Dorsten: Ein kurzer Überblick

Dorsten ist eine moderne Flächenstadt mit historischer Vergangenheit. Trotz starker Zerstörungen im letzten Krieg und vieler neuer Baumaßnahmen sind die rund 750 Jahre Stadtgeschichte immer noch sichtbar. Ringförmig angelegte Straßen in der Altstadt markieren die alten Wälle, kleine Innenhöfe und winklige Gassen lassen den Reiz alter Zeiten lebendig werden.

Gut sortierte Fachgeschäfte beleben die Fußgängerzone der Innenstadt, dreimal in der Woche bieten Händler auf dem Wochenmarkt Frischwaren an, In den Stadtteilen haben sich attraktive Nebenzentren entwickelt.

DATEN UND FAKTEN

Dorsten liegt am nördlichen Rand des Ruhrgebietes und bildet das Tor zum Münsterland. Mit knapp 80.000 Einwohnern gehört Dorsten zusammen mit neun anderen Städten zum Kreis Recklinghausen.Insgesamt 171 qkm umfasst das Stadtgebiet: Die historische Altstadt im Kern der neueren Besiedlungen der alten Hansestadt ebenso, wie weitere zehn Stadtteile, die teilweise noch ländlich strukturiert sind. 79 % des Stadtgebietes sind mit Wald- und Ackerflächen bedeckt, 10 % mit Gebäude- und Hofflächen.

Die Lippe, früher schiffbar und im Mittelalter Lebensader der Region, fließt heute durch malerische Flussauen. Der Wesel-Datteln-Kanal ist als moderner Wasserweg Zulieferer für die Industriegebiete des Reviers.

Die höchst Erhebung, der Galgenberg im Waldgebiet Hohe Mark, liegt 122 m über dem Meeresspiegel, die tiefste Stelle in den Lippeniederungen liegt nur 27 m über NN. Münsterland, Rheinland und Ruhrgebiet mit Städten wie Münster, Düsseldorf, Essen und Gelsenkirchen in nächster Nähe, machen die Stadt als Wohnort attraktiv. Über B 224, B 225 und die A 52 ist Dorsten mit dem Ruhrgebiet und über die A 43 mit Münster verbunden. Die A 31 führt direkt an die Nordsee. Bahn und Bus ergänzen das Angebot.

HISTORISCHER RÜCKBLICK

Bereits 700 v. Chr. sind bäuerliche Siedlungen in Dorsten belegbar. In den Jahren 11 bis 7 v. Chr. bestand im heutigen Holsterhausen ein Römerlager. Im 8. Jahrhundert begann die Christianisierung, 890 ging Durstinon als Schenkung an die Abteil werden; Deuten und Sölten werden in Urkunden genannt. 1017 findet sich Lembeck in den Papieren der Paderborner Kirche. Um 1150 wird auch der Ortsteil Holsterhausen im Archiv der Abtei Werden erwähnt, wenig später der Name des Truchsess Albert von Wulfhem. Als Pfarrort ist Hervest um 1188 im Güterverzeichnis des Grafen von Dale verzeichnet. Rhade wird, als Rhote, erst 1217 urkundlich genannt.

1251 verlieh der damalige Landesherr, der Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden, der Gemeinde Dorsten die Stadtrechte. Damit begann die Zeit des Ausbaus und der Befestigung des 90-Seelen-Ortes. Die Bevölkerung in Dorsten wuchs im 13. Jahrhundert stark an. Handel und Gewerbe blühten auf, die Stadt besaß das Marktrecht. Im 13. Jahrhundert und von 1653 bis 1680 hielt Dorsten auch das Münzrecht. Umliegend lebende Tagelöhner und Leibeigene zogen nach Dorsten. Waren sie ein Jahr und einen Tag innerhalb der Stadtmauern, galten sie als freie Bürger, waren dem Gutsherrn nicht mehr verpflichtet.

Die günstige Lage an der Lippe, nahe zu den großen Handelsstraßen und nicht allzu weit von der niederländischen Grenze entfernt, förderte den Wohlstand in der Stadt. Aus vielen Teilen Deutschlands und den Niederlanden kamen neue Bürger nach Dorsten, Fernkaufleute, die den günstigen Wasserzoll nutzten, ums auf der Lippe ihre Waren zu verschiffen. Im Hansebund war Dorsten als „Kleine Hansestadt“ vertreten: Dorstener Handelsleute hatten direkten Zutritt zu Hansekontoren und Niederlassungen aller Hansestädte. Die Einnahmen stiegen und der Wohlstand der Bürger wuchs, obwohl der Schutz und die Privilegien, die die Dorstener Kaufleute genossen, viel Geld kosteten. In der aufblühenden Stadt bilden sich frühdemokratische Strukturen aus, Sieben Gilden wählten jährlich zwei Bürgermeister, zwei Gildemeister, zehn Schöffen (Ratsmitglieder), zwei Rentmeister und zwei Kämmerer.

Mit der Eroberung Dorstens durch die Hessen wurden die Festungsmauern ausgebaut. Der Dreißigjährige Krieg ließ Handel und Verkehr erlahmen, 1641 fiel Dorsten nach zweimonatiger Belagerung zurück an das Kurfürstentum Köln. Nach dem Westfälischen Frieden konnte Dorsten den einstigen Wohlstand nicht wieder erlangen. Die große Zeit der Hanse war vorbei, zahlreiche Einquartierungen und Besatzungen erschwerten der Stadt bis ins 18. Jahrhundert hinein, sich finanziell und wirtschaftlich zu erholen. Trotz allem unterstützte Dorsten die Gründung einer Lateinschule, die 365 Jahre später als renommiertes Gymnasium Petrinum wie über 1000 Schüler zählt.

Mit Beginn des 19. Jahrhunderts waren die urbanen Strukturen der Stadt weitgehend zerstört, sie wandelte sich zur Landgemeinde und fiel zusammen mit der Herrlichkeit Lembeck an den Kreis Recklinghausen.

NEUE GESCHICHTE

Die Industrielle Revolution brachte den für Dorsten notwendigen Aufschwung. Arbeitsplätze und Zuwanderer kamen mit der Maschinenspinnerei, einer Weberei und später einer Eisengießerei. Erste städtische Gaswerke versorgten die Bürger mit Energie. Mit der Abteufung der Schächte Baldur I und II erreichte der Bergbau die Stadt, in der bis zum Jahr 2000 Kohle abgebaut wurde.

Dorstens neuere Geschichte ähnelt der des Ruhrgebietes. Nach dem ersten Weltkrieg druckte die Stadt eigenes Inflations-Geld. 1925 zogen die belgischen Truppen aus der besetzten Stadt ab. Mit dem Bau des Wesel-Datteln-Kanals erholte sich Dorstens Wirtschaft. Zwar wurde Baldur stillgelegt, doch baute jetzt die Hoesch AG in ihrem Werk Fürst Leopold Kohle ab. Zusammen mit Hervest und Holsterhausen zählte Dorsten im Jahre 1943 bereits 28.000 Einwohner.

Der zweite Weltkrieg zerstörte die Altstadt durch Luftangriffe zu 80 % und riss tiefe Wunden in die klassische Architektur des Stadtkerns. Noch wenige Tage vor Kriegsende, am 22. März 1945, richtete ein letztes Bombardement schwerste Schäden in der Altstadt an. Erst nach 1946 stieg die Einwohnerzahl wieder. In den 50er Jahren vergrößerte sich Dorsten und entwickelte sich zu der großen Flächengemeinde, die im Verbund ihrer elf Stadtteil seit der kommunalen Neugliederung 1975 das heutige Dorsten bildet.

Immer noch ist Dorsten der Kohle verbunden. Stahl- und Maschinenbau, Baugewerbe, Handwerk, Handel und Dienstleistungen bilden die Hauptschwerpunkte der örtlichen Wirtschaft. Die Landwirtschaft stellt, besonders in den ländlichen Stadtteilen, einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar.

Als Naherholungsgebiet mit hohem Naturanteil ist Dorsten für den Ballungsraum Ruhrgebiet attraktiv.

 TIPPS FÜR HISTORISCHE STREIFZÜGE

 Spuren mittelalterlichen Vergangenheit sind heute attraktive Ausflugsziele für Dorstener und Touristen:

Die Tüshaus-Mühle im Stadtteil Deuten ist Technisches Museum und eignet sich besonders gut als Etappenziel für einen Spaziergang. Während der Öffnungszeiten demonstriert ein Müller die alte Mühlentechnik.

Das Jüdische Museum Westfalen, ein Dokumentationszentrum und Lehrhaus, gibt Auskunft über den Lebens- und Leidensweg der Dorstener Juden und präsentiert eine breite Palette an Exponaten aus Alltag und Kultur des Judentums.

Eindrucksvolle Zeugen der Dorstener Bergbauzeit sind die historische Dampfmaschinenhalle mit der einzigartigen Zwillings-Tandem-Dampfmaschine und die renovierte Zechensiedlung Fürst Leopold in Hervest. Die Siedlung wurde ab 1912 ursprünglich nur für Bergleute und ihre Familien als eine Art Gartenstadt erbaut, mit großzügigen Gartenflächen und Ställen für Hühner, Ziegen und Schweine.

Das Wasserschloss Lembeck ist zu allen Jahreszeiten beliebtes Ausflugsziel. Erbau von den Herren von Lembeck, erweiterten später die Westerholter Grafen den alten Gräftehof zu einem schmucken Wasserschloss. Englischer Park und Schlaunscher Saal bilden die Herzstücke der Anlage inmitten der alten „Herrlichkeit Lembeck“. Schloss Lembeck ist in Familienbesitz und kann besichtigt werden.

Die Rhader Wassermühle und das Haus Soggeberg

Das Touristik-Angebot hält für Bürger, Gäste und Besucher Dorstens reizvolle Radtouren, Stadtspaziergänge und Nachtwächtertouren bereit, die als Package- und Einzelangebote geordert werden können. Informationen erhalten Sie über die stadtinfo Dorsten:

Stadtinfo Dorsten , Recklinghäuser Str. 20, 46282 Dorsten, Tel. 02362/30808-0, Fax 02362/3080888, Mail stadtinfo@windor.de

Stadt Dorsten

Der Drittel-Mix – Dorstens Norden, Mitte und Süden

Dorsten ist eine Stadt mit vielen Gesichtern. Dies lässt sich besonders gut festmachen am „Drittel-Mix“, in den sich das Stadtgebiet einteilen lässt.

Der Norden mit den vor der kommunalen Neuordnung 1975 selbstständigen Gemeinden Rhade und Lembeck, Wulfen und Deuten sowie der „Neuen Stadt Wulfen“ ist dem Münsterland zugewandt. Fünf selbstbewusste, eigenständige Siedlungen in vier Stadtteilen, die sichtbar von Grün und Landwirtschaft geprägt werden. Eine besondere Stellung nimmt hier Barkenberg ein, die neue Stadt Wulfen: Geplant in den 1960ern als Wohnstadt für ein neues Bergwerk und bis zu 50 000 Einwohner, blieb die Stadt unvollendet. Das Bergwerk wurde nie groß und rasch nur ein Teil von Fürst Leopold, dem großen Dorstener Pütt. Die Siedlung Barkenberg hatte nie mehr als rund 12 000 Bewohner, viele geplante Infrastrukturen wurden nicht gebaut. Das moderne Siedlungskonzept (der Autoverkehr ist strikt getrennt von Fuß- und Radwegen) und das viele Grün machen die Siedlung als Wohnstandort aber hoch attraktiv.

Die Mitte der Stadt – das sind vor allem die Bergbau-Stadtteile Hervest und Holsterhausen. Beide gehen zurück auf Dörfer, gelegen jeweils im äußersten Westen und Osten, beide dann von diesen Dörfern aus stark aufeinander zugewachsen, nachdem die Zechen Baldur (Holsterhausen) und Fürst Leopold (Hervest) Anfang des 20. Jahrhunderts abgeteuft wurden. Mit Beginn der Kohleförderung verzehnfachten die beiden heutigen Stadtteile ihre Einwohnerzahl von wenigen hundert auf 6000 bis 7000 Menschen. Bis heute haben beide ihre Einwohnerzahl noch einmal nahezu verdoppelt. Dass zwischen Dorf und Kolonie unterschieden wird, zeigt sich bis heute daran, dass beide jeweils eigene Schützenvereine haben.

Der Süden der Stadt – also die Siedlungsbereiche südlich der Lippe – ist dem Ruhrgebiet zugewandt und wird von Bürgertum, Handwerk und Industrie geprägt. Südlich der Lippe verläuft der Wesel-Datteln-Kanal durchs Stadtgebiet, eine wichtige regionale Wasserstraße. Hier liegt die Altstadt, seit Jahrhunderten der zentrale Handelsort der Stadt mit dem Marktplatz als guter Stube. Gewerbe- und Industriegebiete haben viele Arbeitsplätze geschaffen. Durch Neubaugebiete sind die Stadtteile Hardt und Feldmark ab den 1960er Jahren stark gewachsen. Hier haben viele Zuzügler aus den Städten des Ruhrgebiets eine neue Heimat gefunden. Auch die historischen Dörfer Östrich und Altendorf-Ulfkotte konnten ihre Einwohnerschaft durch Neubaugebiete deutlich vergrößern.

 

Stadt Dorsten

Verbunden mit der Welt: Unsere Partnerstädte 

Den Begriff „Städtepartnerschaft“ haben wir alle schon einmal gehört oder gelesen. An vielen Ortseingängen gibt es sogar Hinweistafeln mit den Namen der jeweiligen Partnerstädte. Aber wissen wir auch, was eine Städtepartnerschaft ist?

Laut Wikipedia ist eine Städtepartnerschaft „eine Partnerschaft zwischen zwei Städten (…) mit dem Ziel, sich kulturell und wirtschaftlich auszutauschen. (…). Die meisten Partnerschaften bestehen zwischen Städten und Gemeinden in verschiedenen Ländern“ und sind zeitlich und sachlich nicht begrenzt. Besiegelt werden diese durch einen Partnerschaftsvertrag oder eine Partnerschaftsurkunde zwischen gleichberechtigten Partnern. Im Idealfall werden Städtepartnerschaften aus der Bürgerschaft heraus geschlossen und es bestehen Gemeinsamkeiten wie Namensgleichheit, wirtschaftliche und geographische Ähnlichkeit, Wirkungsstätte/Geburtsort bedeutender Persönlichkeiten, ähnliche historische oder kulturelle Begebenheiten. Überörtliche Organisationen wie der Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE) vermitteln aber auch Kontakte zu partnerschaftswilligen Kommunen. Eine Orientierungsgröße für die Anzahl von Partnerstädten für eine Kommune gibt es nicht. Ausschlaggebend ist einzig und allein das Interesse von Zivilgesellschaft und Politik, denn die Ziele „Völkerverständigung“, „europäische Integration“ und „voneinander Lernen“ können nur erreicht werden, wenn die Partnerschaft von möglichst breiten Teilen der lokalen Zivilgesellschaft getragen wird. Je stärker die Partnerschaft in der Zivilgesellschaft der Kommune verwurzelt ist, desto krisenresistenter ist diese. Städtepartnerschaften stehen allen gesellschaftlichen Gruppen offen und werden von diesen mit Begegnungen, Projekten etc. belebt. Sie vermitteln Kontakte zwischen den Menschen und ermöglichen einen Einblick in die Kultur sowie das gesellschaftliche und alltägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger der Partnerstadt. Besonders aktive Partnerschaftskommunen können durch den Europarat mit dem „Europadiplom“, der „Ehrenfahne“, der „Europaplakette“ oder dem „Europapreis“ ausgezeichnet werden (stufenweise Vergabe). Die Stadt Dorsten wurde 1985 mit der Europaflagge und 1994 mit der Europaplakette ausgezeichnet.

Geschichte der Städtepartnerschaften

Die erste Städtepartnerschaft wurde 836 urkundlich erwähnt. Allerdings besiegelten Le Mans und Paderborn diese erst 1967 offiziell. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden – zunächst von den britischen Besatzern – erste freundschaftliche Beziehungen aufgenommen, um die Völkerverständigung und die Integration Deutschlands in die neue europäische Wertegemeinschaft zu fördern. 1951 gründete 50 Bürgermeister deutscher und französischer Städte den Rat der Gemeinden Europas (seit 1984 Rat der Gemeinden und Regionen Europas – RGRE), der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Aussöhnung zwischen den Völkern Europas und die kommunale Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg zu fördern. Damit war eine internationale Grundlage zum Aufbau von Städtepartnerschaften in Europa gegeben. Ein Händedruck von Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem französischen Staatspräsidenten General Charles de Gaulle über die Gräber der Toten zahlreicher deutsch-französischer Kriege hinweg bildete 1963 den Auftakt zu zahlreichen deutsch-französischen Städtepartnerschaften. Der Prozess sprang auf weitere Länder über und festigte über Jahrzehnte ein neues, europäisches Gemeinschaftsgefühl. Hierzu haben vor allem die persönlichen Kontakte zwischen den Bürgerinnen und Bürgern beigetragen. Ab den 1960er Jahren schlossen deutsche Städte die ersten Städtepartnerschaften mit Kommunen im sog. „Globalen Süden“ – zunächst aus politischen Gründen (z.B. Nicaragua), später vor dem Hintergrund der Hilfeleistung und Gestaltung einer nachhaltigen Entwicklung (Lokale Agenda 21). Mit der Lockerung des Eisernen Vorhangs kam es Mitte der 1980er Jahre zu ersten partnerschaftlichen Beziehungen zu Städten in den Ostblockstaaten. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurden Städtepartnerschaften zwischen BRD- und DDR-Städten geschlossen, die v.a. der Unterstützung der ostdeutschen Kommunen bei den Veränderungen in Politik und Wirtschaft dienten. Heute, im Zeichen eines geeinigten Europa, gehen Kommunen und Europapolitiker neue Wege, um die bestehenden Freundschaften zu beleben und ihre Eigendynamik für mehr Demokratie in Europa zu nutzen.

Das liebe Geld …

Die rd. 800 Städtepartnerschaften in NRW (davon 90% innereuropäisch) werden von den Kommunen und sehr oft von Städtepartnerschaftsvereinen gestaltet und getragen (auch finanziell). Die Landesregierung bietet ideelle und finanzielle Förderung und zeichnet seit 2013 besonders aktive Kommunen als „Europaaktive Kommunen“ aus. Auch auf Bundesebene gibt es verschiedene Fördermöglichkeiten (z.B. Wettbewerb „Europa bei uns Zuhause“). Die Europäische Union fördert mit verschiedenen Programmen Städtepartnerschaftsprojekte, die für die EU einen Mehrwert darstellen. Das bekannteste Programm ist „Europa für Bürgerinnen und Bürger“, dessen Ziel es ist, Menschen in Europa zu motivieren, sich mit der EU, ihrer Geschichte, den europäischen Werten, Institutionen und Politik zu beschäftigen.

Neuorientierung und Netzwerkbildung

Eine einmal geschlossene und auf Dauer angelegte Partnerschaft lebendig zu halten, ist gar nicht so einfach. Generationenwechsel bzw. Nachwuchsprobleme, mangelnde finanzielle Möglichkeiten und oftmals auch eingeschlafenes Interesse stellen die Vereine vor große Herausforderungen. Eine Neuorientierung bietet hierbei die Chance der Vitalisierung. In den Kommunen werden zunehmend Aufgaben von der EU-Politik beeinflusst. Viele Probleme oder aktuelle Aufgaben finden sich auch in anderen Ländern wieder: Klimawandel, Mobilität, Migration, Integration, demographischer Wandel, Strukturwandel. Oftmals können durch Erfahrungen in den Partnerkommunen sog. Best Practices für die eigene Entwicklung oder umgekehrt entwickelt werden. Immer wichtiger werden auch Netzwerke. Eins der bekanntesten ist der Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE).

Dorstens Partnerstädte

Auch in Dorsten haben Städtepartnerschaften den Prozess eines zusammenwachsenden Europas über viele Jahrzehnte vorbereitet. Offiziell wurde die erste Partnerschaft 1973 mit der englischen Stadt Crawley geschlossen, nachdem der Dorstener Stadtrat 1971 den Beschluss gefasst hatte, sich um eine englische Partnerstadt zu bemühen und der RGRE die 100.000 Einwohner zählende Stadt in der Nähe des Flughafens Gatwick vorgeschlagen hatte. Bereits im ersten Jahr gründeten sich in beiden Städten Freundeskreise, deren Beziehung heute zu den lebendigsten Partnerschaften gehört. Zahlreiche Aktivitäten, jährliche Austausche und Projekte beleben und festigen die Freundschaft. Crawley, eine sog. „New Town“, d.h. ein Zusammenschluss mehrerer Gemeinden, liegt in der Grafschaft Sussex, einer der schönsten Gegenden Englands mit vielen Schlössern und berühmten Badeorten. Den Bewohnern wurden Arbeitsplätze (bedeutendes Handels-, Energie- und Industriezentrum), saubere moderne Wohngebäude und Sicherheit für die ganze Familie garantiert, um Menschen aus der überfüllten Hauptstadt London ins Umland zu locken. Als „County Borough“ werden hier fast alle öffentlichen Aufgaben verwaltet.

Aber die ersten Kontakte in spätere Partnerstädte gab es schon viel früher. So reichen die Wurzeln der Partnerschaft mit der polnischen Stadt Rybnik (150.000 Einwohner) bis in die Anfänge der Industriellen Revolution, als Bergleute aus den schlesischen Kohlegebieten (damals noch zu Preußen gehörend) ins Ruhrgebiet zogen. Der Zweite Weltkrieg und die Vertreibung deutscher Bürger aus Schlesien führten zu einer Patenschaft Dorstens für Vertriebene aus Rybnik. Die politischen Veränderung und vermehrte persönliche Kontakte führten schließlich zur Gründung von Freundeskreisen und 1994 zur offiziellen Städtepartnerschaft. Die Partnerschaft mit Rybnik gehört zu den lebhaftesten: Im jährlichen Wechsel laden sich die Städte gegenseitig zu den „Rybnik-Tagen“ in Dorsten bzw. den „Dorsten-Tagen“ in Rybnik ein. Hier stehen Sport-, Kultur- und Bürgeraustausche im Vordergrund. Aber auch Wirtschaftskontakte sind ein Baustein dieser Partnerschaft. Die Stadtverwaltungen kooperieren sehr eng im Rahmen von EU-Projekten: Im LEONARDO-Projekt (2005) sammelten vier polnische Hochschulabsolventen in Dorstener Unternehmen praktische Kenntnisse, im INTERREG-Projekt ermittelten die Partner gemeinsam mit Rybniks französischer Partnerstadt Lièvin Best Practices im Rahmen von Brachflächenrecycling und Strukturwandel und im COMENIUS-Projekt „INYOUCOM“ suchten die Partnerstädte Rybnik, Newtownabbey und Dorsten geeignete Partizipationsmöglichkeiten für Jugendliche an der Lokalpolitik. 2007 zeigte eine Unternehmerreise Dorstener und Rybniker Unternehmen die Möglichkeiten der Kooperation und Markterweiterung auf.

Seit den 1950er Jahren ist die Freundschaft zur nordirischen Gemeinde Newtownabbey gewachsen: Bei einem Informationstreffen einer nordirischen Delegation mit dem damaligen Jugendring der Stadt Dorsten verschwand das Kotelett eines Dorstener Jugendlichen. Sein Gesprächspartner aus Nordirland teilte seins mit ihm und es entstand eine innige Freundschaft. Diese wurde 1988 offiziell besiegelt. Getragen wurde diese Freundschaft zunächst durch die Kirchengemeinden, wobei die politische Situation in Nordirland in den 1960er und 1970er Jahren den Austausch erschwerte. Ebenso wie Crawley wurde Newtownabbey 1958 als New Town zu einem Verwaltungsbezirk zusammengeschlossen und ist mit rd. 80.000 Einwohnern eine der größten Vorstädte der Hauptstadt Belfast. Aufgrund seiner attraktiven Lage am Belfast Lough und am Fuß der Berge bietet Newtownabbey zahlreiche interessante Freizeitmöglichkeiten. Seit 2015 bildet Newtownabbey mit Antrim eine Verwaltungseinheit und heißt seitdem Antrim and Newtownabbey. Die die Städtepartnerschaft wurde dahingehend erweitert. Es bestehen noch immer rege Kontakte zwischen den Kirchengemeinden und zwischen dem Gymnasium Petrinum und der Ballyclare Highschool. Aber auch wirtschaftliche und kulturelle Kontakte und die enge Dreiecksbeziehung zwischen Dorsten, Rybnik und Newtownabbey seit 2003 sind Ergebnis dieses engen Austauschs. Gemeinsam wurden die Projekte „Antenna Shop“, „INYOUCOM“ und „Kulturhauptstadt 2010“ durchgeführt.

In den 1960er Jahren veranstaltete der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberführsorge“ Jugendlager unter dem Motto „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden“. 1965 nahmen 40 Schülerinnen und Schüler der Beruflichen Schulen und der Gerhart-Hauptmann-Realschule am Jugendlager in Dormans teil und pflegten bei täglichen Arbeitseinsätzen, die rd. 4.000 Gräber französischer, alliierter und deutscher Soldaten auf dem dortigen Kriegsgräberfriedhof. Die oberhalb gelegene Chapelle de la Marne erinnert eindrucksvoll an die Marneschlacht im Jahr 1916. Das Projekt wurde 1966 und 1967 wiederholt und es entstanden Freundschaften, die auch offiziell 1981 durch die Unterzeichnung der Städtepartnerschaftsurkunde besiegelt wurden. Mit 3.200 Einwohnern ist die Gemeinde an der Marne die kleinste Partnerstadt Dorstens. Das wirtschaftliche Leben der gesamten Region ist vom Champagner bestimmt und Dormans ist Heimat zahlreicher Champagnerhersteller. Neben einer Schulpartnerschaft beleben Begegnungen der Freundeskreise und Austausche von Musik- und Kunstvereinen die Partnerschaft.

 Auch zur zweiten französischen Partnerstadt Ernée gab es in den 1960er Jahren die ersten Kontakte. 1961 wurden einem per Anhalter reisenden Studenten aus Ernée in einer Dorstener Gaststätte sein Gepäck und der Geldbeutel gestohlen. Der als Dolmetscher eingesetzte Leiter des Jugendamtes bot ihm Unterkunft und brachte ihn dann nach Ernée zurück. Mit dem dortigen Bürgermeister verabredete er einen Jugendaustausch zwischen beiden Städten. Weiter gestärkt wurde die Freundschaft durch Austausch zwischen den Feuerwehren seit 1978. Offiziell wurde die Partnerschaft mit der 5.700 Einwohner zählenden Gemeinde an der Grenze zwischen Normandie und Bretagne 1985. Ein reger Austausch zwischen den Freundeskreisen und Musikvereinen beleben diese Partnerschaft

Aus politischen und humanitären Gründen wurde durch Vermittlung des Schauspielers Dietmar Schönherr 1985 die Partnerschaft zur nicaraguanischen Stadt Waslala geschlossen. Bis zur Revolution 1979 war Nicaragua eine Militärdiktatur. Aufgrund von Anschlägen der sadinistischen Partei FSLN in und um Waslala wurde hier ein Militärstützpunkt eingerichtet. Nach der Revolution kam es zur Regionalisierung der administrativen Strukturen und seit der Verfassung von 1987 ist Nicaragua eine Präsidialrepublik mit einer demokratisch gewählten Regierung. Waslala besteht aus 13 Gemeinden und 120 Ortschaften, die in einer Mittelgebirgsregion auf 500 – 800 m Höhe liegen. Insgesamt leben hier rd. 45.000 Menschen. Der Hauptort Waslala zählt 5.000 Einwohner. In der Region Waslala werden hauptsächlich landwirtschaftliche Produkte produziert. Dank der Entwicklungsarbeit des Projektes Cacaonica wurden zunehmen hochwertiger Kakao angepflanzt, der auch zur Weiterverarbeitung nach Deutschland exportiert wird (u.a. Ritter Sport).Durch Vermittlung der Freundeskreises Waslala haben mehrere Jugendliche bereits ihr freiwilliges soziales Jahr in Waslala verbracht. Zahlreiche soziale Projekte wurden in Kooperation zwischen Freundeskreis und Stadt Dorsten initiiert und durchgeführt (u.a. Verbesserung der Trinkwasserversorgung, Aufforstungsprojekt, Bau und Unterhaltung eines Kindergartens und Altenheimes).

Auch zur israelischen Stadt Hod Hasharon bestehen seit Mitte der 1980er Jahre Kontakte, als für das Buch „Dorsten unterm Hakenkreuz“ Kontakte zu ausgewanderten Juden aufgenommen wurden. Später übernahm der „Verein für Jüdische Geschichte und Religion“ die Vorbereitungen für das Jüdische Museum in Dorsten und intensivierte bestehende und neu geknüpfte Beziehungen. Gleichzeitig sammelten die Mitglieder Exponate aus dem jüdischen Alltag, der Religion und Kultur, die zum größten Teil aus Nachlässen verfolgter, ermordeter und emigrierter Juden stammten. Während des Golfkriegs stellten Familien in und um Dorsten auf Initiative des Vereins für Jüdische Geschichte und Religion rund 500 Plätze für israelische Mütter und Kinder als Zuflucht zur Verfügung. Zahlreiche Veranstaltungen – auch im Zusammenhang mit dem Jüdischen Museum – führten zu Austauschen zwischen Bürgern, Schülern und Vertretern des Rates und der Verwaltung, die 1994 offiziell besiegelt wurden. Hod Hasharon, 1964 aus vier Pioniersiedlungen zusammengeschlossen, zählt rd. 45.000 Einwohner, von denen viele ins 22 km Tel Aviv zur Arbeit pendeln. Wohlhabende Familien aus Tel Aviv nutzen Hod Hasharon als Wohnstadt.

Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Öffnung des Eisernen Vorhangs wurde 1990 auf Anregung zweier Dorstener Bürger die Partnerschaft mit der 10.000 Einwohner zählenden sächsischen Stadt Hainichen geschlossen. Der Neuanfang in einem nahezu fremden Wirtschaftssystem, westliche Umweltsensibilität und Ansiedlungspolitik, Fragen zur Bewirtschaftung und Haushaltsführung führten zu einem regen Austausch zwischen den Verwaltungen und zu dauerhaften Freundschaften zwischen den Bürgern. Der Reichtum an historischer Bausubstanz und reizvoller Landschaft machen Hainichen zu einem touristischen Kleinod, das auch wirtschaftlich von seiner strategisch guten Lage (Dresden, Leipzig und Chemnitz liegen im Umkreis von 8ß km) und der guten Verkehrsanbindung profitiert. Besonders stolz ist Hainichen auf seine „großen Söhne“: Fabeldichter Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) und den Erfinder der Holzschleifmaschine Friedrich Gottlob Keller (1816-1895).

Wolf Stegemann

Dorsten “Um sechs am Marktplatz” – Geschichten und Anekdoten

Dorstens Herz

Auf dem Marktplatz als Mittelpunkt der Stadt fanden schon immer zu bestimmten Zeiten Märkte statt, bei denen Kaufleute, Warenproduzenten und Verbraucher ihre Geschäfte abschließen konnten. Wegen der großen Ansammlung von Menschen und der Anhäufung von Waren hatten diese Märkte eine besondere Friedensgarantie („Pax forensis“) und die Besucher standen unter königlichem Schutz (Friedensbann). Die in größeren Zeitabständen abgehaltenen Jahrmärkte  – wie der Katharinen- und Nikolausmarkt – dienten der Versorgung einer kleineren Gruppe von kirchlich und weltlich Höherstehenden mit Waren des gehobenen Bedarfs. Die Stadt als Marktherr konnte Abgaben erheben (Marktzölle), durch Festlegung bestimmter Straßen und Wege (Wegezwang) das Marktgeschehen bis heute beeinflussen. Viele Orte mit Marktveranstaltungen entwickelten sich zu Städten, viele wuchsen aber über den Charakter einer „villa fori“ (Marktort) nicht hinaus. Wie in Dorsten, so blieb meist die wirtschaftliche Funktion auf den kommerziellen Umsatz im Nahbereich beschränkt.

Bürgermeister legten auf dem Marktplatz Rechenschaft ab

Die Bedeutung des Marktes kommt der prominenten Stellung des Marktplatzes im mittelalterlichen Stadtbild zum Ausdruck. Schnell entwickelte sich der Verkaufsplatz in einen umbauten Platz, an dem wegen der hervorgehobenen Lage das Rathaus und die Wohnhäuser der Oberschicht entstanden waren und den Marktplatz durch ihre besonders verzierten Häuser ein prominentes Gepräge gaben. Der so herausgebildete Mittelpunkt der Stadt wurde auch Austragungsort für politische, rechtsanhängige, verwaltungstechnische, kulturelle und soziale Belange der Bürger. Es fanden Aufmärsche der Schützen und Stadtsoldaten, Paraden und Biwaks der Sieger auf dem Marktplatz statt. Der Pranger als Instrument der Rechtspflege stand auf dem Markt. Auch fanden dort solche Hinrichtungen statt, mit denen die Obrigkeit die Bevölkerung einschüchtern und disziplinieren wollte. Am Tage St. Johannes (27. Dezember) kamen nach der Messe die Bürger auf dem Marktplatz zusammen, um den Rechenschaftsbericht der Bürgermeister und der Rentmeister zu hören sowie Vorschläge für das kommende Jahr zu machen. Anschließend wählten die Gilden auf dem Marktplatz ihre Gildemeister.

1588 ließ der Vestische Statthalter und Dorstener Stadtrichter Vinzenz Rensing Todesurteile gegen Frauen vollstrecken, die der „Hexerei“ schuldig gesprochen waren. Eine von ihnen, die Witwe des Dorstener Bürgermeisters Burich, starb zuvor auf der Folterbank des Stadtrichters. Das war ein Fehler des Richters. Um sein fehlerhaftes Verhör zu vertuschen, ließ Rensing der Frauenleiche das Genick brechen und sie zum Marktplatz bringen. Als Begründung gab er an, der Teufel habe ihr das Genick gebrochen, um sie von der Folter zu erlösen. Vorher soll auf dem Marktplatz ein angeblicher Verräter gevierteilt worden sein.

Gefangene auf dem Marktplatz erschossen

1919 und 1920 erschossen Angehörige der beiden Freikorps Lichtschlag und Loewenfeld auf dem Marktplatz gefangen genommene Spartakisten und Rotgardisten. 1925 bejubelte die Bevölkerung auf dem Marktplatz den Abzug der Belgier, 1935 begrüßten die Dorstener den SA-Chef Viktor Lutze, im selben Jahr wurde erstmals das Winzerfest gefeiert und 1937 fand die Abschlusskundgebung des NSDAP-Kreisparteitags auf dem Dorstener Marktplatz statt. 1938 missbrauchten die Nationalsozialisten den Marktplatz, um hier im November Sakralgegenstände der geschändeten Synagoge zu verbrennen. Als Dorsten Militär-Standort wurde, marschierten am 22. März 1939 Soldaten der Wehrmacht auf und auf den Tag genau sechs Jahre später legten alliierte Bomber den Marktplatz und die gesamte Innenstadt in Schutt und Asche.

1951 wollten Dorstener Kaufleute mit Abriss des Alten Rathauses den Marktplatz erweitern. Im selben Jahre jubelten mehr als 10.000 Dorstener dem Vizeeuropameister im Mittelgewicht, Günther Sladky, zu, wie in den 1990er-Jahren mehrmals den Olympiasiegern und Meistertitelträgern im Rudern. 1978 wurde der Marktplatz in die Fußgängerzone einbezogen und seit 1979 wird das Altstadtfest auf dem Marktplatz gefeiert. Hin und wieder lud Dorstens Bürgermeister die Rekruten der 4. Batterie des Flugabwehrbataillons 7 Borken, mit dem Dorsten eine Patenschaft verband, zu öffentlichen feierlichen Gelöbnissen auf den Marktplatz ein, so 1974, 1979, 1983. Im Jahre 1990 fand die große Wiedervereinigungsfeier statt und 1999 auf 2000 die Millenniums-Silvesterfeier. Seit etlichen Jahren ist der Marktplatz zur Weihnachtszeit Anziehungspunkt für Schlittschuhläufer, wenn aus einem Teil des Marktes eine künstliche Eisfläche entsteht.

Wenn der Marktplatz beim Wiederaufbau nach der Zerstörung 1945 auch seine historischen Dimensionen behalten hat, so sind die Hausfassaden – von wenigen Ausnahmen abgesehen, darunter das Kohle-Haus, nicht nur gesichtslos, sondern auch mit überdimensionalen Reklametafeln versehen worden, die oft die gesamte Hausbreite, zum Teil auch die Breite mehrerer Häuser einnehmen bzw. einnahmen. Auch die Hauptstraßen (Essener-, Recklinghäuser und Lippestraße) geben wegen des Schilder-Chaos’ nach Meinung von Stadtplanern ein Bild ab, über das seit Anfang der 1980er-Jahre ohne sichtbaren Erfolg öffentlich diskutiert wurde. Eine Gestaltungssatzung, mit der auch der Wildwuchs von Reklameschildern zum Wohl des Stadtbildes eingeschränkt werden könnte, scheiterte jedes Mal an der notwendigen Mehrheit im Rat und an der letztendlichen Ablehnung der meisten Kaufleute.

Bis 1997 ging die Stadt bei der denkmalwidrigen Farbgebung des Alten Rathauses mit negativem Beispiel voran. Obgleich diese Farbgebung von einheimischen und auswärtigen Fachleuten seit 1980 öffentlich als „völlig deplatziert“ diskutiert wurde, beharrte der Rat mehrheitlich bis 1997 auf dem kräftigen Blau. Genauso lange wurde und wird eine Bepflanzung des Marktes mit Bäumen kontrovers diskutiert. Die Befürworter wollen dem leeren Platz eine Verweilatmosphäre geben, die Gegner wollen ihn freihalten, um ihn u. a. als traditionellen Aufmarschplatz für den Altstadtschützenverein zu erhalten. Die Anwohner argumentierten mit Licht- und Sichtbehinderungen vor ihren Fenstern. 1997 stellten Schüler und Schülerinnen der Umwelt AG des Gymnasiums St. Ursula den Antrag an die Stadt, einen großen Baum, eventuell eine Linde, oder eine Baumgruppe aus drei oder vier Platanen zu pflanzen. 350 Bürgerinnen und Bürger der Stadt unterstützten den Antrag. Auch direkte Anwohner hätten eine solche Bepflanzung befürwortet. Doch der Umweltausschuss der Stadt lehnte den Schülerantrag mit den Stimmen von CDU und SPD ab. Die Grünen stimmten zu. Der Planungsdezernent begründete die Ablehnung der Verwaltung damit, dass der Marktplatz über 700 Jahre keinen einzigen Baum gesehen habe. Zudem: „Einen Baum in die Mitte des Platzes zu setzen, geht eigentlich nicht. Der Marktplatz hat nämlich keine Mitte.“  

Neues gastronomisches Gesicht

2008 und 2009 haben am Markt mehrere neue Cafés und gastronomische Betriebe eröffnet, die peu a peu fast den gesamten Markt mit Stühlen eingenommen haben. Einerseits belebt dies wünschenswert die Innenstadt, andererseits wurden bereits kritische Stimmen laut, dass dies mittlerweile zu „viel des Guten“ sei und die Atmosphäre des Marktes beeinträchtige. Seit Herbst 2010 ist in den drei Schürholz-Häusern auf der Südseite des Marktes das dort ansässige Bekleidungshaus Mensing verschwunden. Stattdessen sind eine Niederlassung der Buchhandlungskette „Thalia“ sowie zwei Bekleidungsgeschäfte in die Häuser eingezogen.

Seit einigen Jahren wird der Marktplatz bei Festveranstaltungen abgeriegelt, damit kein Bürger den Platz ohne Bezahlung betreten kann. Darüber bildet sich in der Bevölkerung Unmut mit dem Hinweis, dass der Marktplatz ein authentischer und originärer Ort der Bürger sei, denen man den Zutritt zu ihrem Marktplatz traditionell nicht verwehren dürfe – schon gar nicht, um Eintrittsgeld zu kassieren, wenn private Unternehmen den Marktplatz in Beschlag nähmen.

An mehreren Tagen in der Woche findet auf dem Markt und teilweise in den anliegenden Straßen der so genannte Wochenmarkt statt. Angeboten werden Obst, Käse, Fisch, Haushaltswaren, Fleisch, Wurst und anderes mehr. Im April 2012 erstattete ein Gutachter (CIMA-Team Michael Karutz) dem Wirtschaftsausschuss des Rates Bericht darüber, wie er die Qualität des Dorstener Wochenmarktes auf dem Marktplatz einschätze. Beauftragt hatte ihn die städtische Wirtschaftsförderungsgesellschaft Windor. Er gab dem Wochenmarkt in Dorsten „Bestnoten“. Die DZ schrieb folglich: „Dorstens Markt ist eine Attraktion, die keinen Vergleich zu scheuen braucht.“ Das Gutachterteam befragte Markthändler, Beschicker, Kunden. Das Ergebnis des Gutachtens mag all jene überrascht haben, die seit Jahren einerseits eine zunehmende Verödung des Wochenmarkts und andererseits eine Belebung durch das Fehlen von Lebensmittelgeschäften in der Innenstadt feststellen.

Der schwarze Waldmensch

Der Bart war schwarz und wild, das Gesicht und die Hände vor Schmutz starrend und dunkel verfärbt.  Einer solchen Erscheinung konnte man kaum Vertrauen entgegenbringen. Alles, was er besaß, trug er auf dem Leib. Manchmal bis zu sieben Hosen und Jacken, die keine Knöpfe mehr hatten und mit Draht zusammengehalten waren. Doch Engelbert Lehnert, der 41 Jahre lang in den Wäldern der Herrlichkeit lebte, war weder ein Unhold noch ein Kinderschreck. Er konnte nicht Tritt fassen in der ländlichen Gesellschaft, in die er am 26. Dezember 1889 in Heiden hineingeboren wurde. Daher lebte er von den Gaben der Bauern. Diese Art von Leben brachte ihm zweifelhafte Berühmtheit ein. „Schwarzer Engelbert des Münsterlandes“, „Geheimnisvoller Waldmensch“, „Der Unheimliche aus den Wäldern“ titelten die Medien.

Seine Eltern starben schon bald nach dem Ersten Weltkrieg, seine Geschwister zogen fort, das elterliche Anwesen ging in andere Hände über. Engelbert Lehnert hatte kein Zuhause mehr. So lebte er draußen, im Sommer wie im Winter, selbst wenn das Thermometer 20 Minus-Grade anzeigte. Den Zweiten Weltkrieg überlebte Engelbert in seinen Wäldern. Im ersten Kriegsjahr sah er die Flugzeuge, die über sein Gebiet zum Angriff nach Holland flogen, in den nächsten Jahren waren es Brände. Welche Ängste Engelbert in den Bombennächten ausgestanden haben mochte, weiß niemand. Nach dem Krieg blieb Engelbert Lehnert in seinem Wald, auch wenn es mit zunehmendem Alter beschwerlicher für ihn wurde.

Am Rosenmontag des Jahres 1956 wäre er beinahe verbrannt, als seine Kleidung an einem angeheizten Futterkessel Flammen fingen und seine Haut dabei hochgradig in Mitleidenschaft gezogen wurde. Engelbert kam ins Lembecker Michaelisstift in Obhut eines Arztes und der resoluten Schwester Herma. Nach einiger Zeit bezog er dort eine einfache Kammer. Es dauerte Monate, bis Engelbert Lehnert wieder gesund war. Er sollte – vom Sozialamt betreut – acht Jahre im Michaelisstift bleiben, verschlossen und wortkarg. Fragte ihn jemand nach seinem Waldleben, wurde er zornig, drohte mit der Faust und wendete sich ab. An einem Wintertag, es war der 1. Dezember 1964, wurde er in der Abenddämmerung von einem Auto angefahren. Schwer verletzt kam er ins Krankenhaus. „Mir fehlt nicks. Ik heb bloß de Beene tebrocken.“ Doch am 8. Dezember endete die ungewöhnliche Lebensgeschichte Engelbert Lehnerts. Eine große Trauergemeinde gab ihm in Lembeck das letzte Geleit.

Gern gesehene Gäste

Irgendwann Ende der 1970er- oder Anfang der 1980er-Jahren fuhr Dorstens Stadtdirektor Dr. Karl-Christian Zahn mit dem Zug nach Süddeutschland. Er befand sich auf einer Dienstreise und hatte ein kleines handliches Diktiergerät dabei, um Akten aufzuarbeiten und Notizen für seine Sekretärin aufzunehmen. Interessiert sah er hin und wieder auf die vorbeiziehende Landschaft, Wälder und Wiesen, Dörfer mit Fachwerkhäusern. Dabei stellte er, wie er später erzählte, Vergleiche mit der Landschaft Westfalens an und zeigte sich zufrieden. Doch dann, als der Zug langsamer fahren musste oder gar anhalten, sah er in einem Dorf ein Haus mit einem Storchennest auf dem Dach, in dem sich ein Storch befand. So etwas gab es damals in Dorsten nicht. Ganz verzückt stellte er sein Diktiergerät an und stellte seiner Sekretärin die mit einem Auftrag verbundene Frage, warum „wir in Dorsten keine Störche haben“ und sie möge sich doch erkündigen, wie man zu Störchen komme. Wie die Reaktion seiner Sekretärin im Rathaus war, als er das Band überspielt hatte, darüber ist nicht bekannt. Es wäre spekulativ zu sagen, dass gelacht, geschmunzelt oder mit der Schulter gezuckt wurde. Fest steht, dass keine Störche kamen und sicherlich dazu auch nichts unternommen wurde. Störche kamen viel später und freiwillig. Da war der Stadtdirektor, der zuletzt Bürgermeister von Dorsten war, schon pensioniert, nämlich erst 2003.

Seit dieser Zeit kommt eine Storchenfamilie – und mittlerweile deren Kinder – jedes Jahr in den Hervester Bruch, um in der Zeit der Durchreise hier zu brüten und die Jungen flügge werden zu lassen. Die Idee, den Störchen eine Nisthilfe auf einem hohen Pylon zu bauen, hatte der Holsterhausener Walter Biermann, die Werner Elvermann vom Heimatverein Hervest aufgriff und zusammen mit anderen, es den gefiederten Gästen mit dem Nestrad auf dem errichteten Mast gemütlich zu machen. In ausreichendem Abstand wurden Bänke errichtet, damit die Dorstener das jährlich immer wieder neue Glück der Familie Adebar, Werner und Luise, am Brauckweg mitverfolgen können. Im Frühjahr 2010 wurden acht Störche gesichtet. Im August 2011 versammelten sich 44 gezählte Störche auf der Brauckweg-Wiese im Hervester Bruch. Als Grund dieser großen Storchen-Versammlung wurde von Kennern angegeben, dass es Jungstörche sind, die auf den Weg zu Quartieren waren.

Der Kreis Recklinghausen gestaltete 2012 den Hervester Bruch unter dem Arbeitstitel „Der Storch ist gekommen“ um den Störche ein größeres zusammenhängendes und störungsfreies Gebiet zu schaffen. Das Amt für Landschaftsplanung und -gestaltung des Kreises Recklinghausen hatte sich im Frühjahr 2008 mit diesem Projekt erfolgreich an dem Tourismuswettbewerb „Erlebnis NRW” beworben. Der Hervester Bruch ist ein Brut-, Rast- und Erholungsgebiet für über 40 Vogelarten. Es wurden Rundwege geschaffen und Informationstafel angebracht. Aussichtskanzeln und Holzstege schützen die Natur und erhöhen gleichzeitig die touristische Attraktivität (siehe Hervester Bruch). 

2011 hat ein Storchenpaar in den Rhader Wiesen genistet, für das der Rhader Heimatverein ein Rad als Nisthilfe gebaut hatte, das aber etliche Jahre von den Adebars nicht angenommen worden war. Die Rhader nannten das Storchenehepaar Ludger und Agnes.

Suche Loessel!

„Haben Sie eine Loessel?“, „Loessel zu verkaufen!“ oder „Suche Loessel!“ Wer nichts mit Geigen zu tun hat, wird nicht verstehen, was damit auf dem Musikalien-Anzeigenmarkt, im Internet-Verkaufsmarkt oder bei Musikinstrumenten-Auktionen gemeint ist. „Loessel“ sind Meistergeigen, die von Georg Loessel in Hervest-Dorsten am Kapellenweg hergestellt worden sind: Im Laufe seines Lebens waren dies 205 Geigen, sechs Bratschen und ein Cello. Wer mehr über Meister Loessel wissen will, kann in der „Enzyklopädie des Geigenbauers. Die österreichischen und deutschen Geigenbauer“ des tschechischen Autors Karel Javolec nachlesen, die 1967 erschienen ist. Das Buch wird bereits auf Auktionen für 100 bis 200 Dollar gehandelt. Georg Loessels Geigen zwischen 3.500 und 5.000 Euro.

Georg Loessel dürfte etlichen Dorstener Schulkindern der Nachkriegszeit nicht als Geigenbauer in Erinnerung sein, sondern als Lehrer der St. Agatha-Schule in den Jahren 1946/47. Danach wurde er pensioniert. Lehrer war er schon immer, das war sein Hauptberuf. Auch in Schlesien, wo er herstammt und Rektor einer Schule war. Als Heimatvertriebener kam er bei Kriegsende zuerst in die damalige Ostzone, dann wurde ihm Dorsten als zukünftiger Wohnsitz zugewiesen. Nach seiner Pensionierung widmete er sich wieder dem Geigenbau, den er in seiner schlesischen Heimat neben seinem Lehrberuf erlernt hatte. Im Wohnzimmer fing er damit an und hatte bald eine kleine Werkstatt, in der seine vortrefflichen Instrumente entstanden waren.

Sein Geburtsort Ober-Stephansdorf liegt auf halbem Wege zwischen Breslau und Liegnitz in der Grafschaft Glaz. Dort gab es ein herrschaftliches Gut der Grafen von Schweinitz, bei dem Georg Loessels 1764 aus Böhmen zugewanderter Urur-Großvater, Philipp Loessel, als Hausmusiklehrer und gleichzeitig Dorfschullehrer und Organist in der Dorfkirche angestellt war. Aus Böhmen brachte sein Urur-Großvater eine Geige und mehrere Querpfeifen mit und nannte sich „Querpfeifer und Musikantikus“. Als er 1807 starb, erbte Georg Loessels Großonkel, Schneidermeister Johann Loessel, die Geige. Er bot sie dem Kantor Menzel an, der sie für zehn Taler kaufte und dem Geigenbaumeister Liebig in Breslau zur Reparatur brachte. Dieser erkannte sofort, dass er eine echte „Amati“ in Händen hielt. Der Geigenzettel lautete: „Nicolaus Amatus Cremonen Hieronymus/Fil. ac Antoniy Nepos fecit 1675“. Kantor Menzel vererbte die Geige seinem Sohn in Bunzlau. Zu ihm ging Georg Loessel, fotografierte die einst seinem Urur-Großvater gehörende Geige, die heute einen Wert von rund 70.000 Euro hätte, von allen Seiten und hütete die Fotos. Die Geige selbst ging 1945 verloren, die Fotos brachte Loessel mit nach Dorsten. Georg Loessel war im Schuldienst tätig und leitete eine Schule. Nebenbei ließ er sich in Breslau im Geigenbau unterweisen. Dann baute er nach den Fotos die Amati-Geige seines Urur-Großvaters nach. Georg Loessel eignete sich mit der Zeit praktische und theoretische Kenntnisse an, veröffentlichte eine Schrift, in der er die 15 Geigenbauer seiner Heimatregion unter dem Titel „Die Geigenbauer der Grafschaft Glaz“ darstellte. 1924 legte der Schullehrer vor der Innungs-Prüfungskommission zu Breslau die Meisterprüfung im Geigenbau ab. Zu Beginn der nationalsozialistischen Zeit wurde Georg Loessel vorübergehend vom Schuldienst beurlaubt, weil er als Vorsitzender des Zentrums der NS-Ideologie widerstand. Aus Entnazifizierungsunterlagen geht hervor, dass er 1933 „Reichskanzler Hitler“ beleidigte und am 9. September 1933 wegen staatsfeindlicher Betätigung in Schutzhaft genommen wurde (Entnazifizierungsakte Landesarchiv Düsseldorf, Ord.-Nr. 516). Er überlebte existentiell, weil er in den umliegenden Orten vornehmlich Schul- und Kirchengeigen reparieren konnte.

Nach seiner Übersiedlung in den Westen und Pensionierung als Lehrer in Dorsten fing der Heimatvertriebene wieder an, Geigen zu bauen. Einerseits richtete er sich nach den Fotos der Geige seines Urur-Großvaters, andererseits lehnte er sich in der Gestaltung seiner Meistergeigen an den italienischen Geigenbauer Stradivari (1643 bis 1737) an. Seine Frau starb bereits 1965. Mit Georg Loessel starb 1980 vielleicht der letzte schlesische Geigenbauer von Ruf, dessen Leben als Dorfschullehrer in Ober-Stephansdorf begann und 98-jährig in Hervest-Dorsten endete.

Echte Nachkriegskrimis

Hunger, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot förderten nach dem Krieg die Kriminalität, die von Jahr zu Jahr anstieg. In der Polizei­statistik wurde das Schwarzschlachten ebenso aufgeführt wie der Schwarzhandel und Wirtschaftsvergehen, Unterschlagun­gen von Lebensmitteln, Diebstähle von Eiern, Überfälle, Raub und Sittlichkeitsde­likte. Nach den turbulenten ersten Nach­kriegsjahren ließen die schweren Delikte wie Mord, Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge nach, stiegen aber Anfang der 1950er-Jahre wieder an. Die Dorstener Volks­zeitung schrieb 1951:

„Daß dieses neuerli­che Ansteigen mit der Abschaffung der To­desstrafe in Zusammenhang zu bringen ist, läßt sich natürlich nicht belegen. Es muss wei­ter berücksichtigt werden, daß in den beiden letzten Jahren die Ausländer der deutschen Gerichtsbarkeit unterstellt und abgeurteilt wurden…“

Genauso verlief die Kurve der Diebstähle, deren Zahl 1949 stark abgenommen hatte, danach aber wieder anstieg. Es häuften sich Metalldiebstähle und Einbrüche. Auch Raub und Erpressung stiegen nach anfängli­chem Rückgang. Einen traurigen Rekord hielten Sittlichkeits­delikte. Wurden im Landgerichtsbezirk Münster 1949 „nur“ 171 Fälle gezählt, so wa­ren es 1950 über 770 zum Teil schwere Sitt­lichkeitsfälle.

Auch die Dorstener Amtsrichter hatten alle Hände voll zu tun, kleinere und größere De­likte abzuurteilen. Bei schweren Fällen tag­ten die Strafkammern des Essener Landge­richts im Dorstener Amtsgericht.

In Zeiten der knappen Waren blühte der Schwarzhandel. Die Zollfahndung ermit­telte im Dezember 1950 einen Hauptlehrer in Altschermbeck, der sich jeden Monat von seiner in Amerika lebenden Schwester fünf Pfund Kaffee schicken ließ. Dagegen hatte der Zoll nichts einzuwenden, zumal dieses Quantum gerade noch erlaubt war. Aber dem findigen Hauptlehrer genügten die fünf Pfund nicht, da er mittlerweile entdeckt hatte, dass man mit Kaffee einen schwung­haften Handel betreiben konnte. Deshalb setzte er sich mit einem Kaufmann in Verbin­dung. Gemeinsam sammelten sie Deck­adressen für Kaffeepakete. Die Dorstener Volkszeitung am 12. Januar 1950: „Das Ge­schäft blühte wie noch nie.“ Der Kaffee wurde für 10 bis 15 Mark pro Pfund abge­setzt. Der Handel wurde schließlich so schwunghaft betrieben, dass die Zollfahn­dungsstelle in Borken Wind davon bekam und bei dem Hauptlehrer und dem Kauf­mann Hausdurchsuchungen vornahm. Mit Hilfe einer Hamburger Auslieferungsfirma stellten die Behörden fest, dass mindestens 70 Kilo Kaffee an Deckadressen in Alt­schermbeck, das damals noch zum Amt Her­vest-Dorsten gehörte, geschickt worden wa­ren.

Immer wieder Anlass für Zank, Rechts­streit und Gesetzesübertretungen war die Wohnungsnot. Hausfriedensbruch, tätliche Beleidigung, gefährliche Körperverletzung und Sachbeschädigung brachten Auguste T. im Dezember vor das Dorstener Schöffen­gericht.

Fünf Jahre schon hatte Auguste bei ihrem Bruder gewohnt, der selbst mit einer sechs­köpfigen Familie in einer winzigen Wohnung hauste. Als Auguste eines Tages eine leer ste­hende Baracke auskundschaftete, zog sie kurzentschlossen dort hinein. Nach drei Wochen for­derte das Wohnungsamt sie auf, die Baracke wieder zu räumen. Daraufhin ging sie zum Bürgermeister, der den Beamten bat, die Frau noch eine Weile in der Baracke woh­nen zu lassen. Dieser blieb aber hart. Am andern Morgen stand der Beamte um sieben Uhr vor der Tür der Auguste und sagte: „Sind Sie noch nicht heraus? Jetzt mache ich Ihnen Dampf!“ Sogleich packte er die Möbel und beförderte sie auf die Straße. Aufgeregt lief Auguste zum Wohnungsamt, stürmte in das Büro, erklärte den verdutzten Angestellten, dass sie nicht eher das Büro verlassen würde, bis sie eine Wohnung habe. Der Wortwechsel wurde heftiger. Schließ­lich ergriff Auguste einen Aktenordner und schlug ihn im Zorn der nächst stehenden Angestellten um die Ohren. Einen Aschen­becher zerschmetterte sie auf dem Schreib­tisch und warf die Trümmer dem gerade in Deckung gehenden Angestellten an den Kopf. Mehrere Aktenbündel folgten diesem Weg. Der Angestellte wurde verletzt und stellte Strafantrag.

Der Staatsanwalt beantragte gegen Auguste zwei Monate Gefängnisstrafe. Das Gericht berücksichtigte allerdings die verständliche Erregung der Auguste als strafmildernd und verurteilte sie zu einer Geldstrafe von 100 Mark.

Im Oktober 1948 musste sich eine Groß­mutter vor dem Dorstener Gericht verantworten, die noch nie mit dem Gericht und der Polizei zu tun gehabt hatte. Als im Sep­tember 1945 ihr Enkelkind starb, unterließ sie es, das Ernährungsamt davon in Kenntnis zu setzen, und bezog über zweieinhalb Jahre widerrechtlich die Lebensmittelkarten des verstorbenen Kindes. Die über 70-jährige verbrauchte die zusätzlichen Lebensmittel aber nicht für sich, sondern ausschließlich für zwei weitere in ihrem Haushalt lebende Enkelkinder, weil sie Mitleid mit deren Hun­ger hatte. Das Gericht erkannte die Beweg­gründe wohl an, verurteilte die Frau aber we­gen des allzu langen Zeitraumes des wider­rechtlichen Bezugs der Lebensmittelkarten zu einer Strafe von zwei Monaten Gefäng­nis.

In der Zeit, in der viele Männer als ver­misst galten, wo Familien auseinander geris­sen waren, kam es schon vor, dass Frauen oder Männer, die jahrelang nicht wussten, ob ihre Ehepartner noch lebten, einen anderen Le­bensgefährten suchten. Nicht selten endeten solche tragischen Fälle als Verbrechen vor dem Strafrichter.

Auf einem Verschiebebahnhof irgendwo in Rumänien standen im Winter 1945 zwei Heimkehrerzüge aus Sibirien. In dem einen befanden sich Kriegsgefangene, in dem an­deren deutsche Zwangsarbeiterinnen. Die meisten waren krank und arbeitsunfähig. Unter den ehemaligen Soldaten war der da­mals 28-jährige Klaus Kr. aus Dorsten. Von Abteil zu Abteil lernten sie sich kennen: der Dorstener, der auf der Heimfahrt Rich­tung Deutschland war, und die 17-jährige Ostpreußin, die in ein sibirisches Kohleberg­werk verschleppt worden war und nun als menschliches Wrack irgendwohin in den We­sten fuhr. Die beiden fassten Zuneigung zueinander. Kr. gestand ihr, dass er in der Tschechoslowa­kei eine Frau und zwei Kinder habe. Ge­meinsam fuhren der 28-Jährige und das ost­preußische Mädchen in das Ruhrgebiet. Nach kurzem Aufenthalt in Bottrop zogen sie nach Dorsten, wo der Mann im Bergbau Arbeit fand. Die beiden heirateten und er­klärten vor dem Standesbeamten, nicht ver­heiratet zu sein. Bei dem Mädchen stimmte das, nicht aber bei dem Mann. Als später die rechtmäßige Frau auftauchte, stand das Pärchen im August 1951 vor der Großen Strafkammer. Er als Bigamist, sie, weil sie die falsche Ehe wissentlich eingegan­gen war. Das unrechtmäßige Paar kam glimpflich davon. Gegen die Angeklagte wurde das Verfahren mit Rücksicht auf Straf­freiheit eingestellt. Klaus Kr. erhielt wegen Doppelehe sieben Monate Gefängnis, für die ihm Strafaufschub gewährt wurde. Kr. ließ sich von seiner erstvermählten Frau scheiden und heiratete nochmals vor dem Dorstener Standesamt sein ostpreußisches Mädchen.

Im gleichen Jahr musste sich die Große Strafkammer im Amtsgericht Dorsten mit ei­nem ähnlichen Fall beschäftigen. Theodor St. stammte aus Danzig, hatte polnische Eltern, war Analphabet, wurde deut­scher Soldat, machte den Feldzug gegen Frankreich mit und geriet bei Kriegsende auf den Kanalinseln in Kriegsgefangenschaft. Vergeblich bemühte er sich von England aus, die Verbindung zu seiner in Danzig ver­bliebenen Frau aufzunehmen. Seine Briefe kamen als unzustellbar zurück. Nach seiner Gefangenschaft fand er Beschäf­tigung in einem Dorstener Industriewerk. Abermalige Bemühungen, seine Frau ausfindig zu machen, scheiterten. 1948 verliebte er sich in ein Dorstener Mäd­chen, wurde von dessen Familie herzlich auf­genommen und fand somit eine Bleibe. Die Eltern des Mädchens drängten auf Heirat, zumal ein Kind erwartet wurde. Um das neu gewonnene Heim und Glück nicht zu gefähr­den, setzte sich St. über alle Bedenken hin­weg, und fälschte einen Brief, aus dem her­vorging, dass seine Frau in Danzig verstor­ben sei. Dieses Schreiben legte St. als Ur­kunde dem Standesamt vor. Die Flitterwochen waren kaum beendet, da tauchte die tot erklärte Frau auf. Beide Frauen kämpften nun um denselben Mann, der von der einen zur anderen schwankte. Letztlich entschied er sich für die ihm rech­tens Angetraute und erhob Nichtigkeits­klage bezüglich seiner zweiten Ehe. Aller­dings wurde die erste Ehe geschieden, weil sich herausstellte, dass er die Beziehungen zur zweiten Frau nicht abgebrochen hatte. Die erste Frau wollte ihn aber immer noch nicht aufgeben. Sie zeigte ihn wegen Biga­mie und Urkundenfälschung an, verwei­gerte jedoch vor Gericht die Aussage, weil sie sich immer noch vor Gott mit ihm verbun­den fühlte. Nach der Beweisaufnahme fällte das Gericht den Schuldspruch: Wegen Doppelehe, Urkundenfälschung und einer falschen eidesstattlichen Versicherung wurde Theo St. zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gericht billigte weitgehend mildernde Umstände zu und stellte fest, dass der Angeklagte nicht aus verbrecherischer Neigung gehandelt hatte, sondern durch die schicksalhafte Verworrenheit seiner Situa­tion ins Straucheln gebracht worden war. Theo St. brauchte die Strafe nicht verbüßen. Eine Amnestie bewahrte ihn vor dem Straf­antritt. Er lebte als glücklicher Großva­ter in Dorsten. – Sein Vorname und die An­fangsbuchstaben seines Nachnamens sind hier aus begreiflichen Gründen geän­dert.

Mit einem wie eine Köpenickiade anmu­tenden Fall hatte sich im August 1950 der Einzelrichter am Amtsgericht Dorsten zu be­fassen. Im Februar des Jahres 1950 waren der Mar­ler Bürgermeister Heiland und der Marler Amtsbürgermeister Baum von einer Veranstaltung gekommen, als kurz vor ihrem Wa­gen ein stark beschädigtes Auto im Zick- Zack-Kurs über die Straße schlingerte. Ein Überholen des Wagens war unmöglich. Plötzlich bog das Fahrzeug in eine Seiten­straße ein und hielt unter einer Laterne. Die beiden Bürgermeister folgten in ihrem Wagen dem Fahrzeug, um die Autonummer aufzuschrei­ben.

Laute englische Flüche ausstoßend, torkelte der Fahrer um den Wagen herum und stellte sich vor das Nummernschild, das Heiland ge­rade entziffern wollte, und bedeutete ihm, endlich weiterzufahren. Ihm als englischen Polizeiinspektor Schwierigkeiten zu ma­chen, lallte er, würde Konsequenzen zur Folge ha­ben. Daraufhin entwickelte sich ein Handge­menge, in das die beiden Bürgermeister und neben dem Angeklagten auch noch dessen Beifahrer verwickelt wurden. Als später die Polizei am Tatort erschienen war, stellte sich bei einer Blutprobe heraus, dass der Polizeiinspektor weder echt noch englisch war, aber echte 14 Promille Alkohol im Blut hatte. Wegen Vergehens gegen die Straßenver­kehrsordnung und Körperverletzung verur­teilte ihn der Amtsrichter zu einer Gefäng­nisstrafe von drei Wochen und einer Geld­buße von 80 Mark. Sein Beifahrer kam mit 50 Mark Geldstrafe davon.

Erdöl in Erle

Als das Dorf Erle in unmittelbarer Nachbarschaft von Dorsten noch zum Amt Hervest-Dorsten gehörte, wären die Erler und mit ihnen sicherlich auch die Nachbargemeinden sehr reich geworden, wenn das geklappt hätte, was sie sich 1950 versprachen. Damals war für Wochen Erle in aller Munde. Denn es wurde ein „reichhaltiges Ölvorkommen von beträchtlichem Ausmaß“ entdeckt; ganz Erle schwamm auf einem riesigen 1.300 Meter unter der Erde befindlichen Ölsee, wie es die „Ruhr-Nachrichten“ erfahren haben wollten. Nachdem der Nordwestdeutsche Rundfunk (NRWD) über den Fund à la James Dean in „Giganten“ gesendet und überregionale Zeitungen darüber berichtet hatten, stand bei Bürgermeister Lammersmann das Telefon nicht mehr still. Immer wieder musste er allen möglichen Stellen und Instanzen Auskunft über den Stand der Bohrungen geben. Die Bohrungen hatte die Wintershall AG Hamburg vorgenommen. 6.000 Arbeiter sollten in Erle Arbeit und Brot finden. Die Zeitung schrieb:

„Es bedarf keiner Frage, dass die Ausbeutung dieser Erdölquellen eine umwälzende Veränderung im Gesamtbild unserer Heimat mit sich bringen würde und vor allem auch die Wirtschaftsstruktur erheblich beeinflusst werde.“

In den Köpfen klingelten schon die Petro-Dollars und es wurden öffentlich Überlegungen angestellt, „welcher Betrag für die Landwirte angemessen sei“, auf deren Grundstücke die Sonden angelegt werden. Die Zeitung schwärmte:

„Wenn nicht alles trügt, werden wir in den nächsten Jahren im Nordwesten der Herrlichkeit einen wirtschaftlichen Auftrieb erleben, der kaum demjenigen nachstehen dürfte, den wir […] in Hervest und Holsterhausen mit dem Aufkommen des Bergbaues feststellen durften.“

Es entstand auch eine Auseinandersetzung, wo die zukünftige Hauptverwaltung des Erdölunternehmens Erle seinen Sitz haben sollte. Die Raesfelder beanspruchten ihn genauso wie die Erler. Für das Amt Hervest-Dorsten kam nur Erle in Frage, weil dann die Steuereinnahmen auch für das Amt sprudeln würden. Beim Streit um den Firmensitz wurden die Kilometer-Entfernungen zu den Bahnhöfen ausgemessen: bis Rhade waren es sechs Kilometer, bis Deuten zehn, nach Schermbeck 10,1 nach Hervest 11,1, nach Borken 11,8 und bis Marbeck-Heiden 15,6 Kilometer. Dorsten („man bemüht sich, nichts zu versäumen, wartet aber ab!“) bewarb sich mit einem neuen Kanalhafen, der in Holsterhausen entstehen sollte, sowie mit zwei noch aus dem Krieg stammenden Benzintanks im Dorstener Kanalhafen. Die Verkehrsbetriebe Vestische Straßenbahnen begannen, das Gebiet in hektischer Eile mit einer viermal täglich verkehrenden Autobuslinie verkehrsmäßig anzuschließen.

Schon bald dämpften Fachleute in Leserbriefen und Stellungnahmen die öffentliche Euphorie. Als sich der Qualm, angefacht durch übertriebene Zeitungsmeldungen und öffentliche Spekulationen, verzogen hatte, wurde die Realität sichtbar. Es trog fast alles. Denn es fuhr lediglich ein Lastwagen in Erle umher, der ein kleines Bohrgerüst mit sich führte. Damit wurden Löcher bis zu 25 m Tiefe gebohrt und mit Sprengstoffladungen gefüllt. Beim Zünden haben die Fachleute auf dem mitgeführten Seismographen festgestellt, wo das Steinkohlengebirge beginnt. Es handelte sich dabei um geophysikalische Untersuchungen der Oberflächengestaltung des Carbon. Die Untersuchungen, die auf Veranlassung der Vacuum Erdöl-Gesellschaft von der Wintershall AG durchgeführt wurden, hatten also mit Erdöl nichts zu tun, außer dass das Wort im Firmennamen des Auftraggebers vorkam. – In wenigen Wochen war der Ölspuck in und um Erle vorbei. Die einen mochten aufgeatmet haben, andere enttäuscht gewesen sein und wahrscheinlich wünschten sich alle, dass dieses blamable Ende bald in Vergessenheit gerät.

Totenschein für einen Lebenden

Nach akuter Erkrankung starb am 20. Juni 1983, morgens um 6.30 Uhr, der Postbeamte Helmut Bieletzki, geboren am 23. April 1933, wohnhaft in Dorsten, Westgraben 46 durch Atemstillstand; seine Pupillen waren weit geöffnet. Ein Notarztwagen holte den Toten am besagten Tag ab. Der Transportzettel trug die Nummer 37403621. Der Transport ging vom Westgraben zur Krankenhaus-Wache. Der Tote war bei der Bundespost-Krankenkasse Münster versichert, die die gesamten Kranken- und Begräbniskosten übernahm. Doch diese eigentlich alltägliche Sache hatte einen Haken, der etliche amüsierte, andere schockierte und einige blamierte. Denn der für tot erklärte Postbote im Landzustelldienst war gar nicht tot, sondern erfreute sich bester Gesundheit und eines Unwissens über sein angebliches Ableben. Doch darum kümmerte sich die Bürokratie wenig. Für sie war er zunächst mal tot – und das für eine längere Zeit, nämlich fast ein halbes Jahr. Bieletzki bemerkte sein Ableben erst, als er am 5. November des gleichen Jahres an seinem Arbeitsplatz im Dorstener Postamt einen Brief des Ordnungsamtes Dorsten öffnete, in dem er mit einem Gebührenbescheid über 330 DM aufgefordert wurde, unter Kassenzeichen 067309260 seinen Transport als Leiche von der Wohnung zum Krankenhaus mittels beiliegendem Zahlschein zu begleichen. Als Beleg, dass er tot war, war der Totenschein beigelegt. Den Schock, den der Untote erlitt, überstand er nach eigener Auskunft ohne Notarzt und Rettungswagen. „Mir fielen die Augen aus dem Kopf, meinen eigenen Totenschein in Händen zu halten!“

Die Tatsache der Lebendigkeit des Postboten wurde schließlich akzeptiert und man kam dem Irrtum auf die Spur. Am selben Tag verstarb im Haus des Postboten ein anderer Mann. Die Notärztin trug in den Transportschein für den Toten ins Krankenhaus irrtümlicherweise den Namen Bieletzki ein, den sie an der Tür ablas, allerdings an der falschen Tür. Und der Hausarzt des Toten stellte daraufhin den amtlichen Totenschein ebenfalls auf den Namen Bieletzki aus. Und das war der quicklebendige Postbote im Landzustelldienst.

155 Tage Kirchenasyl

Ralph Wilms überschrieb seine Geschichte in der WAZ über das Kirchenasyl der kongolesischen Familie Mfebe, das ihr das katholische Dekanat Dorsten gab, mit „Ein Kapitel der Stadtgeschichte“. In der Tat war es das erste und einzige Kirchenasyl in Dorsten, das nach 155 Tagen für die von Abschiebung bedrohter Familie glücklich ausgegangen war.

Das Kirchenasyl begann am 8. August 1999 in der Sakristei der Antoniuskirche in Holsterhausen. Wenn es auch rechtlich keinen Schutz geboten hätte, hätten sich die Behörden durch das Kirchenasyl nicht aufhalten lassen, Makila Mfebe, seine Frau Eveline Iwanda Imbie und die drei Kinder Blandine, Alice und Gedeon abzuschieben, moralisch bot das Asyl in der Kirche Schutz.

Asyl hinter Kirchenmauern bedeute immer auch Gefahr des polizeilichen Eingreifens. Daher organisierten die Helfer von drei Kirchengemeinden den Tagesablauf. Alle zwei Stunden lösten sich Gemeindemitglieder in der Präsenz ab. Für die zehnjährige Blanine wurde in der Kirchen „Schulunterricht“ organisiert, da man befürchten musste, dass das Kind, wenn es weiter zur Pestalozzischule gegangen wäre, von den Behörden abgefangen und in den von Bürgerkriegen verheerten Kongo abgeschoben oder aber als Druckmittel gegen die Eltern in der Kirche benutzt worden wäre. .

155 Tage Kirchenasyl, das ihnen das katholische Dekanat seit dem 8. November 1999 gewährte, rettete die Familie davor, in den von Diktatoren und Bürgerkriegen verheerten Kongo abgeschoben zu werden. Acht Jahre nach dieser dramatischen Vorweihnachtszeit fand Familie Mfebe jetzt in Essen ein neues Zuhause.

Der „Rechtsbruch“ des Kirchenasyls (Stadtdechant Ludger Ernsting) sorgte in Dorsten für bisher einzigartige Zeichen der Solidarität: Fast 3500 Dorstener unterzeichneten die Petition für ein Bleiberecht der Familie Mfebe; der Rat der Stadt verabschiedete eine Resolution mit dem gleichen Ziel.  Der Petitionsausschuss des Landes votierte einstimmig zugunsten der Familie. Weihbischof Dr. Josef Voss, erfahren als Migrationsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz, sprach mit den Eltern Mfebe und ihren Betreuern. Und Hans Koschnick, Bremens langjähriger Bürgermeister, sagte als Gast in St. Antonius klipp und klar, was von diplomatisch-schönfärberischen „Lageberichten“ des Auswärtigen Amtes aus Kongo zu halten sei: nämlich nichts. „Unser Botschaftspersonal informiert sich an der Hotelbar. Die wagen doch keinen Schritt aus der Hauptstadt heraus.“

Während Baby Gedeon im Pfarrhaus das Laufen lernte, seine zwei Jahre ältere Schwester Alice den Kindergarten besuchte und sich Blandine neben der Schule ums Übersetzen für ihre Eltern bemühte – wendete schließlich das Nürnberger Bundesamt für Flüchtlinge das Schicksal der Mfebes. Es erkannte im Gesundheitszustand von Eveline Iwanda Imbie ein dauerhaftes „Abschiebehindernis“: Die Mutter der Familie sei immer wieder auf Intensivmedizin angewiesen, wie es sie selbst in der Hauptstadt von Kongo-Zaire nicht gebe. Wilms in der WAZ:

„Aber die Menschenrechts-Situation in diesem verheerten Land – in dem jede neue Tyrannei die vorherige noch an Brutalität zu übertreffen sucht – spielte und spielt keine Rolle mehr im komplizierten Verfahrensweg. Als Stadtdechant nannte Ludger Ernsting diesen eigentlichen Skandal wiederholt beim Namen – und stritt in Eingaben ans Innenministerium auch für einen generellen Abschiebestopp zugunsten von Flüchtlingen aus Kongo. Es blieb die für den Dorstener Helferkreis bittere Erkenntnis: Das Grundrecht auf Asyl ist gründlich ausgehöhlt. Der Verweis auf politische Verfolgung als der vermeintlich direkte Weg ist praktisch nicht mehr gangbar.“

Den Einsatz der Kirche und ihren Helfern würdigte der Dorstener Angela-Schneider-Fonds im Jahr 2000 mit einem Preisgeld eine Initiative, die im Konflikt mit der Stadt handelte. Nach Beendigung des Kirchenasyls und Aufhebung der Abschiebemaßnahmen gelang es der Familie nur langsam, in der Normalität eines ungefährdeten Alltags Fuß zu fassen. Doch es gelang vorzüglich. Acht Jahre später verließ die Familie Dorsten und nahm in Essen Wohnsitz.

Der Pfarrer griff dem lieben Gott ins Portemonaie

Beim Durchblättern der nicht veröffentlichten St. Agatha-Chronik stößt man auf eine zunächst etwas rätselhafte Schlagzeile, die besagt, dass St. Bonifatius treu zum „BvH“ stehe. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich nicht der Sportverein gleichen Namens, sondern Bernhard van Heyden, der 1968 wegen Veruntreuung verurteilt worden war. In einer späteren Revisionsverhandlung vor einer Duisburger Strafkammer sorgte er im vollbesetzten Gerichtssaal für Heiterkeit. Der Fall war wochenlang Stadtgespräch und machte überregionale Schlagzeilen. Wohl kein anderes Thema ist in der Chronik von St. Agatha so ausführlich dokumentiert worden, wie dies Propst Franz Westhoff tat. Dessen Nachfolger, Pfarrer Karl Jesper, stellte dazu in seinen Chronik-Betrachtungen fest: „Die Nachwelt hat später einmal über diesen so unglücklichen Fall zu urteilen.“ – Doch sie urteilte nicht. Die Geschichte wurde vergessen.

„BvH“, wie van Heyden sich in Anlehnung an den Ballspielverein Holsterhausen nannte, war einer der schillerndsten Persönlichkeiten der Dorstener Kriegs- und Nachkriegeszeit. Zunächst Kaplan und später Pensionär in St. Agatha, wirkte er während des Kriegs als Standortpfarrer in Dorsten. Nach Kriegsende setzten ihn die Amerikaner für kurze Zeit als Bürgermeister von Holsterhausen ein, wo er von 1939 bis 1948 Pfarrrektor an St. Bonifatius war. Da saß er dann mit einer dicken Zigarre unter den amerikanischen Soldaten und fühlte sich als King, wie sich der Holsterhausener Gregor Duve erinnert. Der Motorrad- und Autoliebhaber war auch Religionslehrer an den Beruflichen Schulen, später Caritasdirektor in Recklinghausen und Kreisvikar im Dekanat Dorsten, schließlich Pfarrer einer Gemeinde in Duisburg-Hochfeld, wo er auch für die Verwaltung des Marien-Krankenhauses zuständig war.

Die damalige Prozessberichterstattung in den Dorstener „Ruhr Nachrichten“ war eine Gratwanderung – der schwierige Versuch, einerseits der Informationspflicht nachzukommen und andererseits Persönlichkeitsverletzungen zu vermeiden. Bernhard van Heyden hätte bei seinem ausgeprägten Sinn für Humor sicher zugegeben, dass die von ihm und Zeugen vor Gericht dargestellten Szenen bühnenreif waren und jeden Journalisten reizen mussten. Da wird zum Beispiel beschrieben, wie ein Kripobeamter nach van Heydens Suspendierung in Duisburg und dem daraufhin erfolgten Umzug nach Dorsten 1965 „BvH“ in seiner Wohnung am Ostgraben vernehmen wollte und van Heyden den Polizisten aufforderte, er solle erst mal bei ihm Beichte ablegen. Doch der Kripomann ließ sich nicht ablenken, sondern konterte: „Heute wird bei mir gebeichtet!“

Was van Heyden zu beichten hatte, war ellenlang. Drei Jahre nach seiner Veruntreuungen stand der von 1952 bis 1965 an der Duisburger St. Bonifatiuskirche tätige Pfarrer wegen Untreue vor der Dritten Großen Strafkammer des Duisburger Landgerichts. Mitangeklagt war der Kirchenrendant Richard R., der willig mitgemacht hatte und von den Machenschaften des Pfarrers profitierte. Was war geschehen?

Jeden Samstag ließ sich der Pfarrer aus den Beständen des Krankenhauses einen Lebensmittelkorb, Getränke, Brot und Eier ins Pfarrhaus bringen. Pfarrer van Heyden kaufte für sich auf Rechnung des Hospitals Wein, einmal waren es 170 Flaschen auf einem Schlag, die Flasche zu sieben Mark. Die Ordensschwestern des Marien-Hospital „staunten, tuschelten und wurden misstrauisch“, allerdings schwiegen sie über das sonderbare Gebaren des Pfarrers, der ihr Chef war. Die Machenschaften flogen erst auf, als ein Elektriker in der Kirche beobachtete, wie van Heyden den Inhalt eines Kollektenkastens plünderte. Einer anwesende Schwester, die das ebenfalls bemerkte und ihn entgeistert ansah, rief der Pfarrer zu, indem er auf den Altar deutete: „Da vorn ist der liebe Gott.“ Monatlich versorgte sich Bernhard van Heyden mit rund 300 DM aus den Kollekten. Das war sein Taschengeld. Das große Geld machte er durch Fälschungen von Rechnungsbelegen, durch zweckentfremdete Darlehn in fünfstelliger Höhe, wobei ihm sein Kirchenrendant half. Mit Landeszuschüssen in Höhe von 40.000 DM für eine Sterilisationsanlage für das Krankenhaus wurden andere Löcher und in die eigenen Taschen gestopft. Geld für neue Autos für den Pfarrer und seinem Rendanten entnahmen sie der Krankenhauskasse. Von Spendengeldern für das Hospital (Niederrheinischen Hütte 51 500 Mark, 58.400 DM Matthes & Weber, 56.500 DM Demag, 7.000 DM Vereinigte Deutsche Metallwerke, 5.000 DM Esch-Werke) flossen Teile auf Sonderkonten, über das van Heyden frei verfügte.

Als die Machenschaften des Pfarrers durch den erwähnten Elektriker publik geworden waren, behandelte die Kirche den Fall äußerst diskret. Das Kirchengericht des Bischofs verurteilte den Pfarrer zu 27.000 Mark Schadensersatz und 4.500 Mark Geldstrafe. Van Heyden durfte zwei Jahre keine Pfarrstelle mehr annehmen. Das weltliche Gericht urteilte härter: zweieinhalb Jahre Gefängnis und 10.200 Mark Geldstrafe wegen Untreue und Anstiftung zur Urkundenunterdrückung für van Heyden und 15 Monate Gefängnis sowie 5.000 Mark Geldstrafe für den seinen Rendanten. Des Pfarrers Kommentar zu Schuld und Verurteilung: Er könne singen und die Orgel spielen, aber mit Soll und Haben kenne er sich nicht aus. Und: „Mit meinem lieben Gott komme ich besser klar als mit diesem Gericht.“

Bemerkenswert bleibt, dass die Freunde aus den Gemeinden St. Agatha in Dorsten und St. Bonifatius in Dorsten-Holsterhausen treu zu ihrem früheren Kaplan bzw. Pfarrer standen, obwohl dieser mit beachtenswerter krimineller Energie gehandelt, seine Situation selbst verschuldet hatte und zweimal rechtens verurteilt worden war. Zum Beweis der Anhänglichkeit zeigt die Agatha-Chronik ein Foto aus dem Jahr 1940 mit van Heyden vor dem Kirchenchor St. Bonifatius. Direkt hinter ihm steht ein junges Mädchen, das im Text mit „rundes Gesicht“ gekennzeichnet ist. Es hätte dieses Hinweises nicht bedurft, denn die Kleine ist unverkennbar die spätere Staatssekretärin im Verteidigungsministerium Agnes Hürland-Bühning aus Holsterhausen.

Pfarrer i. R. Bernhard van Heyden verlebte die letzten Jahre seines Lebens im südtirolischen Dorf namens Tirol nahe Meran. Während eines Besuchs in seiner westfälischen Heimat starb er 1977 nach kurzer Krankheit. Er ist in Vreden bestattet. Auf seinem Totenzettel steht u. a.:

„Eine große Kontaktfreudigkeit, Lebendigkeit und eine tiefe Gläubigkeit zeichneten ihn noch bis ins hohe Alter aus. Er war offen für die Fragen der Menschen und für die Probleme der nachkonziliaren Kirche. Immer wieder verstand er es, vielen Menschen Brücken zum Glauben zu bauen.“

Quellen: „Der Spiegel“ 9/78. – Nach Rudolf Plümpe in RN vom 2. Oktober 1993. – Gregor Duve in „Holsterhausener Geschichten“, Bd. 2, 2002

Die Prinzessin im Gefängnis

Sie war sicher die prominenteste Gefangene, die jemals im Dorstener Amtsgerichtsgefängnis  eingesessen hat – auch wenn dies am 27. November 1956 nur einen Tag und eine Nacht lang gewesen war. Vielleicht auch etwas länger. Die Gefangene war herzoglichen Geblüts mit königlicher und kaiserlicher Verwandtschaft und hieß Caroline Mathilde (genannt Calma) Prinzessin von Sachsen-Coburg und Gotha. Ihre Eltern waren der bis 1918 noch der regierende Herzog Eduard I. von Sachsen-Coburg und Gotha und die Prinzessin Viktoria Adelheid von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg. Sie waren mit allen Königshäusern Europas verwandt – von Großbritannien bis Russland, von Schweden über Dänemark bis Bulgarien.

Die damals bereits dreimal verheiratet gewesene 44-jährige Prinzessin wurde zusammen mit ihrem Freund, dem Ingenieur Alexander Glasow am 27. November 1956 in Marl verhaftet und ins Amtsgerichtsgefängnis nach Dorsten gebracht. Denn Beide waren nicht zum Prozess nach Coburg gekommen. Daher wurden Haftbefehle erlassen. Vor dem Schöffengericht hatten sie sich wegen Beihilfe zu einem Verbrechen nach § 218 (Abtreibung) zu verantworten. Die Prinzessin war zusätzlich wegen Anstiftung und Glasow wegen Unzucht mit Abhängigen angeklagt. Besonders schwer war der Fall, weil das Mädchen, an dem der Abtreibungseingriff vorgenommen worden war, verstarb. Mitangeklagt waren noch zwei junge Mädchen wegen Beihilfe, die allerdings freigesprochen wurden.

Das Leben der 1912 auf Schloss Callenberg (Kreis Coburg) geborenen Prinzessin verlief nicht ohne Unstetigkeit. Die erste Ehe schloss sie 1931 pompös mit Friedrich Wolfgang Graf zu Castell-Rüdenhausen (geschieden 1938), die zweite 1938 in Berlin mit dem berühmten Piloten und Flugkapitän Max Schnirring, mit dem sie ab 1938 für kurze Zeit in Chile lebte, und der bei einem Testflug 1944 abstürzte. In dritter Ehe war sie von 1946 bis 1947 mit Karl Otto Andrée aus Coburg verheiratet. Prinzessin Calma starb 1983 in Erlangen und ist in der Familiengrablege im Wildpark von Schloss Callenberg bestattet.

Dem Ingenieur Alexander Glasow, der seine Frau und fünf Kinder verlassen hatte, und damals mit der Prinzessin „verlobt“  war, wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, mit zwei minderjährigen Mädchen, die in seiner Fabrik arbeiteten, eine als Haustochter, 1950 bzw. 1953 „Unzucht mit Abhängigen“ getrieben, Letztere geschwängert, sie danach zur damals noch als Verbrechen geltenden unerlaubten Abtreibung überredet zu haben. Und hier kam die Prinzessin ins Spiel. Das 1953 geschwängerte Mädchen, gerade 15 Jahre alt, holte sich bei ihr „mütterlichen“ Rat. Um ihren Freund Glasow, der ihr wohl die Ehe versprochen hatte, nicht zu verlieren und diese Ehe dann nicht mit einem unehelichen Kind zu belasten, half sie ihm. Sie gab einen ihrer Söhne fälschlicherweise als Vater an und schickte das geschwängerte Mädchen zu deren Verwandten in die Ostzone. Dort sollte der unerlaubte Eingriff vorgenommen werden. Die Prinzessin übernahm die Kosten („Ich wollte keinen Skandal“). Das Mädchen kam aus der Ostzone nicht mehr zurück. Es verstarb am Heiligabend 1954 an den Folgen des unerlaubten Eingriffs in Chemnitz. Wer den Eingriff vorgenommen hatte, konnte nicht festgestellt werden.

Die Staatsanwalt hielt es für erwiesen, dass die beiden Angeklagten „sich eines fortgesetzten Verbrechens der Beihilfe zu einem schweren Verbrechen der Abtreibung schuldig“ gemacht hätten. Für Glasow beantragte der Anklagevertreter folgende Einzelstrafen: für die „unzüchtige Handlung eines Kusses“, den er dem minderjährigen Mädchen gab, neun Monate Gefängnis, für den Kuss, den er dem anderen Mädchen gab, das verstorben war, sieben Monate Gefängnis und für die Beihilfehandlung zur Abtreibung sechs Monate Gefängnis. Aus den Einzelstrafen von 22 Monaten beantragte die Staatsanwaltschaft eine Gesamtstrafe von 14 Monaten. Für die Prinzessin plädierte die Staatsanwalt für ein Jahr Gefängnis, was sie „mit Tränen in den Augen“ vernahm. Die Verteidiger der Angeklagten forderten Freisprüche und Aufhebung der Haftbefehle.

Am 21. Dezember 1956 sprach das Schöffengericht Coburg das Urteil. „Beide sind schuldig eines gemeinschaftlich begangenen fortgesetzten Verbrechens der Beihilfe zu einem Verbrechen nach § 218, Glasow in Tatmehrheit mit einem Vergehen der Nötigung.“ Prinzessin Calma von Sachsen-Coburg und Gotha erhielt sechs Monate und Alexander Glasow fünf Monate und eine Woche Gefängnis. In den übrigen Anklagen wurde Glasow mangels ausreichenden Beweises freigesprochen. Die Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Die Prinzessin musste zudem 1.000 DM Geldbuße zugunsten eines Kindergartens zahlen. Sie durfte dies in Raten von 50 DM tun. Die Haftbefehle wurden aufgehoben, die Untersuchungshaft allerdings, auch jene zwei Tage im Dorstener Amtsgerichtsgefängnis, wegen Selbstverschuldung nicht angerechnet.

Die verpasste Chance

Die persönliche Bekanntschaft des Autors noch aus seiner Gelsenkirchener Zeit mit dem Künstler Joseph Beuys brachte die Idee hervor, im Mai 1983 auf dem Dorstener Marktplatz einen Tag lang mit Joseph Beuys und einer Schar von Mitstreitern der „Freien Universität“ und „Zone Fluxus West“ ein Happening zu veranstalten. Die terminlichen, inhaltlichen und organisatorischen Konzeptionen wurden ausgearbeitet. Der Dorstener Bildhauer Antonio Filippin (heute auf den Seychellen) war ebenso dabei wie Beuys-Meisterschüler Johannes Stüttgen aus Gelsenkirchen. Vorangegangen war die in den „Ruhr-Nachrichten“ veröffentlichte Frage an Joseph Beuys, ob er denn auch nach Dorsten käme, wenn seine Kunst hier abgelehnt werden würde und er Anpöbelungen befürchten müsste, wie es damals gegenüber Beuys mitunter üblich war. Wörtlich: „Ja, Ablehnung bin ich gewohnt. Da ich ein Hase bin, kann ich auch Haken schlagen!“ Unter Mitwirkung und Begleitung des WDR sollte ein Kunst-Happening stattfinden, das diesen Tag Dorsten zu einem Kunst-Magneten auch über die Region hinaus gemacht hätte.

Der Journalist stellte das Konzept dem damaligen Kulturdezernenten der Stadt Dorsten, Werner Mörs (CDU), vor, um die Genehmigung zu erhalten, den Marktplatz nutzen zu können. Mörs winkte ab, da die Dorstener Kunstszene kein unterstützendes Interesse zeigte. Mörs sah angeblich keine Möglichkeiten, den Marktplatz für eine Kunstaktion zur Verfügung zu stellen.

Beuys war enttäuscht und die Organisatoren auch. Kurz darauf gelang Beuys mit einer von der internationalen Kunstkritik bejubelten Ausstellung in New York der Durchbruch seiner Kunst und Idee vom erweiterten Kunstbegriff. Die „Times“ titelte mit seinem Konterfei, was als „internationale Inthronisation“ gilt. Für Dorsten war die Chance verpasst. Beuys ließ sich nicht mehr bewegen, nach Dorsten zu kommen. So blieb es bei einem Interview mit Beuys in den Dorstener „Ruhr-Nachrichten“ Ende Februar 1983.

Fünf Jahre später: Als „Rosine“ bezeichnete der Dorstener Kunstverein einen Vortrag mit dem niederländischen Beuys-Kenner und Beuys-Freund Hans van der Grinten (heute Beuys-Museum Schloss Moyland), zu dem er einlud. Beuys war bereits 1986 gestorben. Die Dorstener Kunstinteressierten füllten das Forum des Bildungszentrums und diskutierten mit dem Referenten über Beuys und seinen Kunstbegriff. Zeit seines Lebens war der Beuys’sche Kunstbegriff mit Filz, Hut und Hase sowohl verachtet als auch von einer immer größer werdenden Kunstkennerschaft angenommen und erfreute sich seit dem Tod des Künstlers einer breiten Wertschätzung.

Kater Janosch auf Reisen

Ein Stubentiger namens „Janosch“ brachte im Sommer 2008 eine abenteuerliche Reise hinter sich: Der einjährige Kater wurde versehentlich in einem Paket 700 Kilometer vom bayerischen Rottach-Egern nach Dorsten verschickt. Das Tier war unbemerkt in das Paket geklettert, mit dem ein Kindersitz verschickt wurde. Der schwarze Kater hatte sich in die Wohnung der Nachbarin seines Frauchen geschlichen und es sich in dem Karton offenbar so bequem gemacht, dass er nicht bemerkte, wie er zugeklebt wurde. Dann ging das Paket auf Reise. Erst bei der Postfiliale in Dorsten hat ein Mitarbeiter bemerkt, dass sich das Paket bewegte und das Tier befreit. Janosch überstand die lange Reise übrigens unversehrt. Bis der Kater Ende Juni von seiner 44-jährigen Besitzerin abgeholt werden konnte, verbrachte er mehrere Wochen im Dorstener Tierheim, wie die Bild-Zeitung weiter berichtete. Zudem schrieben u. a. der Spiegel, der Focus, die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Allgemeine, die Deutsche Presse-Agentur (dpa) darüber und mehrere TV-Sender berichteten aktuell über den verschickten Kater.

Großes Rennen in Dorsten

In Dorsten veranstalteten 1968 die Pfadfinder in Zusammenarbeit mit Opel-Lüning das erste und einzige Seifenkistenrennen, das in der Stadt große Aufmerksamkeit erregte. Seifenkisten waren aus Holz, Sperrholz oder ähnlichen Materialien selbstgebaute Kleinfahrzeuge. Gelenkt wurde durch Lenkseile. Die Kisten verfügten über keine eigene Antriebsvorrichtung, sondern wurden auf abschüssigen Strecken durch die Hangabtriebskraft bewegt.

Der Name Seifenkiste stammt aus den USA. 1933 bastelten in Ohio Kinder ihre Automobile mit hölzernem Verpackungsmaterial für Seifen und Käse. Daraufhin schrieb die Daily News von „Soap boxes“ (Seifenkisten) und „Cheese boxes“ (Käsekisten). Der Name Seifenkiste setzte sich durch.

Die ersten großen Seifenkisten-Rennen der Nachkriegszeit fanden in Deutschland im Jahre 1949 statt. Ausgangspunkt waren die Bemühungen der in Deutschland stationierten amerikanischen Truppen um eine der Jugend dienende Freizeitgestaltung in ihrer Besatzungszone. Die damals in Amerika in hoher Blüte stehenden Soap-Box-Derbys waren Vorbild für die Wiedergeburt der deutschen Seifenkisten-Rennen.

Der Dorstener Norbert Holz, der damals den Pfadfindern angehörte, erinnert sich gerne an das Dorstener Seifenkistenrennen von 1968. Es war ein großes lokales Ereignis. Das Autohaus Lüning beschaffte für die Pfadfinder die Bausätze für die Seifenkisten und half auch bei der Organisation des Rennens. Jede Seifenkiste war nach Vorschrift ähnlich gebaut. Lediglich beim Prominenten-Rennen als Rahmenprogramm wurde Phantasiekisten verwendet, wie in Form einer Kinderwiege, eines Kanus oder eines Tieres. Die Clemens-August-Straße wurde gesperrt. Da das Gefälle der Straße nicht stark genug war, wurde eine Anschubrampe gebaut. Der damals 13-jährige Schüler Thomas Funke war unter allen Teilnehmern der schnellste und ging als Sieger hervor. Dafür bekam er 20 Mark Prämie. In weiteren Rennen wurde er abgeschlagen, so dass sein Traum von der Weltmeisterschaft in Ohio (USA) platzte.  

Bevor das Rennen auf der Clemens-August-Rampe begann, fand ein so genanntes Prominentenrennen statt. Bürgermeister Hans Lampen, Stadtdirektor Heinrich Quinders und dessen Frau sowie Ratsherren und andere Prominente der Stadt setzten sich in die Kisten und fuhren vorab zum Spaß der Zuschauer ihr eigenes Rennen. Dabei gab es ein Unglück. Ellinor Quinders, die eine Seifenkiste in Form eines Faltbootes fuhr, flog der Hut vom Kopf. Als sie dabei das Steuer losließ, um ihre Kopfbedeckung wieder zu erhaschen, verlor sie die Kontrolle über das Gefährt, das links in die Zuschauer hinein fuhr. Ein Kind wurde dabei leicht verletzt und musste ins Krankenhaus gebracht werden.

Quellen: Mitteilung von Norbert Holz (Dorsten). – Gespräch mit Thomas Funke.

Der Prinz ohne blaues Blut

Frédéric Prinz von Anhalt, Herzog zu Sachsen-Engern und Westfalen, Graf von Askanien, schillernd und für die echte Familie zum ständigen Ärgernis geworden, hatte bereits 1985 Schloss Lembeck als eine seiner „Lieblingsresidenzen“ erwählt. Allerdings ohne Wissen und Zustimmung der Schlosseigentümerin Josepha Freifrau von Twickel. Ihr Kommentar: „Alles Quatsch!“ Denn der Prinz mit dem langen Namen hatte mit dem Schloss gar nichts zu schaffen, sieht man davon ab, dass er am 12. September 1985 in nachgemachter sächsisch-grüner Haus-Uniform derer von Anhalt auf der Freitreppe von Schloss Lembeck stand und sich fotografieren ließ.

Jener ordensgeschmückte Adoptiv-Prinz Frédéric, der in letzter Zeit im Fernsehen Werbung für Viagra machte und sich auch mit Hoheit ansprechen ließ, ist eigentlich der Dortmunder Bankkaufmann Robert Lichtenberg, Jahrgang 1944. Von einer echten Prinzessin ließ er sich für 2.000 DM Monatsrente adoptieren. Seine blaublütige Adoptivmutter war Prinzessin Marie, die verarmte Schwiegertochter Kaiser Wilhelm II. Der neue Sohn brauchte nicht lange Rente zahlen, denn sie starb bald nach der Adoption, noch bevor die echte Familie von Anhalt die Annahme an Sohnes statt anfechten konnte. Nun hatte der Bankkaufmann einen klangvollen Namen, mit dem er im adelsehrfürchtigen Amerika nicht nur die Altdiva Zsa Zsa Gabor zu seiner Prinzessin, sondern auch viel Geld machte. Und das nach fünf vorangegangenen Ehen mit reichen Erbinnen, die ihm, dem falschen Prinzen den Abschied aus den Ehen mit teils millionenschweren Abfindungen versüßten. Den klangvollen Namen durften sie daher behalten. Anhalt bewarb sich kurzzeitig für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien.

Dieser Namensprinz kam also mit seinem Großkanzler, einem Professor Dr. theol. Dr. rer. pol. habil. Ulrich Klenke, nach Dorsten, um mit Hilfe des Lembecker FDP-Politikers Michael Vaupel, den er zum Ordensmarschall machte, den „Regionalkonvent Westfalen“ des „Ritterordens Albrecht de Baer“ zu gründen. Dieser obskure Ritterorden wurde 1983 als Verein „Ritterschaft Herzogtum Anhalt“ ins Düsseldorfer Vereinsregister eingetragen. Durch den Ordenskanzler aus der Lembecker Schulstraße wollte der Namensprinz nach eigenen Angaben seine „Aktivitäten auf Schloss Lembeck intensivieren“. So stand es in einer von Fehlern strotzenden Verlautbarung des Prinzen, die der professorale Großkanzler mit Talar und Federbusch am Hut in der kleinen Küche des Michael Vaupel auf einer Reiseschreibmaschine getippt hatte. Währenddessen weilte sein in sachsengrüner Uniform und schwarzen Stiefeln mit glitzernden Sporen steckender Prinz mit Schärpe und Orden gerade auf der Toilette. Als dort die Spülung rauschte, öffnete sich die Toilettentür und der ordensgeschmückte Prinz betrat das biederdeutsche Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Mit schwarzer Sonnenbrille im dunklen Zimmer, versteht sich.

Das schillernde Dreigespannt hatte vor, vermögende Bürger zu Ordensrittern zu schlagen, die neben „christlich-sozialer Sittlichkeit“ auch Vermögen vorweisen konnten. Denn die angeblich von Schloss Lembeck ausgehende Ritterschaft kostete Geld. 1986 wollte „Seine Hoheit“ und sein „Ordensmarschall“ den Lembecker Michael Vaupel in „Seiner Hoheit Lieblingsschloss“ Lembeck einen großen Konvent mit über 500 Rittern einberufen. Daraus wurde natürlich nichts. Vorerst wollten die drei irgendwo im Münsterländischen einen wohlhabenden Metzger zum Ritter schlagen. Ob daraus was geworden ist, entzieht sich dem Wissen des Autors.

1986 heiratete Frédéric von Anhalt die durch sieben vorangegangenen und geschiedenen Ehen in Hollywood zur Multimillionärin gewordenen Zsa Zsa Gabor, eine bekannte US-amerikanisch-ungarische Schauspielerin so genannter B-Filme. Nach einem Verkehrsunfall wurden ihr zwei Millionen Dollar Schadensersatz zugesprochen. Danach erlitt sie einen Schlaganfall und muss beinamputiert im Rollstuhl sitzen.

Ihr Mann, der Prinz, war zwischenzeitlich weiterhin rührig. Er adoptierte und machte etliche Bürger und Bürgerinnen gegen Geld zu Prinzen und Prinzessinnen. Im Dorstener Stadtteil Wulfen gibt es ein Bordell, dessen Inhaber Magnus Prinz von Anhalt ect. ect. heißt. Auch ihm dürften die echten Prinzen von Anhalt sicherlich nicht gut gesonnen sein.

Der große kurze Traum

Er dürfte der Einzige in Dorsten gewesen sein, der nicht nur Raubtiere im Garten seines Reihenhauses an der Pliesterbecker Straße gehalten hatte, sondern auch von ihnen zerfleischt wurde. Das war im Jahre 1979.

Bei der morgendlichen Fütterung ging der 34-jährige Kaufmann Werner Müller wie gewohnt in den Zwinger seiner Tiere, die etwa ein Jahr alt waren. Dabei stürzten sich der Tiger und der Löwe nicht auf das Futter, sondern auf ihn, der „entsetzlich schrie“, wie Nachbarn berichteten. Der bereits verletzte Werner Müller versuchte, aus dem Zwinger zu entkommen. Um die Tiere abzulenken, warf Müllers Freundin die Hauskatze in hohem Bogen in den Käfig, was allerdings nichts nützte. Als Müller die Zwingertür öffnete, um zu entkommen, setzten die Raubtiere nach und rissen ihn mit ihren Pranken zu Boden.

Als die Polizei erschien, lag der Kaufmann zerfleischt am Boden des Dompteurkäfigs, denn Werner Müller wollte seinen Jugendtraum, Dompteur zu werden, verwirklichen. Daher übte er in seinem Garten. Ein Tiger versuchte, mit den Pranken den Schwerverletzten durch die Gitterstäbe zu ziehen. Eine Löwin war bereits mit einem anderen Tiger in die Gärten der Nachbarn und weiter weg entwichen. Die Polizeibeamten streckten die Tiere mit Maschinenpistolen nieder. Müller starb zwei Stunden später an den tiefen Biss- und Kratzwunden im Dorstener Krankenhaus.

Werner Müller träumte davon, mit seinem Steckenpferd zum Dompteur zu avancieren. Daher schaffte er sich erst 1978 die sibirischen Tigerkätzchen Anja und Shila, den jungen Königstiger Roy sowie die Löwin Suleika an, die er in einem gesicherten Zwinger im Garten seines Reihenhauses an der Pliesterbecker Straße in Holsterhausen unterbrachte. Da die Behörden eine Gefährdung der Menschen ausschlossen, gestatteten sie die Zwingerhaltung. Doch es hagelte Beschwerden aus der Nachbarschaft. Kleine Kinder gingen an die Käfige und streichelten die damals noch possierlichen Tiere. Es kam immer häufiger zum Streit mit den Nachbarn. Das erste Bußgeld in Höhe von 350 Mark musste Müller 1978 zahlen, als er einen Puma frei im Garten anpflockte. Da es gesetzlich keine Einwände gegen die Raubtierhaltung gab, weder im Tierschutz- noch im Gefährdungsbereich für Nachbarn, durfte Müller seine Tiere weiterhin in standsicheren Käfigen im Garten des Reihenhauses halten. Weil er aber die Anlage ohne Baugenehmigung der Behörden errichtet hatte, erhielt Müller ein Zwangsgeld in Höhe von 500 Mark und die Ordnungsverfügung, die Käfige wieder abzureißen. Er bat um Aufschub bis zum 1. November des Jahres. Bis dahin wollte er eine andere Bleibe für seine Lieblinge suchen. Dazu kam es nicht mehr. Seine Lieblinge zerfleischten ihn vorher.

Mit Fleischwurst und Brötchen

„Sieg oder Tod“ lautete die übertriebene Parole von einer Gruppe Hausbesetzern, die 1989 – bislang einmalig in der neueren Geschichte Dorstens – das Dach eines Hauses am „Alten Postweg“ besetzte, um auf „den Teufelskreis von Wohnungs- und Arbeitslosigkeit“ hinzuweisen und die nach ihrer Sicht „menschenunwürdigen Zustände“ in den städtischen Obdachlosenwohnungen an der Luisenstraße anzuprangern. Während die Polizei sich auf Grund der Drohung der vier Hausbesetzer, sich vom dreistöckigen Haus herunterzustürzen, zurückhielt und lediglich den Hauseingang blockierte, überredete Bürgermeister Heinz Ritter und Verwaltungsmitarbeiter die Besetzer mit Worten, Getränken, Brötchen und Fleischwurst, die Hausbesetzung gewaltfrei aufzugeben, was sie anderntags auch taten.

Diese Haschbrüder!

Über zwanzig Jahre lang war „De godde Stowe“ („Stube“) am oberen Ende der Lippestraße in den Jahren Mitte der 1960ern bis in die 1980er-Jahre hinein Treffpunkt der Dorstener Szene der 15- bis 35-Jährigen oder für die, die sich dafür hielten. Denn es war nicht nur für die Protestgeneration berüchtigt und chic, dort zu verkehren: zwischen Joint rauchenden Haschbrüdern und kontrollierenden Ursulinenschwestern, die auf der Suche nach ihren versprengten Schülerinnen waren, zwischen Jugendamtskontrollen und halbstarken Angebern. Dieses Gemisch – versetzt mit Rockmusik und Musikbox-Klängen – vermittelten zumindest Zeitungs- und Polizeiberichte jener Jahre und machten „de godde Stowe“ im Nachhinein zur Legende. Guido Harding beschreibt die allsamstägliche Szenerie jener Jahre vor der Stube in der „Dorstener Zeitung“:

„Heerscharen von jungen Leuten standen und saßen da vor der Kneipe am oberen Ende der Lippestraße herum, das Altbierglas und die Pommesschale aus der benachbarten Imbiss-Bude in der Hand. In den Blumenkübeln die leeren Gläser, davor die auffrisierten Mofas. Damals war den Leuten egal, wer was beruflich machte, Hauptsache, man grenzte sich von den spießigen Dorstenern ab.“