Piraten & Schätze

INHALT

Jan Weffers: Piratenleben

Bernd Saalfeld: Der Schatz aus der Lippe

Jan Weffers

Piratenleben

Das Wasser schlug hohe Wellen, angestachelt vom Wind, der über die Oberfläche pfiff, und vom Schiff, das hindurchpflügte. Über mehrere Stunden hinweg hatte sich der Wind konstant verstärkt.
Der Luftdruck wiederum sank stetig. Niemand an Bord bezweifelte, dass sich etwas Großes anbahnte. Überall rannten die Männer hin und her. Dem ersten Anschein nach planlos und hektisch, aber jeder
wusste genau, was zu tun war. Einige befestigten die Ladung, andere hangelten in der Takelage und machten sich an den Segeln zu schaffen. Nur die Sturmsegel ließen sie gehisst, damit das Schiff auf
Kurs blieb und kein Spielball für die Wellen wurde. Und natürlich die Flagge. Die schwarze Flagge mit dem Totenschädel und den gekreuzten Knochen. Die Mannschaft war Stürme gewöhnt, doch diesmal
war es etwas anderes. Einem derart starken Orkan konnten sie nicht trotzen. Schließlich gab der Kapitän den Befehl, an die Küste zurückzusegeln, den Anker zu werfen und an Land auszuharren.

Klingt das spannend? Geschichten über Piraten gibt es in allen Varianten. Spannend, lustig, sogar Tragödien werden über dieses Thema verfasst. Ich möchte Dir auch eine Geschichte über Piraten
erzählen. Spannend? Lustig? Traurig? Entscheide selbst.
Vielleicht kennst du die Lippefähre „Baldur“? Wer sich hier in Dorsten auskennt, kommt hin und wieder an ihr vorbei. Hier hat sich diese „Piratengeschichte“ zugetragen, und sie fing an, als ich an
einem verlassenen Herbsttag die Fähre betrat.

Ich schob mein Fahrrad auf die Fähre und schloss die Tür hinter mir. Noch einmal tief durchatmen, dann begann ich, an dem Rad zu drehen, mit dem man sich über die Lippe zieht. Langsam und etwas mühsam holte ich die schwere Kette ein, die sich aus dem Wasser schälte. Es war unglaublich anstrengend, das Rad der Fähre zu drehen. Man zieht damit nicht nur sich selbst, sondern auch noch einen Käfig mitsamt seinem Fahrrad über das Wasser. Auf der halben Strecke hörte ich plötzlich ein Geräusch, als sei etwas auf die Fähre gefallen. Eine Stimme ertönte.
„Alles klar machen! Lassen wir ihn Eisen schmecken!“
Sie klang voller Tatendrang. Verwundert drehte ich mich um, und was ich sah, hätte ich niemals erwartet. Keine drei Meter hinter mir schwamm ein Schiff auf dem Wasser. Aber kein normales Boot, wie du es dir vielleicht vorstellst, sondern ein Segelschiff, ein Dreimaster, aber viel kleiner als ein Boot! Es sah aus wie eines dieser Modelle, die manche Seeliebhaber auf ihrem Regal im Wohnzimmer stehen haben.
Auf den zweiten Blick sah ich etwas, was noch viel verwirrender war. Viele kleine Männchen tummelten sich an Deck. Flink wie Mäuse rannten sie hin und her, kletterten wie Äffchen in der Takelage herum und holten die Segel ein. Eines der Männlein hangelte sich ins Krähennest und hisste eine Piratenflagge. Piraten? In meine Überraschung mischte sich allmählich Unglaube. Wieder erhob jemand auf dem Schiff die Stimme.
„Zieht ihn ran, Männer. Mit aller Kraft!“
Diesmal folgten daraufhin Jubel und begeisterte Ausrufe. Meine Hände hatten das Rad der Fähre losgelassen. Ich trieb nur noch auf dem Wasser der Lippe. Die Männlein machten sich daran, Enterhaken auszuwerfen. Ein Haken hing bereits an der Fähre. Die anderen gaben beim Aufprall dasselbe Geräusch von sich, was ich vorhin schon gehört hatte. Es klang wie ein Nagel, der auf eine Metallplatte geworfen wird.
Ich würde nicht sagen, dass ich Angst hatte. Nach der ersten Überraschung tat ich das, was wahrscheinlich jeder normale Mensch in dieser Situation getan hätte: Ich kniff mir in den Arm. Stell Dir das vor. Du stehst auf einer Fähre, willst ans andere Ufer, und plötzlich wird die Fähre von Piraten geentert, die etwa die Größe eines Daumens haben. Jeder würde da an seinem Verstand zweifeln. Das Kneifen half nicht, auch nach einigen Sekunden war ich nicht aufgewacht. Das Schiff kam immer näher. Die Piraten zogen mit aller Kraft an den Enterseilen und legten dabei ein beachtliches Tempo an den Tag. Ich war zwar immer noch etwas verwirrt, gewann aber langsam wieder die Kontrolle über meinen Körper. Schnell bückte ich mich und löste die Haken aus ihren Verankerungen. Als ich mir die Enterhaken genauer ansah, musste ich auflachen. Ich hielt drei gewöhnliche Angelhaken an Angelschnüren in den Händen.                                                                                                                                                                                                        Als die Männlein mein Lachen bemerkten, erstarb der Jubel auf dem Schiff. Betont lässig warf ich die Haken in ihre Richtung, woraufhin sie empört aufschrien.
„Habt ihr das gesehen?“
„Der Hund nimmt uns nicht ernst!“
„Dafür wird er kielgeholt!“
Amüsiert beobachtete ich, wie die Männlein noch emsiger umherwuselten. Inzwischen machte ich mich wieder daran, das andere Ufer zu erreichen. Auch wenn ich liebend gern weiter zugesehen hätte, ich wollte doch erst festen Boden unter den Füßen spüren. Hinter mir hörte ich die Piraten Befehle rufen, gefolgt von Beleidigungen aller Art. Schneller als gedacht erreichte ich schließlich das Ufer und blickte hinter mich. Das Schiff war mir tatsächlich gefolgt! Es lag immer noch fünf Meter vom Ufer entfernt, doch es nahm jetzt Fahrt auf, nachdem die Männer die Segel gesetzt hatten. Einer von ihnen trat an den Bug des Schiffes. Auch aus der Entfernung konnte ich sehen, dass er ein wenig anders auftrat als die anderen. Mit einer Autorität, wie sie nur ein Kapitän haben kann. Das Männlein rief plötzlich zu mir herüber:
„Runter auf deine morschen Knochen, Landratte! Gib uns deine Schätze, und wir schonen dein
Leben. Vielleicht.“
Die anderen Männlein lachten. Das Schiff näherte sich derweil bis auf drei Meter dem Ufer. Endlich fand ich meine Stimme wieder.
„Nein, danke. Erstens hab ich nichts, und zweitens würde ich euch sowieso nichts geben. Und wenn ihr noch so droht.“
Der Kapitän lachte.
„Das lässt sich ändern.“
Er wandte sich an das Männlein neben ihm.
„Drake, Bugkanone!“
Zwei Sekunden später gab das Schiff einen Knall von sich, als sei ein Silvesterböller explodiert. Dicht neben mir flogen ein paar Steinchen in die Luft, und vor Schreck zuckte ich zusammen. Das Schiff schwamm nur noch zwei Meter vom Ufer entfernt.
„Seht euch das an, Männer. Die Ratte pisst sich vor Angst gleich in die Leinen! Ab in die Beiboote, wir
holen uns jetzt unsere Beute.“
Ich hörte die Beleidigung und wurde nun doch etwas ungehalten. Meinetwegen konnten diese Zwerge versuchen, mich zu überfallen, aber niemals würde es ihnen ernsthaft gelingen! Ich griff mir
den nächstbesten Stein, holte aus und warf. Ein Teil der Schiffsbesatzung saß schon im Beiboot, als der Stein das Schiff traf. Die Männlein schrien auf. Es klang, als hätte ein Männerchor zu viel Helium eingeatmet. Der Stein war nicht sehr groß und hatte offensichtlich nur ein kleines Loch in den Rumpf gerissen, aber die Piraten schienen ihr Interesse an mir vollkommen verloren zu haben. Sie schrien, rannten wild hin und her und verschwanden unter Deck. Einer von ihnen war durch den Aufprall über Bord geschleudert worden und im flachen Wasser gelandet. Flach war es aber nur für einen normal großen Menschen. Der Pirat tauchte keuchend an der Oberfläche auf und strampelte und jammerte, bevor er wieder unterging.
Erschrocken stellte ich fest, dass er nicht schwimmen konnte.
Nach zwei schnellen Schritten ins Wasser stand ich neben dem Schiff. Rasch aber vorsichtig hob ich den Ertrinkenden aus dem Wasser. Die Zwerge auf dem Schiff nahmen nach wie vor keine Notiz von mir. Planlos liefen manche von ihnen immer noch an Deck herum, andere machten das Beiboot klar und ließen sich gerade herunter. Ein einziger hockte im Krähennest und klammerte sich am Mastfest. Und die Typen wollten mich ausrauben?
Ich setzte den Geretteten auf einen freien Fleck des Schiffes – was offenbar auch niemand registrierte – und hob das Schiff mit beiden Händen in die Luft. Mit einem Schlag stand alles still. Die Männlein starrten mich an, manche mit einem Ausdruck von Furcht in den Augen, anderen konnte ich die Todesangst ansehen. Nur der Kapitän strafte mich mit purer Verachtung. Ich nutzte den kurzen Moment der Stille und nahm die Zwerge nun etwas genauer in Augenschein. Sie sahen wirklich aus wie winzige Piraten, wie man sie sich vorstellt. Einer anders als der andere und jeder besaß ein ganz individuelles Erscheinungsbild. Sie trugen jedoch irgendwelche Alltagsgegenstände bei sich. Dinge, die sie anscheinend zweckentfremdet hatten, wie ihre Angel-Enterhaken. Einer von ihnen hatte ein Stück Schnur zweimal um seinen Körper geschlungen. Ein anderer schien in nichts weiter als alten Stofffetzen zu stecken, die provisorisch zusammengenäht waren. Ein dritter hieltbedrohlich eine Nadel in der Hand, als sei es ein Schwert.
Am auffälligsten jedoch war der Kapitän. Nicht nur, dass er der einzige mit einem dichten Vollbart war, seine Kleidung – sie sah aus wie ein Mantel, der ihm über die Schultern hing – funkelte nur so vor Glitzer. Eine winzige Narbe, nicht mehr als ein kleiner Stich, verlief über seinem linken Auge und an seiner Hüfte baumelten zwei Nadeln hin und her. Drohend hob er die Faust.
„Bei Neptun, das war dein Todesurteil! Ich werde dich persönlich…“
Weiter kam er nicht. Genauso schnell, wie ich ins Wasser geschritten war, lief ich wieder raus und stellte das Schiff, vielleicht etwas zu unsanft, auf den Boden. Ich gab Acht, dass es nicht umkippte,
dann kniete ich mich hin.
„Ich würde sagen, ich habe gewonnen, oder?“
Der Kapitän erwiderte nichts. Verdattert glotzte er über die Reling und wusste scheinbar nicht weiter. Dann riss er sich plötzlich los und rannte an seinen Männern vorbei unter Deck. Ein wütender Schrei
erklang aus dem Schiffsbauch.
„Was hast du nur getan?! Niemand reißt ein Loch in mein Schiff und kommt mir einfach so davon!“
Sofort kam er wieder an Deck.
„Dampier, Deschnjow! Schickt den Affen zu Davy Jones! Mal sehen, wie ihm der Meeresgrund bekommt.“
Niemand auf dem Schiff rührte sich. Alle starrten mich immer noch an. Schließlich hob einer in der Mannschaft die Hand. Es war der mit der Schnur um seinen Körper.
„Aye, sagen wir unentschieden!“
Der Kapitän baute sich sofort vor ihm auf.
„Ich gebe hier die Befehle, Magellan! Merk dir das gefälligst!“
Magellan? Irgendwo hatte ich den Namen schon mal gehört.
„Und du“, rief der Kapitän mir zu, „glaub ja nicht, dass wir schon mit dir fertig sind. Wir kriegen deine Schätze, koste es, was wolle!“
Ich griff in meine Hosentasche und zog alles heraus, was darin steckte. Die zwanzig Cent, die ich fand, schnippte ich gekonnt auf das Schiff, wo alle, sogar der Kapitän, vor Schreck aufschrien und zurückwichen. Zu Recht, denn die Münze war fast halb so groß wie manche aus der Crew.
Der Kapitän fing wieder an zetern.
„Wurde dir mit einer Kanone ins Hirn geschossen? Was ist das denn?“
„Das könnt ihr gerne kriegen, mehr hab ich nicht bei mir. Lasst ihr mich dann in Ruhe?“
Die Piraten waren baff. „Natürlich nicht! Was sollen wir mit so einer Scheibe anfangen?“
Ich zögerte. „Was meint ihr? Das ist Geld. Das wollt ihr doch.“
Der Kapitän lachte. Es war kein böses Lachen, sondern komischerweise klang es wirklich erheitert.
„Du sollst uns geben, was du an Schätzen hast. So wie meine Säbel hier.“
Er hielt seine Nadeln hoch.
„Oder mein Seil.“
Der Schnurträger befreite sich von seiner Last und hielt sie mir hin.
„Oder mein Hemd.“
Der Pirat in den Stofffetzen flatterte mit einem Stück in der Luft herum. Nun war ich es, der nichts sagte. Diese Männlein, diese – Winzpiraten – wollten gar nicht mein Geld, sondern Müll? Ich ließ meinen Blick über das Schiff schweifen. Mir fiel auf, wie improvisiert es zusammengebaut zu sein schien. Dort an der Reling lagen die Angelhaken, bereit zum Auswurf. Vorne am Bug hing etwas, das aussah wie ein winziger Anker. Ich erkannte eine kleine Inschrift darauf: Seesucht.
„Ist das ein Schlüsselanhänger?“
Der Kapitän musterte mich fragend.
„Was soll das bitte sein? Das ist unser Anker, wie du siehst.“
Ich linste durch das Loch im Schiffsbauch und entdeckte eine kleine Kanone, die ich sofort unter lautem Protest der Mannschaft herauszog. Aus dem Lauf der Kanone fiel mir etwas in die Hand. Ich
traute meinen Augen nicht.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           „Das ist wirklich ein Silvesterböller!“ Ich hielt ein klitzekleines Röhrchen mit einer Zündschnur in der Hand, auf dessen Oberfläche schwach das Wort Partykracher zu lesen war. Jetzt blickten sich alle Piraten irritiert einander an. Offensichtlich hatten sie dieses Wort noch nie gehört.
„Das glaub ich nicht. Ihr seid Zwergpiraten, schwimmt über die Lippe, wolltet mich mit Angelhaken
kapern und mit Böllern beschießen.“
Ich sah zu der Stelle, wo die Kanonenkugel eingeschlagen hatte. Dort lag friedlich eine kleine bunte Glaskugel.
„Ihr schießt mit Murmeln?! Euer Schiff ist ein einziger Müllhaufen!“
Ich erntete wütende Zurufe und Beleidigungen. Auch wenn diese Zwerge in Schrott lebten, sie hatten anscheinend doch ihren Stolz. Der Kapitän ergriff wieder das Wort.
„Was weißt du denn schon? Das sind alles Schätze, die wir auf unserer Reise gefunden haben. Sie begleiten uns, kämpfen mit uns, stehen für uns ein. Sie sind ebenso ein Teil von diesem Schiff, wie
wir es sind. Zumindest, was davon noch übrig ist.“
Wütend starrte er auf das Loch im Rumpf. Ich weiß nicht, warum mir plötzlich die Sache leidtat. Die Männlein hatten mich überfallen und beschossen. Eigentlich hatte ich nur aus Notwehr gehandelt.
Und trotzdem fühlte ich mich ein wenig schuldig. Vielleicht lag es an dem Eifer, den die Zwerge ausstrahlten.
„Das mit dem Loch tut mir leid. Aber ihr könnt es mir nicht verdenken.“
Ich schob vorsichtig die Kanone wieder zurück in das Schiff.
„Kann ich vielleicht etwas tun, um das wieder gut zumachen? Ich könnte helfen, das Loch zu reparieren.“
Der Kapitän und die anderen fingen an zu lachen. „Du, mit deinen Pranken, so groß wie das Monster, gegen das ich einst kämpfte? Nichts da, du machst am Ende noch mehr kaputt. Das erledigt unser
Zimmermann. “Erikson, schnapp dir ein paar Männer!“
Erikson. Noch ein Name, den ich irgendwoher kenne.
Einer aus der Crew zeigte auf drei weitere und verschwand mit ihnen unter Deck. Gebannt beobachtete ich, wie die restlichen Männlein wieder durch die Gegend wuselten. Nicht mehr völlig kopflos wie vorhin, sondern eher wie Ameisen, die genau wissen, was sie zu tun haben. Der Kapitän kam an die Reling und pfiff mich zu sich. Ich hockte ich auf den Boden und beugte mich so nah wie möglich zu ihm hin.
„Auch wenn wir gerade einen Waffenstillstand haben, weht bei uns nicht die weiße Flagge, kapiert? Wir sind momentan nur außer Gefecht und sorgen uns um unser Schiff. Denk dran, wir könnten dich
auch hier an Land mühelos ausnehmen.“
Ich musste lachen. „Sicher, wenn du meinst.“ Ich setzte mich wieder aufrecht hin. „Tut mir leid, ich bin immer noch ziemlich baff, was das alles angeht. Aber wenn Waffenstillstand herrscht, könntet ihr
doch auch an Land kommen? Ihr müsst nicht zwingend auf dem Schiff bleiben, oder?“
Der Kapitän funkelte mich böse an. „Was fällt dir ein? Auf diesem Schiff habe ich unzählige Abenteuer bestritten, Beute gemacht und dem Tod ins Auge geblickt. Und das bei weit harmloseren Situationen als dieser hier. Als ob ich ausgerechnet jetzt das Deck verlasse!“
Nachdem Erikson und seine Männer das Loch inspiziert hatten, erstatteten sie direkt Bericht. Offenbar war der Rumpf derart stark beschädigt worden, dass sie ihn nicht mit ihrem Vorrat an Holz selbst reparieren konnten. Daher machte sich die Crew auf, um im nahen Umfeld geeignetes Material zu suchen. Selbst der Kapitän beteiligte sich.
„Ein Kapitän sorgt für sein Schiff wie kein anderer“, sagte er.
Also fingen sie an, kleine Äste und Rindenstücke zu sammeln, aus denen Erikson die besten auswählte. Auch ich half mit. Der Kapitän weigerte sich zwar vehement, meine Hilfe anzuerkennen, aber Erikson war dankbar für jede Hand, die ihm beistand. Während er und seine Männer schließlich das Loch reparierten, saßen die übrigen im Schatten und besprachen die Lage. Irgendwann gingen sie dazu über, Geschichten und Seemannsgarn zu erzählen. Schuld daran war offenbar der Rum, den sie ausgepackt hatten. Sie tranken ihn aus kleinen Fingerhüten, die fast so groß waren wie ihre Köpfe. Und dementsprechend blau waren sie schließlich. Bald schon gab ein jeder von ihnen an, wie viele Monster und andere Seemänner er schon getötet hatte. Der Kapitän jedoch übertrieb es am meisten. „Zweiundsiebzig Mann nahmen es gleichzeitig mit mir auf, ich sag’s euch! Und ich trug nur fünfzehn Kugeln mit mir herum. Und dennoch stehe ich hier vor euch, aye!“
„Du sitzt“, rief Magellan.
Die anderen lachten. Anscheinend verloren die Männlein durch den Rum jeglichen Respekt voreinander. Mittlerweile wusste ich, wie viele es von ihnen gab. Nachdem sie alle ruhig dasaßen, zählte ich vierzehn Mann, plus Erikson und seine Helfer. Die meiste Zeit schaute ich dem Treiben nur zu, aber irgendwann hielt ich nicht mehr aus.
„Wo kommt ihr eigentlich her?“
Alle Augen richteten sich auf mich. Der Kapitän hob seinen Fingerhut.
„Wo wir herkommen, will er wissen! Bei Poseidon, was sagt man dazu. Die Landratte interessiert sich für uns!“ Er erntete Beifall von den anderen, dann stand er auf und ging auf mich zu.
„Hör zu, Bursche. Wir kommen von überall, wo es Wasser gibt. Und genauso waren wir schon überall. Nenne mir einen Fluss und ich erzähle dir, was wir dort erlebt haben. Das Wasser ist unsere
Heimat!“
Ich sah den Kapitän an. Er legte seinen Mantel ab und schwankte leicht hin und her. Einerseits war das bestimmt dem Alkohol geschuldet, andererseits zeigte sich, dass sich unter dem Mantel ein Holzbein anstelle seines rechten Beines befand.
„Der Wind und die Strömung bringen uns überall hin. Egal ob bei Sonne, Regen, Wind oder Flaute, wir finden unseren Weg. Das ist es, wo wir herkommen. Und wohin wir gehen. Wir kommen und
gehen mit der Freiheit!“                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Aus der Truppe ertönten Rufe der Zustimmung. Das war bei Weitem keine befriedigende Antwort, aber ich beließ es dabei. Dann fiel mir etwas auf.
„Verstehe. Moment mal, hast du gerade Poseidon gesagt? Als ich das Schiff vorhin in Händen hielt, hast du noch Neptun gerufen.“
Mein Gegenüber zuckte mit den Achseln. „Und? Neptun oder Poseidon. Triton, Oceanos, Abzu, Tiamat, Tefnut, Ägir, Rán, oder Watatsumi. Es sind alles Götter der Meere. Ist es nicht besser, wenn wir alle um Beistand bitten, anstatt nur einen einzigen? Wenn schon unsere Taufpaten aus allen Ecken der Welt kommen, warum sollten wir ihre Götter dort lassen?“
„Eure Taufpaten? Wer ist das denn?“
Der Kapitän hickste laut. „Na, unsere Namensväter, Fischkopf! Wir heißen wie die berühmtesten Seefahrer, die es je gab!“
Erikson… doch nicht etwa…
„Leif Erikson?“ Ich sah zu Erikson hinüber, der von seiner Arbeit aufblickte. Das Loch war fast vollständig repariert. „Was ist, Jungspund?“
„Du heißt wirklich Leif Erikson, wie der Wikinger?“
„Jawohl. Der Isländer, der vor tausend Jahren Amerika entdeckt hat.“
Magellan…
„Und du… du bist Ferdinand Magellan!“
Magellan grinste mich an und hob den Fingerhut.
„Aye, das stimmt. Benannt nach dem großen Magellan, der die Welt umsegelte.“
„Es aber nicht schaffte. Das vergisst du komischerweise immer zu erwähnen“, rief jemand.
Magellan schaute ihn empört an.
„Na und? Magellan erforschte den Pazifik, und hat sein Leben gelassen, als sein Schiff über das Meer fuhr, um zurück nach Portugal zu finden. Hat dein Schiff die Welt umrundet, Kolumbus?“
„Kolumbus?“, rief ich. „Christoph Kolumbus?“
„Eben jener.“
Kolumbus deutete eine Verbeugung an. Der Kapitän ergriff wieder das Wort.
„Jeder von uns trägt den Namen eines Seemanns, der die Welt erforscht hat oder als Freibeuter tätig war. In meinem Fall Letzteres.“ Er breitete die Arme und verbeugte sich so tief, dass ich fürchtete, er
würde jeden Moment umfallen.
„Käpt’n Edward Thatch. Mein Pseudonym Blackbeard finde ich sehr draufgängerisch.“
Er hob seinen Fingerhut und gönnte sich noch einen Schluck. „Wir haben schon hunderte von Inseln und Häfen angesteuert, Bursche. Wir wissen, wie man andere belauscht, und kennen deshalb jede Geschichte über jeden Mann, der sein Leben der See gewidmet hat. Und so wie es diese Männer taten, wollen wir es auch tun!“
Mir fehlten die Worte. Ich konnte gar nicht anders, als alle anderen auch nach ihren Namen zu fragen. Da war Sir Francis Drake, der als Freibeuter tätig war und als erster Brite die Welt umsegelte. William Dampier, ein Naturforscher. Semjon Deschnjow, ein Russe, der bewiesen hatte, dass Amerika und Asien zwei verschiedene Kontinente sind. Und noch viele weitere stellten sich mir vor. Schließlich kannte ich jeden beim Namen. Jetzt ging die Unterhaltung erst richtig los. Die Zwergpiraten erklärten mir, dass sie immer auf dem Wasser lebten, ganz gleich ob Fluss oder Meer. Nur stellte das Meer für sie eine besonders gefährliche Herausforderung dar. Weil sie so klein waren, glich jeder Fischfang einem Kampf auf Leben und Tod. Kleine Barsche waren für sie so groß wie Wale, und jedes Wassertier sahen sie als ein Ungeheuer der Tiefe.
Thatch erzählte mir, wie er sein Bein an einen Krebs verloren hatte, der ihn als leckeren Imbiss betrachtet hatte. „Aber ich hab dem Monstrum gezeigt, wie sehr ich mich wehren kann“, betonte er
immer wieder und tätschelte seine Nadeln. „Es war einer der härtesten Kämpfe, die ich je hatte. Fast hätte es mich erwischt, aber ich hielt immer noch mein Schwert in der Hand. Ich blickte also der Bestie in die Augen und sprach Folgendes!“ Thatch sah in die Runde und nahm sich eine extra lange Pause, bevor seine Geschichte zu Ende erzählte. Alle, ich eingeschlossen, sahen ihn voller Erwartung an.
Thatch holte tief Luft.
„Nichts“, sagte er dann. „Denn er hätte mich sowieso nicht verstanden. Stattdessen stach ich in sein fauliges Maul und machte ihm den Garaus!“ Er lachte wild und herzhaft, dann leerte er seinen restlichen Becher in einem Zug. Seine Crew tat es ihm gleich.
Wir redeten und lachten noch bis die Sonne unterging. Dann bereiteten sich die Piraten auf die Weiterreise vor. „Wir müssen vor Einbruch der Nacht auf dem Wasser sein“, erklärte Kolumbus. „Im Dunkeln treiben an Land Monster ihr Unwesen, die weitaus gefährlicher sind als Fische. Ich habe schon Monster gesehen mit Krallen, so groß wie Dolche, und Augen, die zu Schlitzen geformt waren wie die eines Drachen.“
Als eine Art Wiedergutmachung setzte ich das Schiff behutsam ins Wasser. Es war schade, dass wir uns verabschieden mussten, aber auch ich musste weiter. Ich schob mein Fahrrad von der Fähre und sah dem Schiff hinterher, wie es die Segel setzte und die Lippe entlang trieb.

Ich habe nie wieder etwas von Zwergpiraten gehört, aber die Begegnung werde ich niemals vergessen. Zum Glück kam an diesem Tag niemand sonst zur Fähre. Wer weiß, was dann passiert wäre. Als ich am nächsten Tag neugierig an den Ort zurückkehrte, fand ich jedoch die Murmel, die immer noch im Boden steckte. Sie war leicht lädiert, aber noch in einem Stück. Lächelnd steckte ich sie ein.
„Das kann ich niemanden erzählen, bei Poseidon.“
Nun, ich habe die Zwergpiraten nicht mehr wieder getroffen, aber vielleicht, nur vielleicht, hast du ja größeres Glück. Schau dich ruhig mal an der Lippe um, womöglich findest du ja etwas Müll – Verzeihung, Schätze. Wenn du dann die Zwergpiraten triffst, könntest Du ihnen vielleicht etwas überlassen, was sie gebrauchen können. Wäre doch viel zu schade, es einfach dort liegen zu lassen.

Bernd Saalfeld

Der Schatz aus der Lippe

Britta warf einen verstohlenen Blick auf Josch, der eigentlich Josef hieß, aber seinen altmodischen Namen in die – wie er fand – besser klingende Variante geändert hatte.

Obwohl zu ihrer Clique auch zwei ein Jahr ältere Neuntklässler gehörten, gefiel ihr Josch viel besser, der wie sie in die Acht ging, allerdings in die Parallelklasse. Die Teens kannten sich aus der Schule, dem Sportverein und ihrer Nachbarschaft.

In diesem Sommer war ihr liebster Treffpunkt die Lippe in der Nähe der Fähre Baldur. Wenn nicht gerade Wanderer und Radfahrer übersetzen wollten, betätigten sie sich selbst als Fährleute, planschten im Wasser, das in diesen heißen Tagen sehr flach war, oder spielten auf der angrenzenden Wiese.

Britta suchte Joschs Nähe, um ihn wie zufällig im Spiel zu berühren, mit ihm zu sprechen oder ihn einfach anzusehen. Nach einer kleinen Wasserschlacht – Jungen gegen Mädchen, so kam man fast zwangsläufig einander nahe – hatten sie beschlossen, sich im Steinflitschen zu versuchen.

Sie suchten im flachen Wasser und am Ufer flache Steine, die sie über das Wasser hüpfen ließen, begleitet vom lauten Mitzählen der Beobachter. Lena war besonders geschickt und schaffte acht Hüpfer, bis Alex sie schließlich mit neun Hüpfern übertrumpfte. Die anderen hatten nicht so viel Erfolg, aber dennoch ihren Spaß.

„Na so was“, murmelte Britta, als sie etwas Schmutzigbraunes aus dem Schlamm fischte. „Was ist denn?“, fragte Josch, der in ihrer Nähe stand. Er stellte sich neben sie und hielt seine Hand hin. „Sieht aus wie ein Stück Haarspange oder Gürtelschnalle“, meinte Britta, als sie ihm das Stück in die Hand legte. Josch rieb es an seinem T-Shirt ab: „Hm, das ist tatsächlich gebogen wie eine Fibel.“ „Was soll das sein?“ Britta zog die Augenbrauen hoch. „So etwas Ähnliches habe ich vor zwei Wochen im Römermuseum in Haltern gesehen. Wir waren mit der Geschichts-AG dort.“ „Aber wozu soll das gut sein?“ Sie schaute ihn an und wurde plötzlich rot. Josch blickte auf die Fibel in seiner Hand und erklärte es. „Die Römer hatten keine Reißverschlüsse oder Knöpfe, sondern nutzten solche Schließen, um ihre Gewänder festzumachen. Hier fehlt aber die Nadel.“ „Er sieht nicht nur gut aus, sondern ist auch noch klug“, dachte Britta.

Inzwischen hatten sich Lena, Anna, Alex, Harry und Julia zu den beiden gesellt und schauten neugierig auf Joschs Hand. Er musste noch einmal erklären, was er von Brittas Fund hielt. Dann bückte er sich, berührte dabei wie zufällig ihre Beine und wühlte im Lippe-Schlamm. Britta tat es ihm gleich. Beide hatten nach einiger Zeit mehr Glück als die anderen, die ebenfalls zu suchen begannen. Die beiden hatten jeweils ein kleines Metallstück in der Hand, spülten es im Fluss ab, rieben es an ihren T-Shirts und konnten schließlich erkennen, dass sie besondere Fundstücke in den Händen hielten.

„Das sieht aus wie ein Hufnagel, nur viel kleiner“, meinte Britta. Lena rief: „Bestimmt für Zwergponys!“ Josch nahm Brittas offene Hand und nahm das rostige Metallstück in Augenschein. „Das habe ich auch im Römermuseum gesehen. Ich glaube, das ist ein Schuhnagel.“ Er ließ Brittas Hand los und öffnete seine geschlossene Faust: „Das ist der Knaller.“ Stolz präsentierte er ein fast schwarzes, annähernd rundes, am Rand etwas unregelmäßig gewelltes Metallstück, das ein paar Buchstaben und einen Kopf zu tragen schien. „Das ist eine römische Münze.“ „Was ist die wert?“, wollte Alex wissen, „wieviel bekommst du dafür?“ „Hört auf, im Schlamm zu graben, das ist eine archäologische Fundstätte, das dürfen nur Experten“, befahl Josch.

„Oh je, wir verpassen das Training!“ schrie Anna auf, „es ist schon halb vier.“ Britta flüsterte Josch zu: „Ich bin um sechs wieder hier.“ Dann radelten sie, Anna und Lena eilig los.

„Was machst du jetzt damit?“, fragte Julia. „In der City gibt es einen An- und Verkauf, da können wir anschließend in den Döner-Laden gehen“, schlug Alex vor. „Nee, kommt nicht in Frage.“ Josch googelte die Telefonnummer des Römer-Museums in seinem Handy. „Äh, hier Josch, ich habe da was gefunden, was römisch sein könnte.“ In Joschs Gesicht konnte man abwechselnd Staunen und Ärger lesen. „Ja, aber, was …“ Schließlich beendete er das Gespräch. „Die hatte von nichts Ahnung. Und am Freitagnachmittag ist kein Experte mehr da. Ich soll Montag mal anrufen.“

Alex unternahm einen letzten Versuch: „Wenn die die Dinger nicht haben wollen, kannst du sie auch verscherbeln.“ Josch schüttelte den Kopf. „Ich kann am Montag auch die Heine fragen.“ „Wer ist denn das?“, fragte Julia. „Frau Heinrich, unsere Geschichtslehrerin, die auch die AG leitet. Wir nennen sie Heine, weil sie nicht nur im Deutschunterricht bei jeder Gelegenheit ihren Lieblingsdichter zitiert.“

Josch setzte sich ins Gras und versuchte, die Fundstücke weiter zu putzen, was seinem T-Shirt sichtbar zusetzte. Alex zuckte die Achseln, winkte Josch zu und radelte mit Julia und Harry davon.

 

Britta konnte sich beim Training gar nicht konzentrieren, immer wieder ließ sie den Ball aus den Händen gleiten, passte ihn zur Gegnerin oder rannte in die falsche Richtung. Es ging ihr nicht aus dem Kopf, dass sie sich vorhin zum ersten Mal mit Josch verabredet hatte. Ob er auf sie warten würde? Was, wenn er nicht wartete?

Nach dem Training wollte Anna mit Britta und Lena in die Eisdiele, wie sie das freitags immer machten, aber Britta redete sich mit einem unvorhergesehenen Besuch bei ihrer Tante heraus und radelte schnell Richtung Lippe.

Josch saß tatsächlich nahe der Fähre am Ufer, aber natürlich auf der anderen Seite. Sie ließ ihre Fahrradklinge ertönen. Er sprang auf und kurbelte mit der Fähre zu ihr. Ihre Verlegenheit, was sie denn jetzt tun oder sagen sollte, währte nicht lange, denn Josch sprudelte los und erzählte ihr von dem Telefonat. Dann bat er sie, die Augen zu schließen. Ob er sie küssen wollte? „Jetzt mach die Augen wieder auf.“ Sie blickte in seine geöffnete Hand. Da lagen ein kleiner rostiger Nagel, eine bronzefarbige Spange und eine nun nicht mehr schwarze, sondern graue Münze. „Lies mal“, sagte Josch. Tatsächlich konnte sie den Namen Caesar Augustus entziffern und einen Männerkopf im Profil erkennen. „Das ist ein Denar, der ist bestimmt 2000 Jahre alt“, sagte Josch und zeigte auf ein Bild auf seinem Smartphone. Dann suchte er den entsprechenden Wikipedia-Artikel und las daraus vor: „Der Großneffe und Haupterbe Gaius Iulius Caesars gewann die Machtkämpfe, die auf dessen Ermordung im Jahr 44 v. Chr. folgten, und war von 31 v. Chr. bis 14 n. Chr. Alleinherrscher des Römischen Reiches.“ „Julius Caesar kenne ich, den habe ich im Frühjahr im Theater gesehen, als ich mit meinen Eltern im Schauspielhaus war. Cooles Stück von Shakespeare. Erst dachte ich, die reden zu viel, aber es war wahnsinnig spannend und ganz schön grausam.“ Britta schüttelte sich.

„Weißt du was, wir sind doch die Finder. Wir fahren jetzt zur Zeitung und zeigen denen die Sachen. Wenn die vom Museum dann morgen die Zeitung lesen, fallen die um.“ Josch schüttelte den Kopf: „Das geht nicht, dann kommen doch tausend Leute und wühlen im Schlamm.“ „Der Alex wird es doch sowieso verraten“, entgegnete Britta. „Warten wir bis Montag“, entgegnete Josch. „Und jetzt gehen wir erst einmal ein Eis essen.“

optional: Wie entscheiden sich Josch und Britta? Was machen sie mit ihren Funden? Wie gehen ihre Freunde mit dem Wissen um die archäologischen Funde um? Und wird es eine engere Freundschaft zwischen Josch und Britta geben? Denke dir mit deinen Freunden aus, wie die Geschichte weitergehen könnte.