Martin Hagemann

Die Lippe und Dorsten

Die Lippe führt zusammen mit Ems und Emscher Niederschläge der „Westfälische Bucht“ ab. Seit Ende der Saale-Eiszeit vor ca. 130.000 Jahren hat sich ihre Lage nur noch kleinräumig verändert (Speetzen, 1990).

Abbildung 1: Lippeverlauf und Einzugsgebiet.

In dem 4.900 km² großen Einzugsgebiet windet sich der Fluss von seiner Quelle in Bad Lippspringe auf 220 km westwärts bis nach Wesel, wo er in den Rhein fließt. Die Lippemündung wurde im Zeitraum zwischen 2009 und 2014 naturnah umgestaltet. Entstanden ist eine an vorindustrielle Zeiten erinnernde Auenlandschaft mit Inseln, Kolken und Sandbänken.

Abbildung 2: Lippemündung in den Rhein bei Wesel. Quelle: Hans Blossey / Alamy Stock Foto

 

Paläontologische Zeugnisse aus vorgeschichtlicher Zeit im Bereich der Lippe sind u.a. Knochen eines Steppenelefanten, die 1992 beim Bau des Hochwasserrückhaltebeckens an der Baldurstraße in Dorsten gefunden wurden und deren Alter auf mindestens 38.000 Jahre geschätzt werden.

Abbildung 3: Knochen des gefundenen Steppenelefanten und zeichnerische Ergänzungen. Quelle: Lippeverband

Die Lippe im Raum Dorsten
Das Lippetal im Bereich der ursprünglichen Niederterasse weitet sich von 250 m bei Hervest auf 3 km Breite im Bereich der Altstadt auf (siehe Abbildung 4). Ursächlich dafür sind sicherlich die nördlichen Zuströme von Hammbach und Wienbach, die eine Erosion des Ursprungstals begüngstigt haben (Schuhknecht, 2011). Die Wassertiefe nahm dadurch rapide ab. Es entstanden Furten, die bereits in vorgeschichtlicher Zeit für Flussquerungen genutzt wurden. Später begünstigte die Lage von Dorsten, an der Lippe und nahe an großen Handelswegen gelegen, die Entwicklung der Stadt. So wurde Dorsten als sogenannte „Beistadt“ von Dortmund im 15. Jahrhundert in die Hanse aufgenommen. Sie führte von da an den Titel „Kleine Hansestadt“.
Der Lippeverlauf im Stadtgebiet Dorsten in den letzten 2000 Jahren
Der römische Geschichtsschreiber Tacitus (~ 58 n. Chr. – ~120 n.Chr.) erwähnt die Lippe in seinen Aufzeichnungen und nennt sie dort „Lupia“. Im frühen Mittelalter war dann der Name „Lippia“ gebräuchlich. Innerhalb der „Lippeniederterasse“ hat sich der Fluss im Stadtgebiet, begünstigt durch das breite Tal, immer mal wieder ein neues Bett gesucht. Hans Lampen, ehemals Vermessungsfahrsteiger auf der Zeche Fürst Leopold und späterer Bürgermeister der Stadt Dorsten (1964 – 1984) hat im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeiten rund 1800 im Stadtgebiet niedergebrachte Bohrungen ausgewertet und daraus Schlussfolgerungen über Verlagerungen der Lippe im Verlauf der Zeit abgeleitet (Lampen, 1996).

Abbildung 4: Verschiedene historische Flussbetten der Lippe im Stadtgebiet nach (Lampen, 1996)

Danach floss die Lippe zur Römerzeit im Stadtteil Holsterhausen in etwa im Bereich Baldurstraße und dann weiter westlich südlich am neuen Baugebiets Kreskenhof vorbei. Archäologische Grabungen im Zeitraum zwischen 1952 und 2006 haben gezeigt, dass die Römer zwischen 11 vor Chr. Und 16 n. Chr. in Holsterhausen in unmittelbarer Nähe zur Lippe Marschläger errichteten, von denen die in der Abbildung dunkelbraun dargestellten Bereiche durch den Landschaftsverband Westfalen- Lippe (LWL) besonders ausführlich untersucht wurden. Letztlich waren es wohl mehr als 10 Lager, die die Römer kurzeitig an der Lippe errichteten. (Ebel-Zebezauer, 2009).
Um etwa 50 n.Chr. änderte die Lippe ihren Lauf mehr oder weniger rasch und floss dann südlich an der heutigen Altstadt vorbei. Das alte Flussbett führte insbesondere bei Mittel- und Hochwasser weiterhin, wenn auch geringere Mengen, Wasser ab. Altarm und neues Lippebett machten das Land dazwischen zeitweise zu einer Insel.
Um ca. 500 n. Chr. suchte sich die Lippe wiederum ein neues Bett und floss bis ca. 650 n. Chr. mäandrierend vom heutigen Bahnhof aus in Richtung der heutigen Anlegestelle der Lippefähre. Danach verlagerte sich die Lippe weiter nach Norden (dunkelblau gekennzeichnet) und änderte ihre Lage im Großen und Ganzen dann nicht mehr.
Ende der 1920er Jahre wurde der Lippeabschnitt zwischen „Haus Hagenbeck“ und der jetzigen Schleuse nach Norden verlegt, um Raum zu schaffen für den Bau des Wesel-Datteln-Kanals.
Dreißigjähriger Krieg
Die Lippe erschwerte von jeher Truppen aus dem Norden einen Angriff auf die Stadt. Darüber hinaus war die Stadt bereits seit dem Spätmittelalter durch eine Stadtmauer und einen Wassergraben geschützt.
1633 erobert der hessische (protestantische) Landgraf Wilhelm der V. Dorsten. In der Folge ließ er die Stadt zu einer starken Festung ausbauen. Zusätzlich zur alten Stadtmauer und dem inneren Wassergraben erhielt die Stadt 8 Bastionen, die durch vorgelagerte Erdwälle, sogenannte Kurtinen, miteinander verbunden waren. Dadurch ergab sich zwischen der alten Stadtmauer und den Bastionen ein zweiter 1,50 m tiefer Wassergraben, der ebenso wie der innere Graben vom Schölsbach und dem Barloer Bach (Rapphoffs Mühlenbach) gespeist wurde.
1641 rückten 20.000 kaiserliche Soldaten auf Dorsten zu und verschanzten sich um die Stadt herum (dunkle Linien in nachstehender Abbildung). Diesen Truppen standen gerademal 2.000 hessische Soldaten innerhalb der Stadtmauern gegenüber. Nach anhaltendem Beschuss der Angreifer kapitulierten die protestantischen Truppen in der Stadt am 19. September 1641. Den in der Stadt noch verbliebenen 650 hessischen Soldaten, den Verwaltungsbeamten und ihren Familien gewährten die Angreifer schließlich freier Abzug.

Abbildung 5: Festungsplan aus dem 17. Jahrhundert. Quelle: Staatsarchiv NRW

Abbildung 6: Belagerungskarte, 1641, Kupferstich: Matthäus Merian

Abbildung 7: Dorsten, Ansicht von Norden, 1641, Kupferstich: Matthäus Merian

Lippeschifffahrt

Lippeschifffahrt zur Zeit der Römer
Inwieweit die Römer Schifffahrt auf der Lippe betrieben, ist nicht geklärt. Viele Historiker vermuten dies, da die Truppen für ihre Feldzüge viel Ausrüstung, Futter- und Lebensmittel zu transportieren hatten. Möglicherweise hat man den Nachschub mit flachen Lastkähnen über die Lippe befördert, währenddessen die Soldaten zu Fuß gingen. Bei Ausgrabungen in Haltern hat man Hinweise auf Schiffshäuser und eine Anlegestelle gefunden. Indes wurde entlang der ganzen Lippe kein einziges Römerschiff gefunden.

Lippeschifffahrt vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert
In Dokumenten aus dem 14. Jahrhundert finden sich bereits Auflistungen über die Zahlung von Lippezöllen. Eine Renteirechnung der Stadt Dorsten aus dem Jahre 1526 belegt Zolleinnahmen von 225 Schiffen. Von Datteln-Ahsen bis zur Rheinmündung war die Schifffahrt zu jener Zeit ungehindert möglich. Im Oberlauf hingegen behinderten Mühlenstauwehre die Schifffahrt. (Schuhknecht, 2011). Flussabwärts waren die Haupttransportgüter vor allem Getreide, Salz, Steine, und Holz. Flussaufwärts transportierte man hauptsächlich Handelsware aus Holland, die man in Kleve oder Wesel aufnahm.
Erst nach den Freiheitskriegen erließ Preußen, nachdem die Anrainerfürstentümer ihm zugefallen waren, 1817 eine Strom- und Uferordnung, nach der die Ufer in Ordnung und von Bäumen zu befreien waren. Darüber hinaus war von den Anliegern entlang des Ufers ein Streifen von 3 m an den preußischen Staat abzutreten. Zwischen Haltern-Vogelsang und Lippstadt errichtete man nach und nach bis 1830 insgesamt 19 Schleusen, womit die Lippe fast bis zur Quelle komplett schiffbar wurde. Der Tiefgang der gebräuchlichen Lippeschiffe lag lediglich zwischen 0,60 m und 0,80 m. Trotzdem behinderte ein zu geringer Wasserstand der Lippe öfters die durchgehende Schifffahrt. War die Schifffahrt deshalb eingeschränkt, so wurde der Fluss zum Flößen von Baumstämmen genutzt.
Flussabwärts wurde die Schifffahrt durch die Strömung begünstigt. Flussaufwärts wurde getreidelt. D.h. Pferde, manchmal auch Tagelöhner, zogen die Schiffe an langen Leinen den Fluss hinauf. Die Uferanlieger hatten deshalb die Aufgabe, an einer Seite des Ufers (in Dorsten am südlichen) einen 2 – 3 m breiten Streifen bewuchsfrei und passierbar zu halten.

Abbildung 8: Flussaufwärts wurden die Schiffe “getreidelt”.

Abbildung 9: Ausschnitt aus der Lippekarte von 1707 (Süden = oben). Quelle: Staatsarchiv NRW

Schiffsbau in Dorsten
Bereits im 15. Jahrhundert hatten sich Schiffsbauer in Dorsten niedergelassen. Dorsten galt zu dieser Zeit als das Zentrum des Schiffbaus an der Lippe. Zur Blütezeit des Dorstener Schiffbaus, Mitte des 19. Jahrhunderts, wurden pro Jahr bis zu 600 Schiffe verschiedener Größe gebaut. Auf dem nachstehenden Ausschnitt, einer Lippekarte von 1753, sind Schiffhäuser eingezeichnet, die sich heute ungefähr auf der Höhe des Parkplatzes „Lippetal“ befinden würden. In Abbildung 11: Lippeplan von 1840 mit projektierter Schleuse (nicht realisiert) bei Dorsten Quelle Staatsarchiv NRW sind südlich der Lippebrücken sogenannte Stellinge (Gerüste für den Schiffsbau) vermerkt.

Abbildung 10: Ausschnitt aus der Lippekarte von 1753 (Süden = oben). Quelle: Staatsarchiv NRW

 

Abbildung 11: Lippeplan von 1840 mit projektierter Schleuse (nicht realisiert) bei Dorsten Quelle Staatsarchiv NRW

Den in der Regel geringen Wassertiefen der Lippe angepasst entwickelten die Dorstener Schiffsbauer verschiedene Bootstypen, von denen besonders die „Dorstener Aak“ überregionale Bedeutung erlangte. In der Zweimastausführung gab es sie in 32m und 39 m Länge bei einer Breite von 5 m und 5,80 m. Die Dorstener Aak war ein typisches Flachbodenschiff mit gedrungenem Bug und einer Ladekapazität von 100 Tonnen und mehr. Wegen ihre hervorragenden Stau- und Segeleigenschaften fuhren die Dorstener Aaken im 18. Und 19 Jahrhundert auch auf dem Niederrhein und in den Niederlanden. Die Ausrüstung mit Takelage und Segeln erfolgte bevorzugt in den Rheinhäfen oder in Holland.

Abbildung 12: Dorstener Aak nach (Sopers, 1947)

Ende des 19. Jahrhundert verlagerten sich die Gütertransporte mehr und mehr auf die Bahn, so dass der Schiffsbau in Dorsten in kurzer Zeit an Bedeutung verlor. Auf dem Rhein fuhren zwar noch „Dorstener Aaken“ deren eiserne Rümpfe nunmehr aber auf Werften am Niederhein gefertigt wurden.

Kohlhaus und Gahlenscher Kohlenweg
Mitte des 18. Jahrhunderts steigerten die märkischen Zechen an der Ruhr die Kohleförderung dermaßen, dass diese im nahen Umfeld nicht mehr vollständig abgesetzt werden konnten. Bedarf an guter Kohle bestand andererseits im ebenfalls preußischen Herzogtum Kleve, von wo aus sie auch gut in die Niederlande exportiert werden konnte (Bergbau, 2019). Der Blankensteiner Lehrer und Bergwerksanteilseigner Johann Wilhelm Müser legte daraufhin 1765 den preußischen Behörden einen Plan zum Bau eines Kohlenwegs von Bochum-Stiepel nach Gahlen vor. Über die Lippe würde sich die Kohle dann kostengünstig ohne zusätzliche Zölle nach Wesel, Kleve und weiter rheinabwärts verschiffen lassen. 1766 genehmigte der preußische König Müsers Vorhaben. Für die die Lagerung der Kohle und den Umschlag auf Lippeschiffe wurde ein Kohlenhaus (Kohlhaus) an der Grenze zwischen Gahlen und Dorsten gebaut.

Abbildung 13: Kohlhaus, Ansicht und Grundriss, Quelle: Staatsarchiv NRW.

Abbildung 14: Kohlhaus, Foto aus dem 20. Jahrhundert.

Da das Gelände sumpfig und hochwassergefährdet war, gründete man das Gebäude komplett auf Pfählen. Nachdem die Ruhr Ende des 18. Jahrhunderts schiffbar wurde und mit dem Aufkommen der der Eisenbahn verlor der Gahlensche Kohlenweg und damit die Lippe als Kohletransportweg an Bedeutung. Fortan wurde das Gebäude für landwirtschaftliche Zwecke genutzt und 1972 im Zuge der Kanalverbeiterung abgerissen.

Abbildung 15: Lage des Kohlhaus an der Lippe.

Literatur:
Arbeitsgruppe „Geschichte des Bergbaus (2019). Der Gahlensche Kohlenweg. Bochum/Freiburg: Projekt Verlag.
Ebel-Zebezauer. (2009). Augusteische Marschlager und Siedlungen des 1. bis 9. Jahrhunderts in Dorsten-Holsterhausen. Mainz: Philipp von Zabern.
Lampen, H. (1996). Insula Durstinon – Lippeverlauf bei Dorsten. Dorsten: Stadt Dorsten.
Schuhknecht, F. (2011). Dorsten und die Herrlichkeit Lembeck. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschte.
Sopers. (1947). Scheppen die Verdwijnen. Amsterdam.
Speetzen, E. (April 1990). Die Entwicklung der Flußsysteme in der Westfälischen Bucht. Geologie und Paläontologie in Westfalen, Heft 16, S. 14.

Stadt Dorsten

Die frühe Stadtgeschichte – Ein Überblick

Von Römern und Germanen – die Frühgeschichte der Stadt Dorsten

Vielleicht wohnten die ersten Dorstener in Deuten. Zumindest wurden hier in der heutigen Bauernschaft Sölten auf einem Gräberfeld Urnen aus der Jungsteinzeit und der Bronzezeit gefunden. Die Bronzezeit war vor 2800 Jahren vorbei. Ähnlich alte Funde gibt es aber auch an anderen Stellen im Stadtgebiet. Wer der erste Dorstener war – wir werden es nie erfahren.

Dass Bauern entlang der Lippe siedelten, ist etwa seit 700 vor Christus belegt. Mit dem Fluss im Rücken waren ihre Häuser geschützt. Aus Einzelgehöften wurden Bauernschaften, aus Bauernschaften eine Hauptsiedlung an der Lippe. Wahrscheinlich hatte sie noch keinen Namen. Jedenfalls nicht Dorsten. Bis ins Jahr 18 vor Christus scheinen die Dorstener aber ganz gut und zufrieden gelebt zu haben.

Bis die Römer an die Tür geklopft haben. Na gut. Die Germanen hatten sie zuvor in ihren linksrheinischen Gebieten geärgert. Da ist das auch kein Wunder. Jedenfalls haben die Dorstener und die anderen Germanen die Römer da noch wieder zurückschlagen können. Kaiser Augustus war sauer und schickte ab 12 vor Christus den Feldherrn Drusus aus, Germanien zu erobern. Station machten die Legionäre auch in Holsterhausen, günstig an der Lippe gelegen, und errichteten hier ein Lager, das in den Jahren 11 bis 7 vor Christus bestanden hat. Fundstücke aus diesem Lager liegen unter anderem im Westfälischen Landesmuseum Münster, dem Römermuseum Haltern und dem Westfälischen Museum für Archäologie in Herne.

Wie die Geschichte weiterging, ist bekannt: In der Varusschlacht haben die Germanen die Legionen besiegt und zurück über den Rhein geschickt. Von Dorsten wollten die Römer danach nie wieder etwas wissen.

 

Stadtrechte und Hanse

Nach dem Abzug der Römer entstand nördlich der Lippe am Kleinen Hohefeld eine Siedlung mit vermutlich sechs Höfen, die „Durstina“ hieß, sowie südlich der Lippe ein Hof mit dem Namen Durstinon – die Keimzelle der Stadt, die in den folgenden Jahrhunderten verschiedenen Herrschaften unterworfen war.

Zwischen Wesel und Haltern bestand hier lange Zeit die einzige Brücke, um über die Lippe zu kommen. Dorsten lag damit an der Kreuzung wichtiger Fernhandelswege, konnte als Kaufmannsstadt davon profitieren und wuchs rasch.  1251 verlieh der damalige Landesherr, der Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden, Dorsten das Stadtrecht. Die Dorstener durften ihre Stadt befestigen und eigene Münzen prägen, die „Dorstener Pfennige“.

Durch die günstige Lage an der Lippe wurde Dorsten ein wichtiger und wohlhabender Handelsstandort und als „Kleine Hansestadt“ in den Kaufmannsbund aufgenommen. Dorstener Handelsleute hatten direkten Zutritt zu Hansekontoren und Niederlassungen aller Hansestädte. Die Einnahmen der Stadt stiegen und damit auch der Wohlstand der Bürger. Stimmrecht auf den Hansetagen hatten die Dorstener allerdings nicht. Sie wurden von der Freien Reichsstadt Dortmund vertreten.

In Verbindung mit der charmanten, nach dem Krieg auf mittelalterlichem Grundriss wieder aufgebauten Altstadt wurde die „Kleine Hansestadt“ als touristisches Markenzeichen in den 2000er Jahren wiederbelebt.

Hans-Jochen Schräjahr & Josef Ulfkotte  I  Verein für Orts- und Heimatkunde

Dorsten im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit: eine „kleine Hansestadt“

Der Begriff „Hanse“ stammt ursprünglich aus dem germanischen Sprachraum und bedeutete „Schar“ oder „bewaffnete Gemeinschaft“. Bei der frühen Hanse handelte es sich um den freien Zusammenschluss von Kaufleuten, die den Schutz der Gruppe für ihre gefahrvollen Reisen suchten und denen zugleich an einer wirksamen Interessenvertretung an ihrem jeweiligen Zielort gelegen war. Dazu fanden sich Kaufleute einer Stadt oder einer Region in bewaffneten Fahrgemeinschaften zusammen.

Die frühesten Belege für eine so organisierte regionale Handelsmission verweisen auf die Aktivitäten der Kölner Kaufleute, die bereits im 11. Jahrhundert in London einen besonderen Ruf genossen. 

Kaufmannshanse und Städtehanse

Für die weitere Entwicklung der Hanse zu einem gewichtigen Interessenverband der Fernkaufleute war die Gründung Lübecks im Jahre 1143 von entscheidender Bedeutung, weil sie die erste deutsche Stadt an der Ostsee mit sicheren Verbindungen zum Hinterland war und sich deshalb als Ausgangspunkt für die Ausdehnung des Handels im Ostseeraum besonders eignete. Mit Lübeck als Drehscheibe konnte der nordwesteuropäische Wirtschaftraum mit Rußland verbunden und über die Flüsse Dnepr und Wolga gar bis in den Orient (Kaspisches Meer, Persien) erweitert werden. Umgekehrt orientierte sich der nordrussische Handel in der Zukunft über die Ostsee nach Westen, was die Herausbildung einer Ost-West-Handelsverbindung zwischen den rohstoffreichen Gebieten Nordrusslands von Nowgorod aus (Getreide, Holz, Pelze, Wachs) und den Fertigprodukten Westeuropas (z.B. Tuche aus Flandern und England) zur Folge hatte. Mit dem Zugang zur Ostsee entwickelten die deutschen Kaufleute einen neuen Handelsweg, der die wichtigen Handelszentren Nowgorod und Brügge nahezu vollständig unter ihrem Einfluss miteinander verband.

Eine wichtige Grundlage für die Ausweitung des deutschen Handels im Ostseeraum war die im 12. Jahrhundert einsetzende Ostkolonisation, die Bauern, Handwerker und Händler aus Flandern, im heutigen belgisch-niederländischen Raum, aus Westfalen und Niedersachsen anzog. Die Städte, die sie in den neu zu erschließenden Gebieten gründeten, waren die Basis für den wirtschaftlichen Aufwärtstrend und den Handel in dieser Region.

Zusammen mit der Befriedung der Handelswege und der Entstehung der Städte, in denen ein ständiger Markt möglich war, wurden die erfolgreicheren Kaufleute ansässig. Sie regelten fortan von „ihrer“ Stadt aus ihre Handelsgeschäfte über die Entsendung von Vertretern und waren somit in der Lage, in kurzer Zeit mehrere Handelsgeschäfte gleichzeitig von ihrem „Stammsitz“ zu organisieren. In den aufblühenden Städten bildeten die Kaufleute eine deutsche Oberschicht, ihnen waren daher auch die höchsten Ämter und einflussreichsten Positionen vorbehalten. So sorgten sie maßgeblich mit dafür, dass die Städte selbst für die Sicherung der Handelswege „ihrer“ Kaufleute eintraten und die Einhaltung ihrer Handelsprivilegien in den Handelszielen überwachten. Zu diesem Zweck schlossen sie Bündnisse mit anderen Städten und begannen, ihre Maßnahmen bei so genannten Tagfahrten (Hansetagen) abzusprechen. Dazu konnte jede Stadt einladen, die eine bestimmte Angelegenheit mit einer anderen Stadt regeln wollte. Unter der Führung Lübecks formierte sich zunächst ein lockeres Bündnis der westfälischen, sächsischen, wendischen, pommerschen und preußischen Städte. Im Jahre 1356 kam es während des ersten allgemeinen Hansetages in Lübeck zu einem förmlichen Zusammenschluss aller hansischen Städte zunächst noch unter dem Namen Kopmans van der dudenschen Hanse; für 1358 ist dann die Bezeichnung Stede van der dudenschen Hanse belegt. Der scheinbar nahtlose Übergang von der Kaufmannshanse zur Städtehanse, d.h. verschiedener nach niederdeutschem Recht agierender Städte, ist in der jüngeren Forschung in Frage gestellt worden. Stattdessen wird angenommen, dass die älteren Kaufmannshansen fortbestanden, die auf gemeinsamer lokaler und regionaler Herkunft basierten, neben denen sich um 13. Jahrhundert der Handelsbund niederdeutscher Städte ausbildete. Organisation und rechtliche Gliederung der dudenschen Hanse unterlagen in den nachfolgenden 300 Jahren zahlreichen Veränderungen, zur Herausbildung einer einheitlichen Struktur ist es allerdings nie gekommen. Als „Haupt der Hanse“ bemühte sich Lübeck zwar, einen geschlossenen norddeutschen Handelsbund aufzubauen, doch scheiterten diese Bestrebungen in erster Linie am fehlenden Interesse der (westfälischen) Binnenstädte, die lieber an der Kaufmannshanse festhielten.

Dorstener Bürger im Hanseraum

Im großen europäischen Hanseraum zwischen Brügge, London, Bergen, Lübeck und Nowgorod lassen sich zwischen 1200 und 1500 keine Kaufleute aus Dorsten nachweisen wie das im Fall von Recklinghausen möglich ist. Bereits im 13. Jahrhundert waren Recklinghäuser Kaufleute in Brabant und England aktiv, ebenso im Ostseeraum. In Stralsund war seit 1282 der Name „de Rekelinghusen“ bekannt, in Riga ist „de Recklinchusen“ 1291 belegt.

Seit der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts sind die Namen Dorstener Bürger in den Hansestädten Danzig, Deventer, Königsberg, Lübeck, Rostock, Wismar und Zutphen auszumachen. Welcher Tätigkeit sie in ihrer fernen Wahlheimat nachgingen ist nicht bekannt.

Greifbar wird die Verbindung Dorstens mit der Hanse erst durch das Zeugnis des Hansekontors Brügge für den Dorstener Kaufmann Augustin Behen aus dem Jahre 1567, das ihn als Dorstener Bürger und Hansekaufmann ausweist. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts musste jeder Hansekaufmann eine Bescheinigung vorlegen können, die dokumentierte, dass er in einer Hansestadt geboren war. Insofern ist das Hanse-Zeugnis des Brügger Kontors für Behen ein Beleg für Dorstens Zugehörigkeit zur Hanse.

Ist Augustin Behen als Fernhändler anzusehen, der Dorsten verließ, um in größeren hansischen Handelsorten sein Glück zu versuchen, führte die bereits im 14. Jahrhundert in Dorsten ansässige Kaufmannsfamilie de Weldige-Kremer ihr Geschäft von hier aus. Das „Stammhaus“ der vornehmen und begüterten Familie de Weldige lag am Markt. Unter Peter und Georg de Weldige-Kremer trat das Haus als erste Dorstener Handelsadresse im ausgehenden 16. Jahrhundert in Erscheinung.

Wie die meisten Bürger der Stadt war auch Peter de Weldige ein Ackerbürger. Er hatte Besitzungen westlich des Schölzbaches und am Barloer Busch, die er mit Getreide bestellte. Darüber hinaus unterhielt er eine Schafherde, deren Wolle er an Dorstener Weber verkaufte. Durch Erbschaft und Zukauf vergrößerte er seinen Grundbesitz, den er zum Teil wieder verpachtete. Daneben betrieb er das Handelshaus am Markt, dem ein Gasthaus und eine Brauerei angeschlossen waren.

Es erstaunt nicht, dass Peter de Weldige seinen Einfluss in Dorsten auch im politischen Raum geltend machte. Von 1578 bis 1611 nahm er öffentliche Ämter als 1. und 2. Bürgermeister, Ratsherr, Rentmeister, Weinsetzer, Kirchmeister und Armenprovisor wahr. Als 1. Bürgermeister stand er zwölfmal an der Spitze der Stadt. Seine Dienstreisen, die er wohl auch geschäftlich nutzte, führten ihn nach Arnsberg, Münster und Köln. Nach seinem Tod im Jahre 1611 weitete sein Sohn Georg den Fernhandel des Hauses de Weldige-Kremer weiter aus. Von den bereits von seinem Vater vertriebenen Produkten (Gewürze, Zucker, Salz, Käse, Butter, Speck, Schinken, Fisch, Wachs, Korn, Öl, Bier, Wein und Branntwein) setzte Georg auf den Handel mit großen Mengen (Salz, Seefisch, Getreide, Branntwein, Wein). Mit seinen Produkten belieferte Georg de Weldige die adeligen Häuser im Vest und die Kleinhändler der näheren und weiteren Umgebung. Seit 1619 trieb Georg de Weldige als Rendant des Xantener Oberhofes in Dorsten die Abgaben der abhängigen Bauern ein und übergab sie dem Domkapitel in Xanten. Um 1620 wird er auch als Pächter des kurfürstlichen Lippe- und Landzolls genannt. Die krisengeschüttelten Zeiten ließen ihm als Kaufmann offenbar keine Zeit, sich in öffentlichen Ämtern um das Wohlergehen seiner Stadt zu kümmern.

Dorstens Stellung in der Hanse

Im Grundsatz war die Hansemitgliedschaft einer Stadt auf drei Wegen zu erreichen:

  • sie waren durch die Mitgliedschaft ihrer Kaufleute per se „Hansestädte“,
  • sie stellten einen förmlichen Aufnahmeantrag, den der Hansetag entschied,
  • sie nutzten über eine benachbarte, in der Regel größere Hansestadt die Privilegien der Hanse.

Den dritten Weg beschritt wohl auch die Stadt Dorsten, die sich 1476 gemeinsam mit Essen und Recklinghausen dem Hansevorort Dortmund angeschlossen zu haben scheint. Zu diesem Zeitpunkt war die Hanse im Umbruch. Dortmund und Köln stritten damals um die Vorrangstellung im südlichen Hanseraum. Besonders Köln war deshalb bemüht, die Anzahl der Beistädte auf ihrer Vertretungsberechtigungsliste zu erhöhen. Darüber liegt ein erster Nachweis für Dorstens Mitgliedschaft in der Hanse vor.

Als sog. „Beistadt“ oder „kleine Hansestadt“ wurde Dorsten nie zu den allgemeinen Hansetagen eingeladen, vielmehr ließ sie sich dort durch den „Vorort“ Dortmund vertreten. Die entstehenden Reise- und Aufenthaltskosten hatten die teilnehmenden Städte mit zu tragen. Dazu waren kleinere Städte wie Dorsten aber häufig nicht in der Lage.

Die Mitgliedschaft in der Hanse endete, indem die Hanseprivilegien nicht mehr genutzt wurden, durch freiwilligen Austritt oder durch förmlichen Ausschluss („Verhansung“), der bei massiven Verstößen gegen Interessen des Bundes vorgenommen werden konnte. Gewöhnlich lud Lübeck als „Haupt der Hanse“ zu den Hansetagen ein, die nach Bedarf abgehalten wurden. Behandelt wurden alle Fragen, die das Verhältnis der Kaufleute und Städte untereinander oder die Beziehungen zu den Handelspartnern im Ausland betrafen. Allerdings verfügte der Hansetag über keine Zentralgewalt, die die Städte dazu zwangen, die hier gefassten Beschlüsse einzuhalten, sodass es letztlich im Ermessen der Städte lag, diese Beschlüsse zu unterstützen oder andere Wege zu beschreiten, die eher ihren lokalen Interessen entsprachen. Ihre Blütezeit hatte die Hanse etwa von 1250 bis 1400; zwischen 1350 und 1400 erlangte sie gar den Status einer nordeuropäischen Großmacht.

Der Hansebezirk Dortmund 

Das Erstarken der Territorialgewalten im Ostseeraum, die die Städte zunehmend dazu zwangen, sich den Interessen der regierenden Fürsten unterzuordnen, die Konkurrenz durch Kaufleute aus Italien und Süddeutschland, die in den Wirtschaftsraum der Hanse vordrangen, neue Absatzmärkte erschlossen und flexiblere Verkaufsmethoden anwandten und die nach der Entdeckung des Kontinents Amerika und weiterer Seewege erfolgte Verlagerung des Handels aus dem Nord-Ostseeraum auf die Weltmeere sind einige Gründe, die den Machtverlust der Hanse herbeiführten. Hinzu kamen zahlreiche Kriege, die viele Städte in den Ruin trieben, sodass sie nicht mehr in der Lage waren, ihren Verpflichtungen gegenüber der Hanse nachzukommen. Um dem weiteren Niedergang entgegen zu wirken, sollten nun auch die „kleinen Hansestädte“ wie Dorsten, die noch Hanseprivilegien nutzten, von ihrem benachbarten Hansevorort gemeldet werden. Dortmund gab daraufhin den benachbarten Städten Essen, Dorsten und Recklinghausen zu verstehen, dass sie Mitglied der Hanse bleiben könnten, wenn sie bereit wären, sich an den anfallenden Kosten zu beteiligen. Die Bereitschaft dazu war in den genannten Städten vorhanden, sodass Dorsten, Essen und Recklinghausen seit 1556 mit Dortmund offiziell den Hansebezirk Dortmund bildeten. Die Beistädte hatten ein Sechstel der Dortmunder Beiträge mitzutragen.

Dorstens Hanseaktivitäten beschränkten sich in der kurzen Phase des Aufschwungs bis 1579 auf die Teilnahme an regionalen Treffen mit den Partnerstädten Essen und Recklinghausen, die 1566 in Buer und Gladbeck und 1572 in Buer abgehalten wurden. Dorsten selbst hat in dieser Zeit offenbar keinen regionalen Hansetag ausgerichtet.

Der gegen Ende des 16. Jahrhunderts einsetzende wirtschaftliche Niedergang Dorstens, der durch die Truchsessischen Wirren (1583/84), den Spanisch-Niederländischen Krieg (1581 – 1609) und den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) beschleunigt wurde, führte dazu, dass die Beistadt Dorsten ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber der Hanse nicht mehr nachkommen konnte. Recklinghausen erging es nicht anders. Wiederholte Zahlungsaufforderungen konnten nicht erfüllt werden. So richteten Dorsten und Recklinghausen 1614 ein Schreiben an Dortmund, in dem sie darum baten, ihnen die Beiträge zu erlassen, denn beide Städte seien in der jüngeren Vergangenheit so oft von Kriegen und anderen Unglücken heimgesucht worden, dass man zahlungsunfähig sei. Wohl mit Rücksicht auf seine beiden Beistädte antwortete Dortmund erst vier Jahre später und bat um die Begleichung der Schulden, die angesichts neuer Kriegswirren wohl nie mehr beglichen worden sind.

Das Ende der Hanse

Der Dreißigjährige Krieg verheerte ganze Landstriche und trieb Städte wie Dorsten und Recklinghausen in den Ruin. An einen Wiederaufstieg der Stadt wagten am Ende des Krieges die Dorstener Bürger kaum zu glauben, die Mitarbeit in der Hanse war für sie angesichts der allgemeinen Not völlig nebensächlich. Aber auch die Hanseorganisation selbst wurde von diesem Krieg tief getroffen, sodass eine Erneuerung nach Kriegsende kaum Aussicht auf Erfolg hatte. Zwar gab es nach dem „Westfälischen Frieden“ von Münster und Osnabrück im Jahre 1648 noch Versuche zu ihrer „Wiederbelebung“, aber die für 1651 und 1662 geplanten Hansetage wurden wieder abgesagt. Den Hinweis auf den letzten Hansetag, der 1669 in Lübeck abgehalten wurde, wird man in Dorsten und Recklinghausen wohl nur noch mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen haben. Mit diesem letzten Hansetag in Lübeck erloschen alle Aktivitäten der Hanse, die nahezu 300 Jahre lang Handel und Wirtschaft, Politik und Kultur über den Nord-Ostseeraum hinaus geprägt und bis heute sichtbare Spuren hinterlassen hat.

Literatur

Heinzmann, Guido: „…so gy dan mit uns sampt andern van aldes in die Hense gehoren…“. Die hansischen Städte im Märkischen Kreis. In: Der Märker. Landeskundliche Zeitschrift für den Bereich der ehem. Grafschaft Mark und den Märkischen Kreis 50(2001), Heft 1 / 2, S. 23 – 31; Heft 3, S. 133 – 139; Heft 4, S. 180 – 188.

Koppe, Werner: Von der Kaufmannshanse zur Städtehanse – Der Anteil Recklinghausen an einer hansischen Wirtschaftsgeschichte. In: Werner Burghardt (Hrsg.): 750 Jahre Stadt Recklinghausen 1236-1986, Recklinghausen 1986, S. 31 – 42.

Koppe, Werner: „…burger der Freien Hanse Statt Dursten…“. In: Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck und Dorsten 51(1992), S. 63 – 69.

Koppe, Werner: Dorsten – Kleine Hansestadt an der Lippe, hrsg. von der Stadt Dorsten, Dorsten 1992.

Koppe, Werner: Recklinghausen – eine Stadt der Hanse, hrsg. vom Verein für Orts- und Heimatkunde Recklinghausen e.V., Recklinghausen 2012.

Wolf Stegemann

Dorsten unterm Hakenkreuz. Nationalsozialismus in Dorsten – ein allgemeiner Überblick

Das Verhalten der Bürger in Dorsten in den Landgemeinden während der NS-Zeit war nicht anders als anderswo im Reich. Die Gründung der NSDAP erfolgte 1925. Sie konnte gegen das starke Zentrum in der Stadt und gegen die Kommunisten in den Bergbaugemeinden bis 1933 keinen Einfluss gewinnen. Erst durch die Wahl Hitlers zum Reichskanzler wurden kommunale Ämter mit NS-Funktionsträgern besetzt, am 6. März 1933 auf dem Dorstener Rathaus die Hakenkreuzfahne aufgezogen, am 9. März zur Kundgebung auf dem Marktplatz aufgerufen, an dem die Dorstener Geistlichkeit geschlossen teilnahm. Vereine und Organisationen wurden gleichgeschaltet. Dagegen regte sich bei den Bürgerlichen und bei der SPD kein Widerstand, lediglich die Kommunisten (siehe KPD) versuchten anfangs durch konspiratives Verhalten an ihrer verbotenen Partei festzuhalten. Viele der Bürgerlichen bekannten sich fortan zum Nationalsozialismus, blieben mit neuer Gesinnung in ihren Ämtern (Paul Schürholz u. a.). Schon 1934 musste die örtliche Parteileitung der NSDAP einen Aufnahmestopp verfügen, weil die Dorstener sich in die NSDAP drängten.

Juden, Zeugen Jehovas, Kommunisten waren der Verfolgung ausgesetzt

In Dorsten und den Landgemeinden wurden die Juden verfolgt, etliche der Verfolgten, die erkannt hatten, welche Gefahr auf sie zukommt, verließen Dorsten und Deutschland sofort, wenig andere später. Die Verbliebenen wurden in Lager deportiert und ermordet, nur wenige überlebten. Auch die Zeugen Jehovas wurden verfolgt, weil sie den Eid auf den Führer und den Kriegsdienst ablehnten. Die Krankenanstalten der Barmherzigen Brüder von Montabaur, die in „Maria Lindenhof“ Epileptiker und Geistigbehinderte betreuten, wurden nach einem Aufsehen erregenden Schauprozess in Essen wegen sexueller Verfehlungen geschlossen und die Kranken in die Euthanasieanstalt Marsberg überführt.

Überwachung von Kirchen und Klöstern

Die Gestapo überwachte Kirchen und Klöster, etliche Protestanten traten in die nationalsozialistische Reichskirche „Deutsche Christen“ ein, wenige andere leisteten Widerstand, indem sie sich der „Bekennenden Kirche“ unterstellten. Der Katholizismus war durch das Reichskonkordat einigermaßen geschützt. So konnte der Pfarrer von St. Agatha, Ludwig Heming, in seiner Neujahrspredigt am 1. Januar 1934 u. a. von der Kanzel verkünden:

„Alle großen Volksbewegungen, liebe Pfarrkinder, alle Revolutionen und Umwälzungen sind nichts anderes als Werkzeuge Gottes. Durch diesen Umbruch sind nach Gottes Willen und weiser Vorsehung starke Aufbaukräfte in unserem Volk lebendig geworden, Kräfte, die eine Wiedergeburt des deutschen Volkes erstreben. Wäre es nicht ein Jammer, wenn wir Katholiken mit verschränkten Armen am Wege stehen und nur zuschauen wollten!? Nein! Zugreifen! Mitarbeiten! Aufbauen helfen! […] Aufrechten Hauptes und festen Schrittes sind wir Katholiken in das neue Reich eingetreten. Wir sind bereit, ihm zu dienen […].“

Bis 1938 lebten im Lager an der Schleuse österreichische SA-Männer, 1939 wurde Dorsten militärischer Standort und während der Kriegsjahre arbeiteten in Dorsten und in den Landgemeinden bis zu 8.000 Zwangsarbeiter und in Lagern waren zeitweise bis zu 58.000 Kriegsgefangene untergebracht. Wegen der Nähe des Ruhrgebiets, der Munitionsanstalt in Wulfen und des Hydrierwerks in Scholven war Dorsten stets Bombardierungen ausgesetzt. Da Dorsten im Einzugsgebiet des Vorstoßes der Alliierten vom Rhein nach Berlin lag, wurde die Altstadt im März 1945 total zerstört, eine Woche später nahmen bei schwacher Gegenwehr die Amerikaner die Stadt ein. Zu diesem Zeitpunkt waren die NS-Funktionäre bereits geflüchtet (Bürgermeister Dr. Gronover nach Münster-Wolbeck, NSDAP-Ortsgruppenleiter Ernst Heine nach Wildeshausen, andere nach Bückeburg).

 

Wer weiterlesen möchte, findet detaillierte Informationen und fundierte Text zum Thema “Dorsten unterm Hakenkreuz” auf der von Wolf Stegemann herausgegebenen Seite http://www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de/

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Zu Sache: Was war der Nationalsozialismus?

Der Begriff Nationalsozialismus ist sowohl die – bewusst irreführende – Eigenbezeichnung der von Adolf Hitler in Deutschland zur Macht geführten politisch-weltanschaulichen Bewegung als auch die Bezeichnung für das durch sie geformte Herrschaftssystem 1933 bis 1945, das nationalistisch, aber auch sozialistisch geprägt war. Ideologisch weitgehend identisch mit der Weltanschauung Hitlers, ist der Nationalsozialismus durch das Parteiprogramm der NSDAP nur unzureichend beschrieben. Wichtiger sind die Bekenntnisschrift „Mein Kampf“ (1925/26) und die sonstigen programmatischen – zumeist mündlichen – Äußerungen Hitlers, in denen sich mehrere Konstanten ausmachen lassen:

1. Antiliberalismus und Antiparlamentarismus, 2 . Antikommunismus und Nationalismus, 3. Rassismus, 4. Antisemitismus, 5. Militarismus und Imperialismus.

Dieses sozialdarwinistische Konglomerat verstanden kaum enge Gefolgsleute Hitlers, geschweige denn „das Volk“. Der Nationalsozialismus, oft unzulässig verharmlost als bloße Spielart des Faschismus verschwand daher mit Hitler 1945, seine Anhänger wurden der Entnazifizierung unterworfen. Der vor allem nach 1990 wieder aufbrechende Neonazismus bewahrt allenfalls nebulöse fremdenfeindliche und chauvinistische Elemente und übertrifft so das scheinbare Vorbild noch an Primitivität.