. Fukasaku hat Recht. Die Lippe ist da hinten nur noch ein dünner Strich, und viele Pflanzen sind schon ganz ausgetrocknet. Das alles ist doof für die Frösche, bestimmt wissen die Menschen alle nicht, wie schlecht es den Flusstieren geht, sonst würden die ja nicht dieses CO-Dingsbums in die Luft pusten.
Ich stehe auf und schlendere die Lippe entlang, wobei ich noch vielen netten Grashüpfern und Hummeln begegne. Tiere sind einfach mega cool, die dürfen auf keinen Fall alle von uns weggehen, das müssen wir verhindern!
Kapitel 7: Ilias
Nachdem ich eine Weile gelaufen war, setzte ich mich ins Gras. Ich wollte nicht zurück zur Bücherei und dort von Elara Ärger bekommen. Also begann ich stattdessen, aus Stöcken und Blättern kleine Männchen zu basteln, als ich etwas Komisches hörte. Schnell versteckte ich mich hinter einem Busch, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden. Eine Frau mit feuerroten Haaren sprach mit dem Mann, den wir vorhin in der Bücherei gesehen hatten. Genaugenommen hockte sie über ihm. Wollte sie ihn vielleicht auskitzeln? Sollte ich winken? Etwas blinkte in ihrer Hand. Ein Ring? Ein Messer. Wollte sie etwa Brote schmieren? Der Mann versuchte die Frau abzuschütteln. Warum? Ich hätte gerne ein Brot. Das war mir zu langweilig, und ich wollte lieber weiter Männchen basteln. Plötzlich hörte ich einen Schrei. Ich schreckte hoch und trat dabei auf einen morschen Ast, der laut knackend zerbrach. Die Frau schaute in meine Richtung. Ich blieb mucksmäuschenstill und bewegte keinen Muskel. Dann rannte sie davon. Der Mann lag auf dem Boden. Reglos. Eine marmeladenartige Flüssigkeit quoll aus seiner Brust. Mir wurde schlecht. Ich musste weg. Und zwar schnell!!
Aber ich konnte mich erst nicht rühren. Tränen liefen über mein Gesicht. Dann rannte ich los. Rannte vorbei an den Fröschen, vorbei an der Wiese, auf der ich noch vorhin so nett mit ihnen geredet hatte. Ich wollte nur noch zurück zu Elara. In welcher Richtung war die Bücherei? Panisch drehte ich mich im Kreis. Aus welcher Richtung war ich gekommen? Ich rannte einfach weiter in den Wald hinein. Ein Regentropfen fiel mir auf die Stirn. Es fing an zu regnen.
Kapitel 8: Elara
Ich las gerade ein Buch, das „Alles über den Klimawandel“ hieß, und machte mir Notizen, als plötzlich ein lauter und gewaltiger Donnerschlag ertönte. Ich schreckte auf und blickte mich um, denn ich wusste, dass Ilias große Angst vor Gewittern hat. Mein Bruder war nicht zu sehen. Also rief ich: „Ilias, ist alles okay bei dir?“
Keine Antwort.
Ich rief erneut.
Wieder keine Antwort.
Ich dachte mir, dass er bestimmt wieder verstecken spielen wollte, und deswegen sagte ich laut: „Ilias, gib ein Piep von dir.“
Es war kein Piep zu hören.
Langsam machte ich mir Sorgen. Vielleicht hat er sich ja mein Handy geschnappt, um vor der Tür mit Mama und Papa zu telefonieren, fiel mir ein. Also warf ich einen Blick in meinen Rucksack, doch mein Handy lag dort drinnen. Ich schaute unter Sofas, hinter Sesseln in der Leseecke, doch nirgends Ilias. Ich fragte Leute in der Bücherei, ob sie einen kleinen blonden Jungen gesehen hatten.
Bei einem jungen Mann hatte ich schließlich Glück. Er antwortete: „Ja, ich habe vorhin einen Jungen durch die Tür rausschleichen sehen.“ Er grübelte kurz und sprach dann weiter: „Ich denke, er hat irgendetwas entdeckt, weil er davor aus dem Fenster geblickt hat. Mehr habe ich dann auch nicht gesehen.“
„Okay, vielen Dank“, nuschelte ich ihm in aller Eile zu, nahm mein Handy aus dem Rucksack und flitzte zur Tür hinaus. Dabei fragte ich mich, was Ilias draußen entdeckt haben mochte. Und vor allem, was für eine große Angst er im Gewitter wohl hatte. Es ging mir so viel Schlimmes durch den Kopf. Als ich aus der Bibliothek kam, rauschte Regen auf mich herab, der sich anfühlte wie Hagel. Nun überlegte ich, wo
Ilias wohl als erstes hingehen würde. Und da fiel mir die Wiese ein, wo ich mit Ilias manchmal spielte. Ich rannte zu der Wiese und hechelte dabei wie ein Hund. Ich stützte die Hände auf meine Knie, die zitterten, atmete tief ein und rannte weiter. Doch kein Ilias war auf der Wiese zu sehen. Ich hatte keine Ahnung, wo Ilias sich noch aufhalten könnte. Deshalb setzte ich mich auf eine kleine Bank direkt an der Lippe. Mir war sehr kalt und meine Füße fühlten sich wie taub an. Ich war wütend und besorgt zugleich.
„Wieso muss Ilias immer wegrennen?!“, schrie ich.
Ich nahm einen großen Stein, der neben mir lag, und warf ihn mit voller Wucht in die Lippe. Doch ich hörte kein Aufplatschen. Das Geräusch, das der Stein beim Aufprallen machte, war dumpf. Ich wunderte mich sehr, sodass ich langsam an das Ufer der Lippe ging. Ich tastete mich langsam fort. Vielleicht war hier das Wasser auch schon durch die Folgen des Klimawandels ausgetrocknet, wie ich es in dem Buch gelesen hatte. Ich nahm meinen Rucksack und zog mein Handy heraus. Ich schaltete flugs die Taschenlampe an und leuchtete dorthin, wo ich den Stein hingeworfen hatte. Ich bekam einen Schrecken und konnte mich nicht mehr bewegen.
Das konnte doch nicht wahr sein … Das, was ich vor mir sah, war unfassbar. Ich ging am matschigen Ufer in die Knie. Mein Handy rutschte mir aus der Hand und fiel ebenfalls auf den Boden. Vor mir lag der Mann, der vorhin noch in der Bücherei gefragt hatte, wieso Ilias und ich nicht wie die anderen zu Hause vor dem Computer sitzen. Er hatte eine große Schnittwunde mitten auf der Brust.
Ich war so geschockt wie noch nie in meinem Leben und erinnerte mich dann endlich an den Erste-Hilfe-Kurs, den ich einmal belegt hatte. Also presste ich beide Hände an das Herz des Mannes und drückte mehrmals hintereinander zu. Als nächstes probierte ich die Mund-zu-Mund-Beatmung. Doch beide brachten nichts. Er war tot. „Wieso passiert immer mir so etwas?!“, schluchzte ich am Boden zerstört.
Ich wollte jetzt nichts anderes, als dass meine Eltern und Ilias mich umarmten und trösteten. Ich wollte Ilias unbedingt sagen, wie lieb ich ihn hatte. Und dass ich demnächst immer mit ihm spielen würde, wenn ihm langweilig war. Doch zuerst musste ich jetzt die Polizei rufen. Ich hob mein Handy immer noch zitternd auf, doch auf einmal fing es an zu hageln. Ich erschreckte mich so, als die harten Körner auf mich prasselten, dass mir das Handy aus der Hand flutschte. Doch leider nicht auf den Boden, sondern in die Lippe. Es sank so schnell, dass ich gar nicht versuchen konnte, es noch rauszuholen. Wie sollte ich denn jetzt Hilfe rufen? Es würde zu spät werden, wenn ich an jede Haustür klopfen und mir vielleicht niemand glauben würde. Also wollte ich zur Bücherei. Dort waren viele Leute, sodass mir bestimmt einer helfen würde. Ich sprang auf und rannte gegen den kalten Wind an. Immer wieder kamen mir Blätter entgegen. Doch ich konnte gar nicht mehr stoppen. Denn es war so, als ob meine Beine von alleine rannten und ich sie nicht mehr kontrollieren konnte.
Nun stand ich vor dem Gebäude der Stadtbibliothek. Ich sah die warmen Lichter, die in der Bücherei leuchteten, und trat schnell ein. Ich schrie in aller Eile: „Es liegt eine Leiche in der Lippe, und mein Bruder ist weg! Bitte, irgendjemand muss mir helfen!“
Kapitel 9: Emilia
Zögernd platzierte ich meinen Turm auf R2. Zittrig ließ ich die Figur los. Ich hatte schon fast gewonnen, und die nächsten Spielzüge würden zum Schachmatt führen. Ich war mit meiner Seele an dieses eine Spiel gebunden und nichts konnte mich dazu bringen, es zu unter- oder gar abzubrechen. Außer vielleicht das eine! Das eine, was EIGENTLICH an einem Freitagnachmittag nicht passieren sollte! Aber ihr könnt es euch bestimmt schon vorstellen, dass … NATÜRLICH! … Als mein Vater seine Dame hob und schon andeutete, sie neben meinem Turm zu platzieren, was sein sicheres Ende besiegeln würde, und als meine Sehnsucht nach Sieg gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte, begann es auf einmal schrecklich zu piepen. Ich begriff und verdrehte die Augen (eine Eigenart, die ich in letzter Zeit sehr oft zur Schau stellen musste). Allein am Klang konnte ich nämlich erkennen, dass das schreckliche Geräusch aus Papas Pieper gekommen war. Sein Beruf brachte es so mit sich, dass er in jeder Situation erreichbar sein musste, was unsere Vater-Tochter- Zeit natürlich schon früher sehr beeinträchtigt hatte und es immer noch tat. Papa sah mich wehleidig an, schüttelte entschuldigend den Kopf und ging dann in den Nebenraum, um im Revier anzurufen. Meine Augen brannten und füllten sich gegen meinen Willen mit warmen Tränen. Heute war Freitag (der Dreizehnte) und dass Freitag war, bedeutete, dass Vater-und-Tochter-Tag war. Eigentlich hatte mir mein Vater versprochen, dass er 24 Stunden für mich da sein würde. Versprechen zu halten war allerdings noch nie seine Stärke gewesen. Sogar am Altar hat er meiner Mutter einen Treueschwur gegeben, den er schon nach zehn Jahren der Liebe für eine doofe Blondine brach. Sie hieß Eleanor und war das totale Gegenteil von meiner Mum. Zum Glück konnte ich so gerade noch verhindern, dass sie gleich nach ihrer Verlobung hier einzog. JA! Mein Vater hatte ihr vor ein paar Wochen einen Antrag gemacht. Ich konnte nur hoffen, dass er diesen Treueschwur ebenfalls brechen würde. Eine Träne tropfte unhaltbar auf das Schachbrett und breitete sich zu einer Minipfütze aus. Meine Wut stieg mir zu Kopf, schreiend warf ich das Schachbrett um und zerriss die Spielanleitung. Die Hälfte, auf der nun nur noch „Schac/Um Leben u” stand, zerriss ich noch einmal in der Mitte. Dabei schnitt ich mich am Papier. Blut tropfte von meinem Daumen auf die Küchenfliesen. Mir wurde schwindelig und ich verlor das Gleichgewicht. Fluchend ging ich zu Boden. Zuerst dachte ich, mein Vater hätte mich gehört und würde mir helfen, aber nein! Ich richtete mich wackelig wieder auf. Seit ich denken konnte, wurde mir schwindelig, sobald ich auch nur den kleinsten Tropfen Blut sah. Ich griff nach einer Packung Pflaster, die ich immer in der Hosentasche hatte. Da kam Papa endlich durch die Tür.
Als ich auf ihn zuging und gerade fragen wollte, was los war, drückte er mir etwas Geld in die Hand und erklärte: „Bestell dir was zum Abendessen. Ein Notfall … Du verstehst?” Ich nickte. In meinem Inneren aber begann es zu brodeln, und dann kochte ich über: „WEISST DU WAS?! NEIN! ICH VERSTEHE DEIN IDIOTENDASEIN NICHT MEHR! ICH HABE EINFACH KEINEN BOCK MEHR AUF DEIN GANZES OH!-DAS-TUT- MIR-JA-SOOOO-LEID-GEBLUBBER! WEISST DU WAS?! DU HATTEST SO EINE TOLLE, PERFEKTE FAMILIE, UND DER EINZIGE BEKNACKTE GRUND, WARUM DU SIE ZERSTÖRT HAST, WAR DIESE ZUCKERWATTE VON EINER FRAU!” Schreiend zerriss ich den Geldschein in meiner Hand. „STECK DIR DEINE BLÖDEN ENTSCHULDIGUNGEN SONST WOHIN UND VERZIEH DICH!”
Weinend trampelte ich die Treppe rauf in mein Zimmer. Er hatte es verdient, mal so richtig abserviert zu werden, und mir war in dem Moment so was von egal, ob ich dafür Ärger bekommen würde oder nicht. Meine Wut war absolut gerechtfertigt. Ich hoffte nur, dass er nicht gleich zu mir ins Zimmer komme…
Weiter konnte ich gar nicht mehr denken. Schon klopfte es an meiner zugeknallten Zimmertür. Eine dumpfe, unverkennbare Stimme drang in mein Zimmer: „Es tut mir leid … Ich weiß, dass ich in letzter Zeit ein ganz schöner Idiot war … deine Mutter verletzt habe und natürlich auch dich … Aber glaub mir, für mich ist diese Zeit auch nicht gerade die beste. Ich habe deine Mutter wirklich geliebt … Aber Eleanor liebe ich auch. Man kann doch nichts für seine Gefühle. Das weißt du besser als jeder andere.”
Er schwieg. Anscheinend erhoffte er eine Entschuldigung meinerseits, aber ich wusste nicht, wofür ich mich hätte entschuldigen sollen. Ich hörte einen herzzerreißenden Seufzer, der jeden anderen aus dem Konzept gebracht hätte, aber ich hielt an meinem Plan fest, solange nicht mit meinem Vater zu reden, bis er einen plausiblen Grund gefunden hatte, warum ich das wieder tun sollte. Ich fühlte mich wie ein kleiner, hilfloser Fisch, der gegen den Strom schwimmen musste, den die anderen mit ihren durchs seichte Wasser wabernden Flossen erzeugt hatten. Dann kam mir eine Idee.
„Ich will mit!”, rief ich in den Flur. „Nimm mich mit zur Wache … Oder zum Tatort!”
Wenig später saß ich mit verschränkten Armen und überheblichem Blick neben meinem Vater auf dem Beifahrersitz. Dad knabberte voll Unbehagen auf seiner Lippe herum und versuchte mir klarzumachen, dass er mich eigentlich gar nicht mitnehmen durfte und ich mich vom Tatort fernhalten sollte, was ich aber nicht beachtete. Ich starrte hinaus in den Regen. Die hohen Fichten am Straßenrand flogen in Lichtgeschwindigkeit an Dads Dienstwagen vorbei. Die kreischenden Polizeisirenen wurden von blinkendem Blaulicht begleitet, was ziemlich nervte. Jedes andere Kind hätte es bestimmt total krass gefunden, aber ich war schon zu einigen Notfällen mitgenommen worden. Denn ich hatte die Nimm-mich-mit-zum-Tatort-Nummer schon öfter verwenden müssen, um Dad zu verzeihen. Wirklich verziehen hatte ich ihm aber keine seiner Lügen und Missetaten.
„Hörst du mir überhaupt zu?!”, fragte er jetzt, ohne mir in die Augen zu schauen. Stattdessen tat er so, als wäre er total auf die Ampel vor uns fixiert, die gerade auf Orange wechselte und dann zu Grün überging. Dad trat so plötzlich aufs Gaspedal, dass ich in meinen Sitz gepresst wurde. Ich rümpfte beleidigt die Nase.
Plötzlich klatschte Dad sich gegen die Stirn. Als er merkte, dass ich das gesehen hatte, schüttelte er nur den Kopf. „Du kannst gar nicht mitkommen …”, nuschelte er wissend. „Eine Leiche, die mit einem Messer umgebracht wurde, blutet!”
Er fing an, laut zu lachen, und ich versuchte, über dieses nicht gerade erwachsene Lachen meine Stimme zu erheben und dabei auch noch hörbar zu sein: „WAS!? EINE ECHTE LEICHE … Cool!”
Doch dann begriff ich die nicht eben zurückhaltende Schadenfreude meines Vaters … Ich konnte kein Blut sehen, was bedeute, dass ich NICHT an den Tatort mitkommen konnte. Ich seufzte. Schade. Das wäre bestimmt total der Renner in den sozialen Netzwerken geworden … Ich meine: Eine LEICHE! Frustriert den Kopf schüttelnd, griff ich nach einem Straßenplan, um festzustellen, was ich machen konnte, solange mein Dad einen spannenden, gruseligen, abenteuerlichen und einfach nur mega abgefahrenen Fall zu lösen versuchte.
Als Dad nun scharf auf die Bremse trat, spannte sich der Sicherheitsgurt fest um meinen Körper und kratzte an meinem Hals.
„Sind wir schon da?“, fragte ich irritiert, denn eigentlich lag der Tatort, wie mein Vater mir schon widerwillig unter die Nase gerieben hatte, in der nahen Umgebung der Brücke, die über die Lippe in die Stadt führte.
„Nein, eigentlich nicht. Ich lasse dich nur schon einmal hier an der Bibliothek raus, damit du etwas zu tun hast, solange ich weg bin.” Er warf mir einen Blick zu, der mir schmerzhaft klarmachte, dass Dad nicht gerade unglücklich darüber war, dass ich nicht mitkommen konnte. „Außerdem muss ich hier ohnehin noch später eine Zeugin vernehmen“, fügte mein Vater hinzu. Ich entwischte einem feuchten Kuss, öffnete die Autotür und ging, ohne mich umzudrehen, schnell durch den Regen auf die Bücherei zu. Vielleicht, dachte ich, würde ich wenigstens die Zeugin ausfindig machen können, wenn ich schon auf den Tatort verzichten musste.
Die Tür der Bibliothek stand einladend offen und bot den Besuchern Einblick in die wunderbare Welt der Bücher. Mein erster Gedanke galt den vielen Detektivromanen, die geordnet vor mir in einem Regal standen und mich magisch anzogen. Die Zeugin würde noch ein Weilchen warten müssen. Schnell war ich in einen Sherlock-Holmes- Band vertieft.
Als ich irgendwann eine Lesepause machte und den Blick durch die Bücherei schweifen ließ, fiel sie mir sofort auf. Ein mageres Mädchen, circa in meinem Alter. Sie blätterte gerade in einem besonders dicken Buchexemplar. Sie hatte welliges blondes Haar und um den Hals trug sie ein grünes Halstuch, das wunderbar zu ihrem Pullover passte. Doch dann bemerkte ich, wie blass sie war. Sie zitterte und hielt ihr Buch falsch herum. Ich legte mein Buch zur Seite und ging langsam auf sie zu. Ich kannte das Mädchen. Sie ging in meine Parallelklasse. Und ich war mir fast sicher, dass sie …
In diesem Moment zog mich jemand an meinem Shirt nach hinten zurück und drückte mich sanft beiseite. „Jetzt willst du auch schon meinen Beruf übernehmen, oder was?!”
Ich drehte mich erschrocken um und blickte meinem Dad direkt in die Augen.
Kapitel 10: Elara
„Also, Elara”, sagte der Polizist, der sich mir als John vorgestellt hatte, und setzte sich in einen Sessel, „ich werde dich jetzt zu dem Mord befragen.”
Ich nickte nervös.
„Zuallererst: Ist dir etwas an der Leiche aufgefallen?”
„Nein, außer, dass es bestimmt ein Messer war, womit der Täter angegriffen hat.” „Okay, hast du die Leiche angefasst?”
Ich spürte, dass mein Kopf glühte. Bei dem Gedanken, dass ich einen Toten Mund zu Mund zu beatmen versucht hatte, wurde mir übel.
„Ja”, gab ich zur Antwort. „Ich habe versucht, erste Hilfe zu leisten. Aber zu spät.“
John nickte. „Dann werden wir später noch eine DNA-Probe von dir brauchen. Warum warst du eigentlich genau an dem Ort?”
„Weil ich meinen Bruder Ilias suchen wollte. Ich war mit ihm in der Bücherei und …” Ich konnte nicht mehr und fing an zu weinen. „Er ist abgehauen, und ich habe es nicht rechtzeitig bemerkt. Das ist alles nur meine Schuld. Als ich dann doch endlich bemerkt habe, dass er weg war, bin ich überall auf die Suche nach ihm gegangen. Schließlich auch am Fluss, wo ich die Leiche entdeckt habe.”
Langsam und sanft legte der Polizist mir die Hand auf die Schulter. Er sagte: „Es wird schon alles gut. Wir finden deinen Bruder und lösen dieses Rätsel.“
Ich lächelte und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
„Nur noch nur eine Frage, dann hast du es geschafft”, sagte er mitfühlend. „Okay. War jemand bei dir, als du die Leiche gesehen hast?”
„Nein”, sagte ich. Zum Glück war das Verhör jetzt beendet. Da fiel mir plötzlich noch etwas ein. „Da gibt es noch etwas, das vielleicht wichtig ist“, fügte ich hinzu. „Ich habe den Toten vorher hier in der Bücherei gesehen.“
„In der Bücherei?“, mischte sich nun die Bibliothekarin ein, die von der Infotheke aus zugehört hatte. „Vielleicht kann ich Ihnen dann auch etwas über ihn erzählen. Wie sah er denn aus?“
„Durchschnittlich groß“, sagte John, „dunkelblonde Haare. Er trug einen Mantel und einen Hut.“
Die Bibliothekarin blickte John an, als hätte er ihr gerade gesagt, dass sie Witwe geworden sei. „Kenny? Kenny McAngus ist tot?! Wie kam es dazu?”
„Genau das versuchen wir ja gerade herauszufinden”, sagte John.
Die Bibliothekarin fasste sich wieder. „Ich kann helfen. Ich weiß viel über Kenny.” John nahm wieder sein Notizbuch zur Hand, das er eben weggesteckt hatte, und sagte: „Welche Infos haben Sie denn über ihn?”
„Nun ja”, fing die Bibliothekarin an, „ich kannte Kenny sehr gut. Er war ein Journalist und arbeitete für eine Zeitung, die Kleeblatt heißt. Die Redaktion finden Sie übrigens in der Straße Sonnenweg Nummer 38. Ach wissen Sie, Kenny war so ein schlauer Mensch …”
In dem Moment kam jemand von der Spurensicherung und unterbrach: „John, wir haben hier ein elektronisches Notizbuch gefunden. Es lag bei der Lippe. Es gehört offenbar einem Kenny McAngus. „Danke sehr. Es gehört also dem Toten. Das werde ich mir genauer anschauen.” John packte das Buch sofort in eine der Taschen, die an seinem Gürtel hingen. „Darf ich dann jetzt gehen?“, fragte ich.
John nickte und wandte sich wieder der Bibliothekarin zu. Ich stand auf. Ich musste weiter nach Ilias suchen. Dringend. Ich lief los und wollte gerade vorbei an dem Regal mit den Detektivromanen, als mich jemand aufhielt.
Ein Mädchen in meinem Alter schaute mich mitfühlend an. „Alles okay?“ Sie hatte schwarze Locken und dunkle Haut. Ich hielt inne und blickte sie an. Dann begriff ich. „Ich kenne dich doch. Du gehst in meine Parallelklasse. Emilia, richtig?”
Emilia nickte. „Ja, freut mich, mal mit dir ein Gespräch zu führen. Ich habe meinen Vater begleitet. Er ist der Polizist, der eben mit dir gesprochen hat. Eigentlich war heute unser Vater-Tochter-Tag. Aber, na ja … So kann ich mir zumindest einen neuen Band Die drei ??? ausleihen. Ich liebe nämlich Detektivsachen.”
„Cool“, sagte ich. „Ich interessiere mich auch für Bücher. Aber nimm mir eins bitte nicht übel. Ich kenne Die drei ??? überhaupt nicht. Worum geht es denn da?” „Keine Sorge“, meinte Emilia. „Ich nehme es dir nicht übel. Es geht um drei Jungs. Justus, Bob und Peter. Die in jedem Band einen Fall lösen müssen.”
„Ah, verstehe.”
Nach dem Small Talk kam John zu uns. „Hi, ich muss mal kurz in die Redaktion des Kleeblatts. Ist es okay, wenn ich euch eine Weile alleine lasse?”, fragte er.
„Klar”, sagte ich.
„Kein Problem”, stimmte Emilia zu.
John nickte. „Wir werden ihn finden. Versprochen“, sagte er noch zu mir und ging dann fort.
Ilias! Das Gespräch mit Emilia hatte mich ganz davon abgelenkt, dass ich unbedingt meinen kleinen Bruder suchen musste!
„Ich muss auch weg“, sagte ich zu Emilia.
„Wohin?“, fragte sie neugierig.
„Meinen kleinen Bruder suchen“, sagte ich und merkte, dass ich wieder mit den Tränen kämpfte. „Er ist verschwunden.“
Mitfühlend schaute Emilia mich an. „Dann komme ich mit.“
Kapitel 11: John
Auf dem Weg zur Kleeblattredaktion dachte John über seine Tochter nach. Warum wollte sie denn nicht mitkommen?, fragte er sich. Eigentlich kommt sie bei so etwas doch immer gerne mit. Muss ich das verstehen? Ich glaube nicht. Sie ist irgendwie immer wieder absolut anders als am letzten Tag. Sie ist halt einfach eine sich ständig verändernde Person. Damit muss ich wohl klarkommen.
In der Redaktion angekommen ging John direkt zum Empfang, hinter dem ein älterer Mann mit schwarzen Haaren in einem braunen Sakko saß, und sagte: „Ich bin Polizist und untersuche gerade den Fall des Todes von Kenny McAngus. Wo ist denn sein Büro? Ich würde gerne in seinen Unterlagen gucken, ob es dort irgendwelche Hinweise auf Gefahren beziehungsweise mögliche Widersacher gibt. Oder wissen Sie sogar schon von irgendwem, der ihm vielleicht nicht wohlgesonnen war?“
Der ältere Mann, der, wie John an dessen Namensschild ablesen konnte, Kai hieß, antwortete: „Nein, ich weiß leider nichts von Widersachern, die Kenny hatte. Aber ist Kenny wirklich tot?“
„Ja, leider!“, entgegnete John. „Er wurde vor etwa eineinhalb Stunden an der Lippe gefunden.“
„Oh“, entgegnete Kai traurig. „Aber wer war dann vorhin hier?“, murmelte er.
John fragte: „Warum? Was war denn los?“
„Kenny war vor knapp einer Stunde hier“, antwortete Kai. „Er hat selbst noch seine Unterlagen abgeholt. Deshalb ist, glaube ich, nichts mehr da, was Sie mitnehmen könnten. Ich kann Ihnen aber grob sagen, dass er über dieses Ökostrom-Kraftwerk namens Live recherchiert hat. Mehr weiß ich auch nicht.“
„Sind Sie sicher, dass es Kenny war, der hier gewesen ist?“, fragte John. „Haben Sie mit ihm gesprochen?“
Kai schüttelte den Kopf. „Aber er trug Mantel und Hut. Sein Markenzeichen.“
„Wir haben Kennys Leiche gefunden. Er ist also ganz sicher tot. Und einen Mantel und einen Hut kann ja jeder anziehen. Also wird die Person, die vorhin hier war, wahrscheinlich sein Widersacher oder Mörder gewesen sein. Das wiederum würde ja bedeuten, dass der Mörder nicht wollte, dass Kennys herausgefundene Infos an die Öffentlichkeit kommen. Also ist jetzt im Prinzip die Frage: Was hat das Kraftwerk zu verbergen? Oder wollte der Widersacher irgendwie nur den Verdacht auf das Kraftwerk lenken und hatte stattdessen einen anderen Grund, Kenny zu töten?“, dachte John laut. „Äh … Jedenfalls vielen Dank für die Infos. Dann gehe ich jetzt besser wieder. Ich muss wohl weiter nach Hinweisen suchen, um zu gucken, welche von den beiden Möglichkeiten die richtige ist. Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch!“
„Gerne und danke gleichfalls“, verabschiedete sich Kai.
Kapitel 12: Emilia
Mein Blick fiel auf meine vom matschigen Grund total verschmutzten Sneaker, die noch strahlend weiß gewesen waren, als ich vor nicht allzu langer Zeit die Bücherei betreten hatte. Ich hatte für einen kurzen Moment nicht auf den Boden vor mir geachtet und war mit einem nassen Platsch in eine riesige Pfütze getreten, die vor uns den Pfad durchbrach wie ein zu klein geratener Fluss. Elara lief ohne ein Zeichen der Abscheu gegenüber der Pfütze weiter und starrte dabei scheinbar gefühllos ins Nichts. Kopfschüttelnd folgte ich ihr, besah mich dann aber eines Besseren und versuchte sie abzulenken. Ich schnitt Grimassen, die eigentlich nicht einmal eine Kichererbse zum Lachen bringen konnten. Aber durch die vielen Regentropfen und die nassen Haare, die an meiner Stirn klebten, erinnerte ich wahrscheinlich an Gollum, der gerade wieder eine Identitätskrise hatte. Ein kurzes, einsames und unsicheres Lächeln huschte über Elaras Gesicht, womit ich mich fürs Erste zufriedengab. Es schien nicht so, als würden wir ihren Bruder finden. So sehr ich mich anstrengte, ich konnte keine lebende Person im Umkreis von … Ich sah kein einziges Lebewesen! Und so langsam konnte man auch schon wieder die vielen blinkenden Polizeiwagen am Ende des Pfades erkennen. Ich hatte echt keine Lust mehr, noch eine Runde um die Bibliothek zu latschen. Also blieb ich abrupt stehen. Als Elara das bemerkte, traten ihr Tränen in die Augen. „Du willst mich also im Stich lassen?! Dann geh doch! Es ist sowieso nicht sicher, ob Ilias überhaupt noch am Leben ist! Vielleicht kommen unsere Bemühungen schon zu spät!” Ihre dünnen Beine schlugen hart auf den nassen farbigen Kieselsteinen auf.
Ich kniete mich angeekelt neben Elara auf den Boden … Wenn man diese Matschepampe überhaupt noch Boden nennen konnte. Diese sintflutartigen Regenfälle hatten wir, glaubte man meinen Lehrern, dem Klimawandel zu verdanken. „So meinte ich das ja auch gar nicht“, sagte ich. „Ich wollte mit meinem Stehenbleiben nur andeuten, dass … ARRRGHHH!” Ein scharfer Kiesel bohrte sich in meine Kniescheibe. Die Regentropfen brannten in der frischen Wunde. „Ich wollte damit nur andeuten”, wiederholte ich mich mit schmerzverzerrtem Gesicht, „dass ich es für äußerst unlogisch halte, dass wir jetzt schon zum siebten Mal hier langlaufen und du immer noch nicht einsehen kannst, dass dein kleiner Bruder hier nicht ist!” Ich verdrehte die Augen, was langsam schon zu meinem Markenzeichen geworden war, und als meine Pupillen wieder auf Elara gerichtet waren, sah ich, dass sie ihr Gesicht in den dreckigen Händen vergraben hatte, während sie quietschende Laute von sich gab. Mit einem komischen Gefühl im Magen rappelte ich mich auf und ließ mich dann wieder neben sie fallen.
„Das wird schon wieder … Und wenn nicht, dann musst du wenigstens nicht mehr lange ohne ihn sein, denn wenn deine Eltern rausbekommen, dass Ilias etwas zugestoßen ist, dann … nun, wirst du wohl von mir gesucht und nicht gefunden werden. Weil du dann diejenige bist, für die alle Bemühungen zu spät kommen. Dann werde ich wohl auf dem Boden sitzen und heulen! Was wiederum nichts bringen würde.” Als ich in Elaras gerötetes Gesicht sah, fasste ich mir ein Herz und fuhr fort: „Was ich damit sagen wollte, ist, dass ich auch so besorgt um dich sein würde, wenn du nicht zu finden wärst, aber es nichts bringt zu trauern, obwohl das Schicksal deines Bruders ja noch in den Sternen steht … Und mal so gesehen: Auch wenn es in den Sternen steht, nützt uns das nichts, denn wie du bestimmt schon bemerkt hast, kann man nicht das klitzekleinste Stück Himmel sehen.”
Als ich nach dieser Rede Elaras Blick folgte, erschrak ich selbst. Die schwarzen Gewitterwolken hatten den Himmel regelrecht verschlungen und würden ihn nach meinen bescheidenen Wetterkenntnissen auch nicht so schnell wieder freigeben. Plötzlich wurde ich von zwei Armen fast erdrückt, was ich kichernd erwiderte. Irgendetwas schien ich mit meiner Rede bei Elara ja durchaus bewirkt zu haben. „Und jetzt komm“, sagte ich. „Du musst dringend ins Trockene. Und ich werde bei meinem Vater nachbohren, ob es schon etwas Neues gibt.“
Kapitel 13: Elara
Der Regen fiel unermüdlich auf das Dach des Streifenwagens. Es war bereits drei Stunden her, dass Ilias verschwunden war, und es gab immer noch keine Spur von ihm.
Wir werden ihn finden! Versprochen!, hatte John zu Elara gesagt. Aber ganz so zuversichtlich hatte er dabei nicht ausgesehen. Und nun saß sie hier: ohne Bruder, Eltern beide unterwegs und sie mit einer Tasse Tee in der Hand in eine Decke gehüllt auf dem Rücksitz eines Polizeiautos. Ihre Haare waren bis auf die Spitzen mit Regenwasser vollgesogen, und ihre Kleidung haftete an ihrem Körper, wie mit Kleber angeklebt. Mit leerem Blick starrte Elara auf die Stelle, an der sie die Leiche gefunden hatte. Mit Polizeiband hatte die Spurensicherung alles abgesperrt.
Emilia kam langsam auf sie zu. Das Blaulicht der Polizeiautos spiegelte sich auf ihren nassen Wangen. Elara sah sie hoffnungsvoll an, aber Emilia schüttelte entschuldigend den Kopf. Tränen rollten Elara die Wange hinunter.
Emilia nahm die neben Elara liegende Decke und wickelte sich ebenfalls ein. „Wir werden ihn schon finden! Mach dir keine Sorgen. Du kannst nichts dafür, dass …“ „Natürlich ist es meine Schuld! Mama hat mir die Verantwortung gegeben! ICH habe nicht aufgepasst, ICH habe meinen Bruder verloren und ICH bin daran Schuld!“, unterbrach Elara sie und verbarg das Gesicht in den Händen. Sie weinte und war wütend auf alles und jeden. Vor allem aber auf sich selbst.
„Ich weiß, dass du dir jetzt die Schuld für alles gibst, aber das bringt uns nicht weiter. Hast du noch eine Idee, kennst du einen Lieblingsort, wo er sich aufhalten könnte?“, fragte Emilia sanft.
Elara schüttelte den Kopf. „Er hat keinen speziellen Lieblingsplatz. Er ist allgemein gerne draußen. Aber wir haben ja alles abgesucht. Und wer weiß, ob er überhaupt noch lebt. Hier läuft irgendwo ein Mörder rum, der auf Menschen einsticht! Vielleicht liegt Ilias längst irgendwo tot auf dem Grund der Lippe!“
Beide Mädchen schwiegen.
Polizisten liefen hin und her, die Zeit verstrich, und Elara saß mit Emilia hinten in dem Auto. Irgendwann kam John auf sie zu.
„Wir konnten deinen Bruder bis jetzt noch nicht ausfindig machen. Die Kollegen werden weiter nach ihm suchen, aber euch bringen wir erst mal nach Hause. Elara, vielleicht kommst du mit zu uns, dann können wir dir sofort Bescheid geben, sollte es Neuigkeiten geben?“
Elara nickte zustimmend. Auf keinen Fall wollte sie jetzt allein zu Hause sitzen. „Können wir vorher noch einmal bei mir zu Hause vorbeifahren?“, fragte sie. „Ich würde mir gern trockene Sachen holen. Und vielleicht ist Ilias mittlerweile dort aufgetaucht.“
„Natürlich“, sagte John. Aber in seinem Blick las sie, dass er genauso wenig wie sie daran glaubte, dass ihr Bruder zu Hause auf sie wartete.
Kapitel 14: Elara
Elara stand immer noch unter Schock. Nachdem die drei hier angekommen waren, hatte John schnell drei Pizzen bei einem Lieferservice bestellt, bevor er nach oben verschwunden war.
„Dad ist kurz in seinem Büro, dann kommt er auch gleich zu uns“, hatte Emilia ihr erklärt, während sie gemeinsam den Tisch gedeckt hatten.
Und nun saßen sie hier und aßen schweigend Pizza.
Nach einer Weile fragte Emilia ihren Vater: „Warum machst du so ein langes Gesicht?“
Ihr Vater blickte sie an. Er hatte die Stirn in Falten gelegt, als ob er über etwas nachdachte. „Nun, ich war ja bei dieser Redaktion, und der Mann am Empfang meinte doch tatsächlich, dass der Journalist alle Unterlagen zu seiner Arbeit abgeholt hat. Und zwar nach seinem Todeszeitpunkt! Der Mann am Empfang hatte sich nicht darüber gewundert, denn er wusste ja noch nicht, dass der Journalist ermordet worden war.“
Emilia zog eine Augenbraue hoch. „Vor seinem Todeszeitpunkt? Wie soll das gehen?“
John zuckte mit den Schultern. Elara sog die Luft tief ein, als wollte sie sich selbst beruhigen. Während des restlichen Abendessens sprachen sie kein Wort mehr.
Zusammen gingen die Mädchen anschließend nach oben, um sich die Zähne zu putzen, und dann in Emilias Zimmer, um zu schlafen. Elara jedoch tat kein Auge zu. Allein der Gedanke, ihr Bruder könnte da draußen im Sturm sein, verletzt, vielleicht sogar tot … Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder zu vertreiben. Jemand tippte ihr auf die Schulter. Elara schrie auf.
„Chill! Willst du Papa aufwecken?“, fragte Emilia, und kurz darauf leuchtete eine Taschenlampe auf.
„Du hast Nerven!“, murmelte Elara.
„Komm! Wir gehen in Dads Büro! Dort hat er seine Unterlagen zum Fall. Vielleicht finden wir da ja etwas, das uns auf der Suche nach Ilias weiterbringen könnte!“, meinte Emilia.
Elara blickte sie an. „UNS weiterbringen?“
Emilia lächelte. „Na ja … Ich kann das auch alleine machen!“, erwiderte sie herausfordernd.
„Nein.“ Elara stand auf. Sie konnte ja ohnehin nicht schlafen. Und jede Chance, ihren Bruder zu finden, musste genutzt werden. „Wo ist das Büro?“
„Hinten am anderen Ende des Ganges. Aber Vorsicht! Die Tür daneben ist das Schlafzimmer von Dad! Und die Holzdielen knarren seeeehr laut, ich rede aus Erfahrung.“
Emilia ging mit ihrem Handy vor, während Elara mit der Taschenlampe hinter ihr herschlich. Ganz langsam drückte Emilia die Türklinke herunter und trat in das Büro. Elara folgte ihr. Als beide drinnen waren, schlossen sie die Tür. Emilia knipste das Licht an, und Elara sah den Raum: Ein großer Schreibtisch mit einem Stuhl stand vor dem Fenster gegenüber der Tür, rechts daneben eine Kommode mit Fotos und einer Magnettafel und links ein deckenhohes Regal voller Aktenordner.
„Ja, ich weiß, voll toll!“, sagte Emilia. „Du durchsuchst die Aktentasche und ich seinen Schreibtisch, da verstaut er meistens Infos über seine neuen Fälle.“
Sie deutete auf die auf dem Schreibtisch liegende Aktentasche, während sie anfing die unterste Schreibtischschublade zu durchsuchen. Elara löste die beiden Schnallen der ledernen Aktentasche und öffnete sie. Darin befanden sich eine Geldbörse, eine Stiftschatulle aus Metall, ein Dienstausweis und ein kleines digitales Notizbuch. Es sah aus wie ein E-Book-Reader, nur dass man statt Bücher darüber zu lesen Notizen hineinschreiben konnte. In einem Namenskästchen auf dem Cover stand der Name des Besitzers: Kenny McAngus.
„Schau mal hier!“, forderte sie Emilia auf. „Das muss das Notizbuch sein, das die Spurensicherung an der Lippe gefunden hat. Worüber er wohl so geschrieben hat?“ Emilia antwortete nicht, sondern klappte den Laptop auf, der auf dem Schreibtisch stand, und gab den Namen des Journalisten in die Suchleiste ein. Sie stießen auf mehrere Einträge. „Er war Journalist beim Kleeblatt. So viel wussten wir ja schon. Er hat wohl über mehrere Firmen, die dazu beitragen, die Natur zu zerstören, kritisch berichtet, und soll sich generell für Umweltthemen interessiert haben“, fasste Emilia zusammen.
„Aber was hat das mit seinem Tod zu tun?“, fragte Elara. „Und wie soll uns das alles überhaupt mit Ilias weiterhelfen?“
Emilia runzelte die Stirn. „Na ja: Wenn wir herausfinden, wer diesen Kenny ermordet hat, finden wir vielleicht auch Ilias! Vielleicht hat er den Mörder überrascht?“
Elara schluckte. „Aber dann … ist er vielleicht schon tot!“
„Vielleicht hat er sich auch einfach versteckt!“, gab Emilia zurück.
„Vielleicht ist er entführt worden!“, sagte Elara.
„Vielleicht sitzt er gerade an einer Bushaltestelle“, meinte Emilia.
Elara strafte sie mit einem bösen Blick.
Emilia hob beschwichtigend die Hände. Dann sagte sie: „Aber es gibt keine Hinweise darauf, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen ist! Wir werden ihn finden! Ganz bestimmt. Guck jetzt endlich in das Buch!“
Elara schlug das den Deckel des elektronischen Notizbuchs auf und schaltete es ein. Auf der ersten Seite war nochmals das Cover abgebildet. Als sie auf den Knopf drückten, der die nächste Seite aufschlagen sollte, erschienen Buchstaben.
„LIVE Kraftwerk: Alles Betrug? Das klingt wie ein Zeitungsartikel. Guck mal online, wann der erschienen ist!“, bat Elara.
Emilia suchte auf der Website vom Kleeblatt, fand jedoch nichts. „Vielleicht ist er noch gar nicht erschienen?“, überlegte sie. „Lies weiter!“
„Hohe Einnahmen, verbotenes Abbauen von Kohle, die in einem illegalen Kraftwerk verstromt wird, Betreiberin streitet weiterhin alles ab … Das klingt gar nicht gut. Aber weiterbringen tut es uns auch nicht!“, meinte Elara und seufzte.
„Vielleicht ja doch“, sagte Emilia nachdenklich. „Wenn ich die Betreiberin des Kraftwerks wäre, hätte ich sicher nicht gewollt, dass jemand diesen Artikel liest.“
„Du meinst …“, setzte Elara an, wagte es aber nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Emilia nickte. „Lass uns hinfahren. Vielleicht finden wir da ja was. Beziehungsweise: Vielleicht finden wir dort Elias. Falls du Recht damit hast, dass der Mörder ihn entführt hat …“
Elara nickte zustimmend. Und so packten sie Emilias Rucksack mit ihrem Handy, auf dem die abfotografierten Seiten des Notizbuches waren, zwei Flaschen Wasser und zwei Äpfeln. Bevor sie aufbrachen, flitzte Elara noch einmal schnell auf die Toilette. Als sie zurückkam, saß Emilia am Schreibtisch und schrieb.
„Was sitzt du noch hier herum?“, fragte Elara aufgeregt. „Los geht’s.“
Eilig zogen sie Jacken und Schuhe an und liefen los zur nächsten Bushaltestelle.
Kapitel 15: Elara
Ich hatte das Kraftwerk schon öfter gesehen, wenn Ilias und ich mit unseren Eltern daran vorbeigefahren waren. Von der Autobahn aus sah es nicht so groß aus. Doch nun standen wir davor und es war wortwörtlich riesig. Durch die hohen Windräder der Windkraftanlage, die sich drehten, wirkte das Ganze noch gigantischer.
„Sollen wir es wagen, da reinzugehen? Nicht, dass wir nachher so wie der Journalist enden”, sagte ich.
„Keine Sorge”, sagte Emilia, „ich habe große Erfahrung damit herumzuschnüffeln. Denn mein Vater ist ja Polizist, und ich habe mich immer schon für Detektivsachen interessiert. Und je mehr ich mich um das Thema gekümmert habe, umso besser wurde ich.”
„Hast du denn keine Angst?”, fragte ich.
„Doch klar. Aber ich sage mir immer, die goldene Hauptregel beim Detektivsein ist: Versuche so leise wie möglich zu sein. Und dann klappt es.”
Ich nickte. Durch sie konnte ich mich etwas beruhigen. Also gingen wir näher an das Gelände heran.
„Siehst du einen Eingang?”, fragte ich.
„Da!” Emilia zeigte auf ein Rohr, das aus dem Boden ragte. „Da passen wir locker rein.“
„Und woher wissen wir, dass es wirklich zu diesem unterirdischen Kraftwerk führt?“, fragte ich skeptisch.
„Nun ja“, sagte Emilia. „Ganz sicher können wir da erst sein, wenn wir hindurchgeklettert sind. Ich kann auch als erstes hineingehen.”
„Na gut“, sagte ich. „Aber wie kommen wir dahin? Der Zaun hier versperrt uns den Weg.“
„Wie wär’s, wenn wir durch dieses Loch da gehen“, meinte Emilia. „Das hat wohl der Journalist in den Zaun geschnitten.”
Nachdem wir durch das Loch gekrabbelt waren, kamen wir endlich am Rohr an.
Wir kletterten hindurch und erreichten eine große Halle, in der noch mehr Rohre waren. Vor allem aber auch noch Mitarbeiter.
„Was machen wir denn jetzt?”, flüsterte ich. Wir mussten nur ein Geräusch machen und schon würden sie merken, dass wir hier waren.
„Kannst du springen?”, fragte Emilia.
„Wieso?”
„Weil das unsere einzige Möglichkeit ist, hier durchzukommen. Wir müssen über die Spalte und auf die Leiter dort springen.“
„Spinnst du?”, fragte ich ernst.
„Nein. Ich gehe auch zuerst.”
Ich war besorgt, doch bestimmt wusste Emilia, was sie tat. Sie stand konzentriert da. Wahrscheinlich versuchte sie abzuschätzen, wie weit und hoch sie springen musste. Danach zählte Emilia leise bis drei und sprang. Ich rannte schnell zu dem Punkt, von dem aus sie gesprungen war. Ich konnte sie nicht mehr sehen. War sie in das Rohr gefallen, das direkt unter der Spalte zu sehen war?
„Emilia?”, flüsterte ich, „alles okay?”
„Ich bin hier”, sagte sie.
Sie war eine Ebene unter mir auf einer der oberen Sprossen gelandet. Komisch, dass ich sie nicht gleich gesehen hatte.
„Kommst du auch?”, wollte sie wissen.
Ich ging einen Schritt zurück und nahm all meinen Mut zusammen. Auch ich zählte bis drei und sprang! In dem Moment hoffte ich nur eins: Bitte lass mich auf der Leiter landen! Und ich hatte Glück. Ich war zwar etwas tiefer als Emilia gelandet, aber immerhin auf der Leiter.
Wir kletterten die Leiter hoch und mussten noch mal durch ein Rohr gehen. Ich sage nur eins: Derjenige, der hier so viele Rohre hingebaut hatte, den sollte man verklagen. Es war nämlich wirklich anstrengend, die ganze Zeit nur zu klettern und zu krabbeln. Am Ende kamen wir an einer dunklen Kreuzung an, von der aus viele Wege in unterschiedliche Richtungen führten. Emilia und ich entschieden uns für einen, der nach rechts abging. Diskutieren brauchte man ja deswegen nicht. Je weiter wir den Weg entlanggegangen waren, umso lauter hörten wir Frauenstimmen. Schließlich waren wir so weit, dass wir hören konnten, was genau sie sagten.
„Was wollen wir jetzt machen?”, fragte die eine Stimme, „irgendwann wird ans Licht kommen, was ich getan habe.”
„Wenn wir es verheimlichen, wird schon nichts passieren“, sagte die andere Stimme. „Außerdem war es gut. Stell dir vor, es würde an die Öffentlichkeit geraten, was wir hier machen.”
Immer weiter folgten wir den Stimmen. Sie waren schon sehr laut geworden. Doch plötzlich packte mich jemand an der Schulter.
„Was wollt ihr hier?”, fragte ein Mann.
„Wir … wir sind die Kinder von einem Mitarbeiter hier und wollten uns mal die Arbeitsstelle unseres Vaters ansehen“, sagte Emilia schnell. „Wir wollen später nämlich auch hier arbeiten, und da wollten wir wissen, was man in diesem Beruf genau machen muss.”
Der Mann schaute uns streng an. Wahrscheinlich glaubte er uns nicht.
Ein anderer Mann kam in unsere Richtung. Er trug einen Helm und dunkle Kleidung. Sein Gesicht war voller Kohlenstaub. „Norman, was ist?”, rief er.
„Ich wollte von den Kindern wissen, was sie hier zu suchen haben.”
„Kinder!?”, sagte der andere erstaunt. Schnell rannte er zu uns. „Ich heiße Colin und bin der Obersteiger hier. Wenn ihr hier reingeht, muss ich das von euren Eltern höchstpersönlich wissen. Damit ihr also keinen Ärger kriegt, würde ich euch raten, dass ihr wieder nach Hause geht.”
Wahrscheinlich wäre es wirklich das Schlauste, wenn wir jetzt einfach gingen, dachte ich. Doch dann stellte ich mir vor, dass Ilias irgendwo hier ganz allein eingesperrt war. Ich wollte ihn keine Sekunde länger warten lassen. „Aber wir beide finden den Beruf so spannend!”, log ich deshalb, „wollen Sie uns wirklich unseren Traum zerstören?”
„Hör mal, kleines Mädchen”, begann Colin, während Norman nur neben ihm stand und zuguckte.
„Ich bin 13 Jahre alt und nicht mehr klein. Nur dass Sie das wissen”, gab ich zurück. „Wie auch immer”, sprach Colin weiter, „ihr geht jetzt besser schnell nach Hause und stört nicht die Arbeiter hier.“
„Sie meinen wohl die Arbeiter, die hier Kohle abbauen, nur um ein geheimes unterirdisches Kohlekraftwerk am Laufen zu halten, ohne dass sie das eigentlich dürften. Ja, reden Sie weiter …”, sagte Emilia.
Colin guckte erstaunt.
Kapitel 16: Colin und Norman
„Ich sag doch”, jammerte Norman, „Kinder sind immer schlau.“
Colin wurde wütend: „Denkst du, ich bin jemand, den das gerade so was von interessieren würde?” Damit brachte er Norman zum Schweigen. Er drehte sich wieder zu den Kindern um, doch die waren heimlich geflohen. „Aktivier den Alarm, wir haben hier ganz ärgerliche Kinder.”
Gesagt, getan. Norman drückte auf einen roten Knopf in der Wand und löste dadurch ein lautes Geräusch aus. Dann machte er eine Durchsage: „Liebe Mitarbeiter, wenn Sie hier zwei Mädchen sehen, das eine hat blonde wellige Haare und das andere dunkle Locken, bringen Sie sie in Colin Maskners Büro. Danke!“
Kapitel 17: Elara
Als wir die Durchsage hörten, rannten wir um unser Leben.
„Nichts wie weg!“, rief Emilia.
Doch es war schon zu spät. Im Gang vor uns hatten sich an die 30 Mitarbeiter in den Weg gestellt. Und auch in die andere Richtung brauchten wir nicht zu rennen, denn dort hatten sich ebenfalls mindestens 40 Mitarbeiter versammelt.
„Was machen wir nur?“, sagte ich besorgt.
„Einfach ruhig stehenbleiben“, murmelte Emilia.
Und so bewegten wir keinen Muskel mehr.
„Bringt sie in mein Büro!“, befahl Colin, der nun zwischen den Arbeitern auftauchte.
Im Büro fragte Colin dann: „Was wolltet ihr wirklich hier machen? Ich glaube euch keinesfalls, dass ihr nur rumstöbern wolltet, um euch die Arbeitsstelle eures Vaters anzuschauen. Netter Versuch, doch bei mir hat diese Lüge nicht gereicht, um euch einfach gehen zu lassen. Also raus mit der Wahrheit.“
Emilia und ich guckten uns verzweifelt an. Doch wir entschieden uns für alles andere als die Wahrheit. Das war klar.
„Lassen Sie uns gehen, und wir stören Sie nicht noch einmal“, sagte Emilia.
Ich nickte. „Dann gibt es auch keine weiteren Probleme.“
„Gut, ihr wollt nicht mit der Wahrheit rausrücken. Dann ziehen wir eben andere Seiten auf. Jemand wird sich gleich um euch kümmern. Jemand, der ganz sicher alles aus euch herausbekommt.“
Einer der Mitarbeiter fesselte uns an der Wand fest. Dann verließen sie den Raum. „Lassen Sie uns hier raus!”, riefen Emilia und ich gleichzeitig. Doch diesmal gab es leider keine Möglichkeit zu fliehen. Wir dachten nach. Das Einzige, auf das wir hoffen konnten, war, dass jemand uns retten und hier rausbringen würde. Und was war mit Ilias? Plötzlich fing ich an zu weinen.
Emilia sah mich mitfühlend an. „Hey, ist doch alles okay. Okay, es ist nicht okay. Aber die werden uns schon nichts tun. Mein Vater wird uns retten. Mach dir da keine Gedanken.”
Kapitel 18: Ilias
Geduldig wartete Ilias, bis die Bücherei öffnete. Kaum wurden die Türen aufgeschlossen, lief er zur Bibliothekarin.
„Hallo“, sagte er, „ich war gerade zu Hause, und es hat keiner aufgemacht. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Darf ich eine Weile hierbleiben, bis meine Schwester zurück ist?“
Die Bibliothekarin dachte: Der Junge ist bestimmt der Vermisste.
„Natürlich“, sagte sie zu Ilias. „Möchtest du vielleicht etwas trinken?“
Dankbar nickte Ilias.
Die Bibliothekarin schnappte sich das Telefon und rief auf dem Weg in die Teeküche die Polizei an. Schnell erzählte sie von dem Jungen. Dann kehrte sie zurück, gab ihm ein Glas Apfelschorle und setzte sich zu ihm.
Wenig später kam ein Polizist in die Bücherei. Er sagte: „Hallo, ich bin John und würde gerne mit dir reden. Bist du Ilias?“
Ilias nickte.
„Wir haben dich gesucht“, sagte der Polizist. „Wo warst du denn die ganze Zeit?“ Ilias sagte: „Ich bin mit drei Fröschen unterwegs gewesen. Sie haben mir einen schönen Ort an der Lippe gezeigt.“
Der Polizist fragte: „Haben die Frösche denn auch Namen?“
„Ja, sie heißen Kinoko, Fukasaku und Balsamico“, sagte Ilias.
„Das sind ja verrückte Namen“, meinte John. „Hast du sie so genannt?“
Ilias sagte: „Nein, sie haben mir ihre Namen verraten.“
Der Polizist grinste. Dann fragte er: „Wo warst du denn in der Nacht?“
„Im Wald bei einem Jungen“, erzählte Ilias. „Er heißt Lukas. Ich durfte dort übernachten. Er wohnt in einem richtig tollen Baumhaus, wo er alles hat, was er zum Leben braucht.“
Der Polizist schmunzelte.
Ilias dachte: Das ist ja wieder typisch Erwachsene, glauben einem nie.
„Warum bist du denn überhaupt in den Wald gelaufen?“, wollte John nun wissen. Ilias sagte: „Ich … ich habe … gesehen, wie jemand an der Lippe angegriffen wurde, und Angst bekommen und mich im Wald versteckt. Und da habe ich dann den Jungen getroffen.“
John runzelte besorgt die Stirn. „Wie sah denn der Mensch aus, der angegriffen wurde?“
Ilias sagte: „Er hatte einen Hut auf und einen Mantel an. Mehr konnte ich nicht sehen.“
„Und was ist dann passiert?“
„Sie ist einfach weggegangen“, sagte Ilias.
„Sie?“, fragte John überrascht. „War es eine Frau, die den Mann angegriffen hat?“ Ilias nickte.
„Und wie sah die Frau aus?“, fragte John.
Ilias sagte: „Gesehen habe ich nur, dass sie rote Haare hatte.“
„Würdest du sie denn wiedererkennen?“, fragte John.
Ilias sagte: „Ich glaube schon.“ Er fing an zu weinen. „Ich habe richtig viel Angst und möchte zu meiner Schwester.“
John sagte: „Okay, ich fahre dich dann jetzt zu ihr.“
Ilias schluchzte: „Ich war schon zu Hause. Da ist niemand.“
„Ich weiß, wo deine Schwester ist“, sagte John. „Sie ist bei meiner Tochter, da sie bei uns übernachtet hat. Sie hat sich richtig um dich gesorgt.“
Ilias hörte gar nicht mehr richtig zu. Seine Gedanken kreisten schon darum, wie es wohl so war, in einem Polizeiauto zu fahren. Durfte er wohl auch mit Sirene und Blaulicht fahren, fragte er sich.
Als sie draußen waren, winkte Ilias Balsamico zu, den er zwischen den Büschen am Wegesrand entdeckte.
John fragte: „Wem hast du gewinkt?“
„Ach niemandem“, sagte Ilias.
Dann stiegen sie ins Auto und fuhren los. Unterwegs dachte Ilias noch einmal an die Begegnung mit Lukas zurück.
Kapitel 19: Ilias – Rückblende
Ich hatte panische Angst, als ich durch den Wald rannte. Durch die Wand aus Regen konnte ich kaum etwas erkennen. Was hatte ich gerade gesehen? Eine Frau, die mit einem Messer von jemandem wegrannte, der Angst vor ihr gehabt hatte und nun im Matsch lag. Ich verdrängte die Gedanken und lief weiter. Plötzlich stieß ich mit einem Jungen zusammen, der ungefähr im Alter meiner großen Schwester war.
„Was machst du hier? Es ist gefährlich, allein im Wald zu sein“, sagte er.
„D-da war eine Frau … Sie hatte ein Messer …“ Ich war noch ganz durcheinander.
„Beruhig dich doch erst mal und komm mit in mein Baumhaus. Da kannst du mir alles in Ruhe erzählen“, sagte der Junge.
Ich war so geschockt von dem, was ich beobachtet hatte, dass ich gar nicht darüber nachdachte, wer der Junge war oder was er hier machte, sondern ihm einfach folgte. Unterwegs fragte ich dann doch: „Wie heißt du eigentlich?“
„Lukas“, sagte er. „Und du?“
„Ilias“, antwortete ich. Plötzlich donnerte es ohrenbetäubend. „A-ahh … D-D-D- Donner …“, flüstere ich. „Ich habe Angst …“
„Das brauchst du nicht“, meinte Lukas und stieß ein Heulen wie von einem Wolf aus. Auf einmal raschelte es leise im Gebüsch und drei schwarze Wölfe sprangen hervor. „Keine Angst, die sind zahm“, sagte Lukas, bevor ich überhaupt reagieren konnte. Ich zitterte vor Nässe und Kälte am ganzen Körper. Wir kamen am Baumhaus an und kletterten die Strickleiter hoch. Ich spähte nach unten und sah, dass die Wölfe um den Baum patrouillierten. Oben angekommen blickte ich mich neugierig um. Es gab einen Fernseher, eine Maschine, die, vermutete ich, Kakao machen konnte, und einen elektrischen Kamin. Auf dem Bett saß ein Mädchen mit karamellfarbenen Locken und einem komischen Anzug aus schwarzem Stoff.
„Hallo, ich bin Beyla, und wer bist du?“, fragte sie mich mit einem freundlichen Lächeln.
„Ich bin Ilias“, antwortete ich.
„Komm mit, wir holen dir erst mal was Trockenes zum Anziehen“, sagte Lukas und führte mich zu einem geheimen Durchgang im Baum. „Deorum de Phoenix, aperi illud“, sprach er ernst.
Ich war nicht gerade der Profi, aber ich wusste durch meine nervige große Schwester, dass das Latein war. Es rumpelte und krachte, und … da war plötzlich eine Treppe im Inneren des Baumes. An den Wänden hingen erstaunlicherweise rote und schwarze Fackeln. Unten an der Treppe schloss sich eine riesige Höhle an, in der alle möglichen Fahrzeuge und Geräte standen. An der Decke flog ein brennender Vogel entlang.
„Boah, Wahnsinn!!!“, rief ich, als wir weitergingen.
Etwas sprang auf meine Schulter und schmiegte sich an mich.
„W-was …?“, fragte ich, während das Etwas metallisch „Pika-Pika!“ sagte.
Lukas meinte: „Hast du einen neuen Freund gefunden, Pika?“
„Moment mal … Pikachu?? Wie das Pokémon?“, fragte ich.
„Ja, ich habe viel Freizeit und baue Metallkopien von allen möglichen Sachen.“ Lukas reichte mir einen Stoffanzug, wie Beyla ihn trug, und sagte: „Im Nebenraum dort bist du ungestört und kannst dich umziehen.“ Er zeigte auf eine Tür in halber Höhe der Treppe.
Als ich die Treppe nach oben ging, sagte Lukas: „Tut mir leid, aber Pikachu darf nicht mit nach oben, ist so Vorschrift.“
Pikachu klang traurig, als es die Treppe hinunterhüpfte, und Lukas meinte: „Aber wir können heute mal eine Ausnahme machen …“
Als ich umgezogen war, der Anzug war nebenbei bemerkt echt bequem, gab Lukas mir noch einen Beutel für meine nassen Sachen, und dann gingen wir wieder hoch ins Baumhaus, wo Beyla schon mit Kakao auf uns wartete.
Am nächsten Morgen erwachte ich sehr früh von den Geräuschen des Fernsehers. Die Fernsehnachrichten waren eingeschaltet. Der Sprecher sagte gerade: „… Es wurde eine Vermisstenanzeige für den 6-jährigen Ilias aufgegeben. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort ist die Bücherei. Falls ihn jemand findet, bringen Sie ihn …“ „Na, jetzt musst du uns aber schnell alles erzählen“, meinte Beyla.
Also berichtete ich ihnen, was geschehen war, und Beyla sagte: „Du musst zu deiner Schwester zurückgehen.“
„Warum sollte ich“, antwortete ich. „Gestern in der Bücherei war es ihr ganz egal, was mit mir ist. Ich glaube nicht, dass sie mich vermisst.“
„Vielleicht denkst du das nur. Sie wollte bestimmt bloß ihre Ruhe und war genervt, weil eure Eltern gesagt haben, dass sie auf dich aufpassen muss.“
„Hm … Kann sein …“, entgegnete ich.
„Ich denke, du solltest zurückgehen“, sagte Beyla.
„Du darfst uns aber jederzeit besuchen kommen“, schaltete sich Lukas ein.
„Okay …“, meinte ich widerstrebend. Dann machte ich mich auf den Weg zurück in die Bücherei.
Kapitel 20: John
Ich halte Ilias die Autotür auf und steige dann selber auf der Fahrerseite ein. Der Regen trommelt laut gegen das Dach, und ich schalte direkt den Scheibenwischer an, der hektisch hin und her wedelt. Ich versuche, Ilias auf der Fahrt mit einer Kinderlieder-CD aufzumuntern, aber der kleine Mann starrt nur aus dem Fenster und schaut sich die vorüber rasenden Bäume und Büsche an. Ab und zu blicke ich zu ihm rüber, aber ich muss mich auf die Straße konzentrieren. Ich bin froh, dass er gleich wieder bei seiner Schwester sein wird, und fahre noch etwas schneller. Als wir zu Hause angekommen sind, parke ich mein Auto in der Einfahrt. Ilias steigt direkt aus und wartet ungeduldig an der Tür auf mich. Ich schließe ihm auf, und zusammen betreten wir das Haus.
„Deine Schwester und meine Tochter schlafen sicher noch“, sage ich zu Ilias, während ich im Flur Mantel und Stiefel ausziehe. „Willst du sie wecken? Das Zimmer ist in der ersten Etage.“
Schon flitzt Ilias los.
Während er nach den beiden Mädchen sucht, mache ich uns beiden Kakao. Nach einer Weile kommt Ilias allerdings ohne Emilia und Elara zurück … Besorgt gucke ich ihn an, doch er schüttelt nur den Kopf und zuckt mit den Achseln. Ich gehe zusammen mit ihm ein zweites Mal in Emilias Zimmer. Es ist leer. Ich schaue aus dem Fenster in den Garten. Vielleicht sind sie draußen? Nichts. Ich gucke mich noch mal im Zimmer um, vielleicht haben die beiden ja einen Zettel oder so hinterlassen. Ich finde zwar keinen Zettel, dafür aber ein aufgeschlagenes Buch. Liebes Tagebuch. Elara und ich fahren jetzt zu dem Kraftwerk Live, um herauszufinden, ob sie etwas mit Kennys Tod und Ilias’ Verschwinden zu tun haben. Wir sind jetzt Detektive 😉 Der Rest ist kaum leserlich. Das Einzige, was ich noch lesen kann, ist das Wort Notiz. Ich eile in mein Büro und schalte das elektronische Notizbuch ein, dass die Spurensicherung am Tatort gefunden hat. Gestern Abend bin ich nicht mehr dazu gekommen, darin zu lesen. Nun überfliege ich eilig den Artikel, den Kenny McAngus dort abgespeichert hat. Das ist ja unglaublich, denke ich, als ich von einem unterirdischen Kohlekraftwerk und einem unterirdischen Steinkohlenbergwerk lese, die angeblich unterhalb des Ökostrom-Kraftwerks betrieben werden. Schnell eile ich weiter in den Flur und fange an, meine Stiefel und meinen Mantel anzuziehen, als mir plötzlich Ilias wieder einfällt. Der steht da und schaut mich mit großen Augen an. „Du kannst mitkommen“, sage ich, und er schlüpft schnell in seine Jacke. „Elara und Emilia haben einen kleinen Ausflug gemacht“, behaupte ich. Dass die beiden Mädchen in Gefahr sind, will ich ihm erst mal nicht sagen.
Kapitel 21: John
„So, da wären wir. Das sollte das Kraftwerk sein, zu dem Elara und Emilia wollten“, sage ich, während ich aus dem Auto steige.
Ilias plumpst aus dem Auto und reißt dabei Emilias alten Kindersitz mit, den ich für die kurze Fahrt noch aus der Garage gekramt habe. Nach einem Hinweis, dass Ilias bitte noch die Autotür hinter sich zumachen soll, schließe ich das Auto ab.
Ich stehe mit Ilias in einem kleinen Waldstück kurz vor einem abgelegenen Ökostromgebiet, dem Kraftwerk LIVE. Solche Gebiete sind immer voll mit Windrädern und Solaranlagen und deshalb riesig groß. Wie soll ich meine Tochter und Elara auf einem solchen Gelände nur finden? Ich hoffe, das Sondereinsatzkommando rückt gleich hier an. Ich kann nicht auf eigene Faust einfach in ein Ökostromgebiet einbrechen, schon gar nicht bei diesem fiesen Nieselregen und mit einem Erstklässler im Schlepptau, der erst gestern Zeuge eines Mordes werden musste. Außerdem ist es noch ein kleiner Fußmarsch bis zum Zaun. Ich konnte ja nicht einfach davor parken, die Betreiber werden bestimmt Sicherheitskameras installiert haben. Oh nein, hoffentlich geht es den Mädchen gut. Ich hätte mich mehr um meine Tochter kümmern müssen, nicht immer nur um die Arbeit. Vielleicht hätte sie mir dann von ihren Plänen erzählt, und ich hätte sie aufhalten können. Ich muss sie finden, ich muss einfach.
Der kleine Ilias unterbricht mich in meinen Überlegungen: „Ich will zu Elara, und mir ist kalt!“
Ich versuche, ihm die Situation zu erklären: „Wir haben im Moment das Problem, dass wir gar nicht genau wissen, wo deine Schwester ist. Allerdings haben wir einen Hinweis, dass sie sich mit Emilia dort hinten im Ökostromgebiet aufhalten könnte. Deshalb versuchen wir, sie zu finden. Gleich kommen ein paar Kolleginnen und Kollegen von meiner Arbeit und helfen uns dabei. Wichtig ist, dass du genau das tust, was wir dir sagen, und schön ruhig bist, damit wir deine Schwester finden können, ja?“
„Sind das deine Leute da hinten?“, wirft Ilias ein.
Ich entgegne: „Ja, das dürften sie sein, gut erkannt.“ Eine Reihe Streifenwagen fährt über den matschigen Waldweg, der voller Pfützen steht, herbei und parkt neben uns. Wenig später kommt meine Kollegin Sandra zu mir. Sie leitet das SEK in unserer Abteilung. Rasch besprechen wir das nähere Vorgehen, während Ilias von einer anderen Kollegin in Obhut genommen und darüber aufgeklärt wird, was als nächstes passiert und wie er sich verhalten soll. Er wird erst mal mit der Beamtin im Polizeiwagen bleiben, bis die Situation deeskaliert ist.
Zunächst laufen Sandra und ich alleine zum Eingangstor des Kraftwerks und bitten darum, hereingelassen zu werden, was auch im nächsten Moment geschieht. Das Schiebetor öffnet sich, und uns kommen zwei Arbeiter, von denen einer voll mit schwarzem Staub ist, entgegen.
„Guten Tag, die Herren. Wir sind vom Dorstener Kommissariat und haben Anhaltspunkte dafür, dass Sie hier illegal ein unterirdisches Kohlekraftwerk betreiben, und würden uns die Anlage daher gerne anschauen“, beginnt Sandra das Gespräch mit den Arbeitern, ohne dabei zu erwähnen, dass wir eigentlich wegen eines Mordfalls und zweier vermisster Kinder hier sind, woraufhin einer der Männer verdattert entgegnet: „Polizei, waaas?“
Der andere Arbeiter tritt, ohne den Blick von uns abzuwenden, auf den Fuß seines Kollegen und beginnt sich für diesen zu rechtfertigen: „Sie müssen meinen Arbeitskollegen Norman hier entschuldigen. Er ist solche Situationen nicht gewöhnt, er arbeitet heute den ersten Tag als Aufseher in der Firma. Ich bin Colin Maskner, Vorarbeiter und Aufseher hier im LIVE-Ökostrombetrieb. In Bezug auf ein unterirdisches Kohlekraft muss ich Sie enttäuschen.“ Er lacht. „Da wollte Ihnen wohl jemand einen Bären aufbinden. Ich kann Sie gerne etwas herumführen. “
„Wir bitten darum. Und wie war noch gleich Ihr Name?“, richte ich mich an den Arbeiter, der scheinbar Norman heißt.
Dieser antwortet: „Friedwell. Norman Friedwell.“
Dann führen uns Herr Maskner und Herr Friedwell einmal am Zaun vorbei um das Gelände, allerdings nicht in das Herz des Ökostromgebiets. Das ist sehr seltsam, da muss etwas dahinterstecken, Herr Maskner möchte ganz sicher etwas vor uns verbergen.
„Und was ist da am Kontrollturm?“, frage ich. „Ich will mir den mal genauer anschauen!“
„Nee, der ist im Moment außer Betrieb“, entgegnet Herr Maskner.
Norman fügt hinzu: „Colin hat Recht, da können wir nicht hingehen, Anweisung von der Chefin.“
Sandra wird stutzig: „Soso. Dann wollen wir den Turm erst recht einmal -“
„Das können wir leider nicht machen, tut mir leid“, fällt Herr Maskner Sandra ins Wort. Er blockiert uns den Weg. „Das ist Privatgelände! Ich kann Sie hier nicht durchlassen!“
Mir wird klar, dass die Situation jetzt kippt, und ich rufe Verstärkung, als eine Gruppe Bodyguards sich zügigen Schrittes nähert. Normalerweise müssten wir jetzt gehen, allerdings ist das hier eine Ausnahme.
Ich mache Herrn Maskner und Herrn Friedwell klar: „Entweder Sie zeigen uns jetzt das gesamte Gelände und den Turm, oder wir müssen gewaltsam eingreifen. Wir ermitteln in einem Mordfall und haben den Verdacht, dass Sie hier zwei Kinder festhalten!“
Herr Maskner entgegnet entschlossen: „Dann versuchen Sie es doch, alleine kommen Sie nie gegen unsere Männer an. Außerdem dürfen Sie das doch eh nicht, braucht man dazu nicht einen Durchsuchungsbeschluss oder so?“
An diesem Punkt ist Sandra und mir klar, dass das hier nicht friedlich zu lösen sein wird. Wir wechseln noch kurz einen Blick, dann gibt Sandra dem bereits angekommenen und versteckten Sondereinsatzkommando ein schnelles Zeichen, woraufhin dieses mit taktischen Schutzschilden aus seinem Versteck kommt. Die Polizeibeamtinnen und –beamten eilen vor uns her und versuchen mit aller Kraft sich durchzukämpfen, damit Sandra und ich an den Männern vorbei zum verdächtigen Kontrollturm gelangen können. Die Bodyguards von LIVE brüllen und versuchen wild um sich schlagend gegen unsere Leute anzukommen, doch keine Chance. Sie kommen an den Schutzschilden nicht vorbei. Dann setzt ein Beamter Tränengas ein. Die Bodyguards winden sich und weichen zurück, die beiden Arbeiter hauen ab. Endlich kommen Sandra und ich an den Männern vorbei und rennen in Richtung des Kontrollturms. Wir werden von fünf Kolleginnen und Kollegen begleitet, während die restlichen die Bodyguards von LIVE mit Handschellen fesseln. So schnell wir können, rennen wir zum Kontrollturm. Dort angekommen staunen wir. Vor uns führt eine riesige, scheinbar viel befahrene Einfahrt in eine Art unterirdisches Bergwerk. Aus dem Boden ragen Türme eines Kraftwerks, die von hohen Steinmauern vor Blicken abgeschirmt werden. Kenny McAngus hatte tatsächlich Recht. Das muss das unterirdische Kohlekraftwerk samt Steinkohlebergwerk sein, das er gemeint hat. „Komm schon, John, wir müssen die Kinder finden!“, ruft Sandra mir zu, die bereits auf dem Weg die Einfahrt runter ist. Ich laufe ihr schnell hinterher. Als wir unten angekommen sind, schleichen wir uns an der kalten Betonwand entlang, um nicht gesehen zu werden. Ich blicke mich um, alles ist voller Rohre, viele Tunnel führen von hier, was der Hauptraum zu sein scheint, weiter unter die Erde.
„Das ist ja riesig hier“, flüstere ich Sandra zu, die daraufhin zustimmend nickt. Unsere Blicke schweifen weiter umher, dann entdeckt Sandra etwas: „Siehst du das, da oben? Da scheint ein Büro zu sein. Und da, hinter der Scheibe, sind das deine Tochter und ihre Freundin?“
Sandra hat tatsächlich Recht. Ach, Emilia, was machst du nur? Du kannst doch nicht auf eigene Faust ein Unternehmen aufhalten, das vielleicht schon seit Jahren seine kriminellen Machenschaften vor der Polizei verheimlichen konnte. Sandra und ich bewegen uns vorsichtig durch den Gang, in dem wir den Raum vermuten, in dem Emilia und Elara an die Wand gefesselt festgehalten werden. Da hören wir zwei aufgeregte Frauenstimmen. Wir scheinen entdeckt worden sein, leider kann ich nichts Genaueres verstehen, die Wände hier sind dick. Die Stimmen scheinen aus einem der Räume zu kommen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, ich habe fürchterliche Angst. Ich will nur Emilia und Elara retten und uns alle hier aus dem Laden rausbringen. Während ich solche Panik schiebe, sehe ich im Augenwinkel, wie Sandra sofort reagiert und unsere Kolleginnen und Kollegen, die uns hierher begleitet haben, anweist. Daraufhin stürmen diese nacheinander durch die Tür des Raumes, aus dem die Frauenstimmen gekommen sind.
Kapitel 22: Viktoria
Kurz vorher …
Ich stehe neben Jane in ihrem Büro und berichte ihr vom Ausgang meines letzten Auftrags, als Norman, einer unserer Angestellten, den Jane letztens noch befördert hat, damit er endlich nicht mehr um mehr Geld jammert, wegen seiner ach so beknackten Familie, hereinstürmt und völlig verwirrt brüllt: „Ich soll sagen, ähhhm … Ja, da sind so Kinder, die gesagt haben, dass sie ihren Vater auf der Arbeit besuchen wollen oder so.“
Ich frage ihn: „Ja, und wo sind die bitte? Ich sehe die hier nicht!“
Er entgegnet: „Die sind bei Colin, der hat mich doch zu euch geschickt!“
Och ne, solche Schwierigkeiten können wir jetzt echt nicht gebrauchen!
„Jane, was willst du mit denen machen?“, sage ich zu Jane. „Du bist die Chefin hier.“ Sie richtet sich an Norman: „Sag Colin, er soll die Kinder herbringen.“
In dem Moment öffnet sich die Tür und Colin steht davor. „Norman“, sagt er, „komm mit. Wir scheinen noch weitere ungebetene Gäste da draußen zu haben. Und an Jane gewandt ergänzt er: „Die Sache kriegen wir schnell erledigt. Wir kommen gleich wieder, Chefin. Dann bringe ich die Mädchen.“
Während Norman und Colin sich wieder vom Acker machen, frage ich Jane: „Schatz, und was hast du jetzt mit den Kindern vor?“
„Wir müssen erst mal rauskriegen, was die hier eigentlich wollen, mein Liebling. Du kannst sie ja später mal verhören“, entgegnet sie.
„Klar, mach ich“, verspreche ich. „Ich hoffe nur, die machen uns keinen Ärger. Den können wir gerade gar nicht gebrauchen.“
Jane nickt. Eine Weile stehen wir schweigend und hängen beide unseren Gedanken nach. „Wo Colin nur bleibt“, fragt Jane schließlich.
Da erst werfe ich einen Blick durch das kleine Fenster des Büros und sehe zwei Menschen, einen Mann und eine Frau, die auf dem Weg zu uns sind.
„Scheiße, das sind garantiert Bullen!“, versuche ich Jane mitzuteilen, ohne zu schreien. „Hör zu! Du musst hier weg, die erfahren nie, dass du auch in die ganze Sache verwickelt bist, ich überleg mir ne Story! Die sind bestimmt nicht nur wegen des Kraftwerks oder des Bergwerks hier, sondern wegen der Kinder, die hier angetanzt sind, ich wusste ja, dass die Probleme machen würden!“
„Aber ich kann dich nicht alleine hierlassen, Viktoria!“, meint Jane aufgewühlt.
Ich kann nicht zulassen, dass sie auch von der Polizei erwischt wird: „Doch, du musst gehen, vertrau mir! Kennst du noch unseren Geheimausgang für Notfälle?“ Jane nickt und fängt an zu weinen, doch ich kann mich jetzt nicht von Gefühlen überwältigen lassen, sie muss es hier wegschaffen. Ich sage: „Gut, nimm den, dann finden die dich nie! Ich liebe dich!“
Unter Tränen läuft Jane los, denn sie weiß, dass es sonst zu spät ist.
Kapitel 23: Elara
„Bist du dir immer noch sicher, dass wir hier lebend wieder rauskommen?“, flüstere ich Emilia zu.
„Mein Vater wird uns schon retten, da bin ich sicher!“, antwortet sie mir.
Ich habe solche Angst, wie kann Emilia nur so cool bleiben? Die haben bestimmt sonst was mit uns vor, ich meine die betreiben ein illegales, unterirdisches Kohlekraftwerk und sind auch irgendwie in den Mordfall des Journalisten verwickelt, da bin ich mir sicher. Und Ilias ist auch immer noch nicht aufgetaucht, wo steckt er nur? Ich ertrage das alles nicht mehr, es ist einfach zu viel für mich.
Plötzlich werden die Frauenstimmen aus dem Nebenraum lauter, die wir schon, bevor Norman und Colin uns entdeckt und in diesen winzigen, leeren und kalten Raum gebracht haben, das erste Mal gehört haben. Seit wir hier eingesperrt sind, habe ich die Stimmen immer mal wieder gehört, allerdings scheinen sie jetzt aufgeregt über irgendetwas zu diskutieren. Was wohl da los ist? Jetzt scheint jemand wegzulaufen und dann: „Sie sind verhaftet! Hände dahin, wo ich sie sehen kann!“
Da bleibt mir die Luft weg, die Polizei hat uns tatsächlich gefunden, Emilia hatte Recht.
Im nächsten Moment rufe ich: „Hallo, hier sind wir!“
Daraufhin kommt Emilias Vater mit seinen Polizeikollegen und -kolleginnen zu uns geeilt und sie machen sich umgehend daran, die Kabelbinder an unseren Händen aufzuschneiden. Emilia fällt ihrem Vater erleichtert in die Arme, ich kann eine kleine Freudenträne auf seiner Wange erkennen. Doch was dann passiert, hätte ich mir nicht träumen lassen, denn eine Polizistin betritt den Raum, und wen hat sie an der Hand? – Genau, Ilias! Ich renne, als würde ich um mein Leben laufen, zu ihm, knie mich vor ihn auf den Boden und schließe ihn in die Arme.
„Was machst du nur für Sachen?“, sage ich, vor Freude und Erleichterung weinend. „Wo warst du? Geht’s dir gut? Was ist passiert?“
„Ach Schwesterchen, ich habe dich auch vermisst! Mir geht es supi, und ich habe sogar einen Laubfrosch, einen Wasserfrosch und einen Teichfrosch kennengelernt. Aber wie geht es dir denn? Du musst hier in dieser riesigen Höhle doch wirklich Angst gehabt haben, oder?“, antwortet mir Ilias.
Mein leises Lachen unterbricht mein Weinen. „Ich bin einfach nur froh, dass du wieder da bist“, meine ich. „Du kannst mir gleich von den Fröschen erzählen, dann erzähle ich dir auch von meinem Abenteuer, ja?“
Er entgegnet: „Das machen wir so!“
Als wir gerade den Raum verlassen haben und auf dem Weg durch den Flur sind, ruft Ilias aufgeregt: „Sie ist das, die ich am Fluss gesehen hab! Sie war bei dem Mann!“, und zeigt dabei auf eine rothaarige Frau, die gerade durch den Flur geführt wird.
Die Polizisten, die der Frau sowieso schon Handschellen angelegt hatten, rücken näher an sie heran und versichern Ilias: „Wir versprechen dir, wir werden ein besonderes Auge auf sie haben!“
Das scheint Ilias zwar etwas zu beruhigen, allerdings wirkt er immer noch verunsichert. Ich bekomme Angst. Es scheint Ilias doch nicht ganz so gut zu gehen, wie er mir gerade gesagt hat, das scheint er verdrängt zu haben. Aber besser ich spreche ihn erst später darauf an, ich will ihn nicht noch weiter beunruhigen. Mir stellen sich unfassbar viele Fragen. Was hat Ilias da nur gesehen? Hat er tatsächlich den Mord beobachtet? Ich kann es nicht fassen! Geht es ihm wirklich gut? Kann er von einem solchen Erlebnis ein Trauma davontragen? Wie kann man es verdrängen, einen Mord beobachtet zu haben? Mein kleiner Bruder, er hat es nicht verdient, so etwas mitbekommen zu müssen! Hätte die Mörderin nicht wenigstens aufpassen können, wenn sie schon wen umbringen muss? Ich bin wütend auf die Frau und ohnehin: In mir herrscht ein wahres Gefühlschaos. Mein Kopf dreht durch, es bringt alles nichts, ich muss mich beruhigen, vielleicht kann ich morgen reflektierter darüber nachdenken. Diesen Gedanken überdenke ich noch mal und stelle fest, wie naiv es von mir ist, zu glauben, dass ich meinen Kopf bis morgen einfach abschalten und meine Gefühle zurückstellen kann, dafür kenne ich mich zu gut. Aber eins kann ich versuchen: mich zu beruhigen, denn es bringt ja nichts, wenn ich jetzt auch noch hysterisch bin.
Kurze Zeit später laufen Emilia und ihr Vater genau wie mein kleiner Bruder und ich Hand in Hand die Einfahrt zum Kraftwerk hinauf ins Licht, denn mittlerweile lacht die Sonne sogar wieder, der Regen hat sich wohl in Luft aufgelöst. Während die ganzen Polizeileute noch die Verhafteten abführen, Personalien aufnehmen und das Gelände weiter absichern, erzählt mir Ilias von seinem Erlebnis mit der Froschbande und seinen Ideen dazu, was man gegen den Klimawandel unternehmen kann. Es macht mich total stolz, dass mein kleiner Bruder solche Themen auch schon wichtig findet und gute Ideen dazu hat. Außerdem überrascht mich seine blühende Fantasie immer wieder, ich kann echt froh sein, so einen tollen Bruder zu haben, hat nicht jeder! Nur die Tatsache, dass er nach eigener Aussage bei einem Lukas im Baumhaus übernachtet hat, beunruhigt mich etwas. Ob es diesen Lukas wirklich gibt? Was hätte Ilias im Wald alles passieren können? Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass mein kleiner Bruder, ein sechsjähriger Junge, einen Mord beobachten musste. Es tut mir so leid für ihn und …, Nein, ich wollte meine Gedanken zurückstellen, ich kann jetzt keine schlechten Gefühle gebrauchen …
Ich habe auch keine Idee, wie ich das alles unseren Eltern erklären soll, die werden bestimmt außer sich sein. Ich hoffe, ich kriege keinen Hausarrest, aber egal, jetzt ist die Hauptsache, dass Ilias wieder da ist und es allen gut geht, das war ein anstrengender Tag. Dass ich so etwas mal erleben muss! Ich bin total müde, könnte so ins Bett fallen. Zum Glück hat John gesagt, wir müssen heute nicht mehr zur Polizeistation mitkommen.
Kapitel 24: Emilia
Angestrengt starrte ich auf den winzigen Bildschirm, der das Innere des kleinen Verhörraums offenbarte. Darin saß mein Vater Viktoria Reik gegenüber, und sie durchbohrten sich gegenseitig mit Blicken. Ob mein Vater wusste, dass ich hier war? Nö! Das ging ihn aus meiner Sicht auch nichts an. Immerhin hätte er ohne mich … na ja … ohne uns … überhaupt keine Verhaftete vor sich. Zu meinem Glück hatte der Raum eine Lautsprecheranlage, die es mir erlaubte, alles mitzuhören, was in dem Raum passierte. Ich grinste, als mir ein guter Gedanke kam. Neben mir stand ein Mikrofon, das geradezu nach mir zu rufen schien. So etwas konnte ich nicht ignorieren. Ich griff danach und wollte gerade laut hineinschreien, als das Verhör begann.
Das sah so aus, dass mein Vater sich wichtigtuerisch räusperte und Viktoria einen strengen Blick zuwarf. Diese erwiderte den Blick nicht, rümpfte aber genervt die Nase und änderte ihre Sitzposition zu einem trotzigen Schneidersitz.
„Warum bin ich überhaupt noch hier?”, fragte sie fauchend. „Von meiner Seite ist alles geklärt!” Sie fummelte dabei nervös an ihrem Ehering herum, streifte ihn dann nach kurzem Zögern ab und ließ ihn in ihre Handtasche gleiten. „Also?! Kann ich jetzt hier raus und zurück in meine Zelle?!” Sie verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich von der Tischlampe weg, die sie anscheinend blendete.
Dad schüttelte verständnislos den Kopf. „Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie das alles alleine geplant haben?”, fragte er und zog eine Augenbraue bis zum Haaransatz hoch. Über den kleinen Bildschirm konnte ich erkennen, wie eine Ader an seinem Kopf zu pulsieren begann. „Außerdem haben Sie immer noch nicht zugegeben, Kenny McAngus getötet zu haben … Aber Sie haben Recht! Solange Sie mich nicht aufklären, kann ich nichts mehr für Sie tun.”
Er stand laut seufzend auf, und ich sah meine Chance kommen. Wieder griff ich nach dem Mikro und schrie nun tatsächlich laut hinein: „HEY, DAD! SIEH DOCH MAL IN IHRER TASCHE NACH! VIELLEICHT KÖNNTE DICH DAS WEITERBRINGEN!!!”
Mein Vater sprang erschrocken in die Luft und begann zu schimpfen. Ich aber drehte die Lautstärke der Boxen auf Null und pfiff vor mich hin. Nach einigen Sekunden der „Stille“ schien Dad sich beruhigt zu haben und schüttelte nur noch verstört den Kopf. Dann aber begann er zu nicken. Ich drehte die Lautstärke etwas auf, sodass ich gerade noch mithören konnte. Jetzt ging mein Vater langsam auf den Stuhl zu, auf dem Viktoria ihren Ich-sage-nichts-Streik durchführte. Dann packte er blitzartig nach der kleinen, goldenen Handtasche und riss sie Viktoria aus den zu Fäusten geballten Händen.
Nur wenige Minuten später legte Viktoria ein Geständnis ab. Wie Papa alles aus ihr herausquetschen konnte? Na gar nicht! Kurz bevor er in ihre Tasche greifen konnte, brach sie aus ihrer Grummelstarre heraus in Tränen aus, sackte auf dem Boden zusammen und gab ihre Tat kleinlaut zu. Mein Vater gab seinen bösen Blick auf und versuchte, dienstlich zu bleiben. Ich blieb natürlich total ernst. Ich meine ja nur! Wie konnte man bei einer Mörderin Mitleid bekommen?! Aber das Schauspiel, was sich mir bot, war schon sehr herzzerreißend. Ich fasse zusammen: Zuerst lag sie da einfach so rum und heulte, was sich etwas zu lang hinzog. Nachdem mein Vater ihr unsicher ein Taschentuch gereicht hatte und sie sich beide wieder gesetzt hatten, fasste sie sich ein wenig. Dann erzählte sie, dass sie durchaus hatte vertuschen wollen, was Kenny McAngus über LIVE herausgefunden hatte. Aber dass die Entscheidung, ihn nicht bloß einzuschüchtern, sondern gleich zu töten, einem ganz anderen Motiv entsprungen war. Ab dem Moment hörte ich besonders gut hin, damit ich Elara nachher alles so detailgetreu wie möglich wiedergeben konnte.
„Alles begann eigentlich schon vor zwölf Jahren“, sagte sie. „Was ich Ihnen aber … schluchz … nicht alles erzählen möchte. Fangen wir vor einem halben Jahr an. Ich bin schon seit vierzehn Jahren geoutet und lebe seit zwölf Jahren zusammen mit meiner Chefin … schluchz … Jane. Sie ist sozusagen meine Auftraggeberin, und wir arbeiten zusammen. Sie ist der Boss, der hinter allem steht! Aber sie hat mich nicht damit beauftragt, Kenny zu töten, das schwöre ich!”
Mein Vater musterte Viktoria kurz. „Was ich aber nicht begreife … Sie sagten eben selbst, dass es sicherlich gereicht hätte, Kenny McAngus viel Geld zu bieten oder ihn einzuschüchtern, damit er seinen Artikel über die illegalen Machenschaften von LIVE nicht veröffentlicht hätte. Warum haben Sie ihn trotzdem … Sie wissen schon?” Viktoria verzog angewidert das Gesicht: „Er war Abschaum! Er lebte in der Vergangenheit! Er war ein neugieriges Schwein, das seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckte! Und wenn man da nicht aufpasst, kann einem die Nase eben auch schon einmal abgebissen werden. Er hat Jane und mich nicht wie Menschen behandelt! Er war immer angewidert in unserer Gegenwart und machte einen großen Bogen um uns. ER HAT UNSERE LIEBE NICHT VERSTANDEN!“
Dad schüttelte nur irritiert den Kopf, ehe er Viktoria bat, den Tathergang ausführlich zu schildern.
Kapitel 25: Viktoria – Rückblende
Ich schlich, so leise wie ich konnte, hinter Kenny her in den Wald.
„Hast du dich verlaufen, Viktoria?“, fragte er plötzlich und drehte sich zu mir um. „Guter Witz“, meinte ich trocken und versuchte, mir die Überraschung darüber, dass er mich erwischt hatte, nicht anmerken zu lassen.
Ich winkte ab und lief dann extra in anderer Richtung weiter. Ich beobachtete, wie Kenny weiter am Fluss entlangging, und schlich ihm diesmal noch weiter entfernt nach, bis er direkt am Ufer stehenblieb. Ich wusste aus irgendeinem Grund, dass das meine Chance war. Ich überlegte also nicht lange, griff in meine Tasche, zog das Messer hervor und sprang aus meinem Versteck. Ich sprang direkt auf Kennys Schultern und warf ihn mit voller Kraft um. Durch die Wucht flog sein Hut vom Kopf in den Matsch.
Kenny lag auf dem Rücken und blickte zu mir auf. Er sah mir direkt ins Gesicht und meinte tonlos: „Ohh…kay, ich denke, das ist dann kein Freundestreffen.“
„Sah es für dich jemals so aus?“, fragte ich und hielt ihm das Messer unter die Nase. Er riss voller Angst die Augen auf und schrie: „N-nein, bitte nicht … W-wir können doch über alles-alles reden. D-du hast n-nicht das vor, w-was ich d-denke, oder?“
Ich blickte von seinen Augen weg auf seinen Körper und tat, was ich tun musste. „Jetzt denkst du nichts mehr“, sagte ich dann.
Ich hörte ein Knacken und schaute mich nervös um, sah aber nichts Außergewöhnliches. Sicher ein Tier, dachte ich und rannte, so schnell mich meine Beine trugen, davon. Mein einziger Gedanke war, zurück zu LIVE, zurück zu Jane, zurück nach Hause.
Kapitel 26: die Familie
Am Abend saß die Familie von Elara und Ilias ein weiteres Mal im schönen Garten zusammen und sprach über die vergangenen beiden Tage.
Die Mutter fragte: „Wie ist es denn gelaufen? Hattet ihr irgendwelche Probleme oder war alles in Ordnung?“
Elara und Ilias hatten nach den aufregenden Ereignissen vereinbart, ihren Eltern nichts davon zu erzählen. So würden die sich nämlich nicht aufregen oder sich Sorgen machen, dass sie in Gefahr geraten sein könnten (was ja in der Tat der Fall gewesen war), beziehungsweise würden Elara und Ilias so keinen Ärger bekommen. Deshalb antwortete Elara: „Alles war normal. Wir hatten gar keine Probleme oder so.“
„Das ist doch schön. Dann brauchen wir ja überhaupt keine Babysitter für euch mehr zu suchen“, stellte die Mutter fest. Doch nun kam die Überraschung: „Das war nämlich eigentlich nur eine Probe. Wir wollten ausprobieren, wie ihr so alleine klarkommt. Falls ihr Probleme gehabt hättet, hätten wir sofort kommen können. Wir waren nämlich eigentlich nur in Marl.“
Nun regte sich Elara lautstark auf: „Was? Ihr wart die ganze Zeit nur in der Nachbarstadt? Dann hätte ich mir ja den Aufwand, auf Ilias aufzupassen, sparen können.“
„Jetzt beruhige dich mal!“, wandte ihr Vater ein. „Du hast doch gerade selbst gesagt, dass es keine Probleme gab. Das heißt doch auch, dass Ilias gar nicht so aufwendig zu ‚bändigen’ war. Und außerdem …“
Da klingelte das Telefon, und der Vater hechtete schnell hin.
Der Rest der Familie hörte nur: „Ah. Hallo John. Was ist denn? … … Hä? Wer ist denn bitte schön Viktoria Reik? … … Was für ein Abenteuer denn? … … Was?! Eins meiner Kinder war verschollen? Beide haben bei der Detektivarbeit geholfen, sind zwei Verbrecherinnen hinterhergejagt, von denen die eine eine Mörderin ist, und meine Tochter ist auch noch von denen gefangen genommen worden? Das ist ja interessant. Mit meinen Kindern muss ich wohl gleich noch mal sprechen. … Ach,
keine Sorge. Sie werden es dir schon verzeihen. … Alles klar. Richte ich aus. Tschüss.“ Er legte auf und warf erst Elara und dann Ilias einen strengen Blick zu. Das würde wohl Ärger geben …
Das Projekt
Diese Geschichte entstand in den Osterferien 2021 als Nachfolgeprojekt der Projekte „Am Fluss“ und „Am Fluss II“, mitten in der dritten Corona-Welle. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen: In fünf Videokonferenzen planten, diskutierten und schrieben die neun Autorinnen und Autoren ihre gemeinsame Geschichte und die einzelnen Kapitel gemeinsam mit der Workshopleiterin Sarah Meyer-Dietrich und präsentierten sie in einer Abschlusslesung. Unterstützung gab es wie bereits Vorjahr von Birgitt Hülsken von der Stadtbibliothek Dorsten.
Das Projekt wurde ermöglicht durch Schreibland NRW und den Lippeverband und organisiert und durchgeführt von der Stadtbibliothek Dorsten mit Unterstützung des Fördervereins.
Die Autorinnen und Autoren
Kapitel 1: Simon Woitinas
Kapitel 2: Levje Schmadel
Kapitel 3: Finn Droste
Kapitel 4: Levje Schmadel
Kapitel 5: Finn Droste
Kapitel 6: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 7: Levje Schmadel
Kapitel 8: Clara Kunzmann
Kapitel 9: Nele Hülsmann
Kapitel 10: Emma Clausen
Kapitel 11: Simon Woitinas
Kapitel 12: Nele Hülsmann
Kapitel 13: Dana Loup
Kapitel 14: Dana Loup
Kapitel 15: Emma Clausen
Kapitel 16: Emma Clausen
Kapitel 17: Emma Clausen
Kapitel 18: Finn Droste
Kapitel 19: Kilian Pieck
Kapitel 20: Levje Schmadel
Kapitel 21: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 22: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 23: Merle Gabriele Dückers
Kapitel 24: Nele Hülsmann
Kapitel 25: Kilian Pieck
Kapitel 26: Simon Woitinas
Illustrationen: Finn Droste (Cover), Nele Hülsmann (Kapitel 3), Merle Gabriele Dückers (Kapitel 6, Bild 1 und Kapitel 8), Levje Schmadel (Kapitel 6, Bilder 2 und 3)